Silvester 2015: „Pipi rustique“ nennen es die Franzosen


Silvester 2015:

„Pipi rustique“ nennen es die Franzosen

Ein kürzlich aufgetauchtes Foto aus dem Jahre 1912 dokumentiert, dass es auch vor mehr als einhundert Jahren Männer gab, die „öffentlich Wasser lassen“, wie es im Beamtendeutsch heißen kann. Recht ungeniert vollzogen es die damaligen Badbesucher am Zaun des Prinz-Hermann-Bades, heute Waldbad Weixdorf. Sie sind vermutlich nicht bestraft worden, obwohl es zu dieser Zeit sogar eine Straftat war. Das Männer-Pissoir, „eine Holzwand mit mehreren Teeranstrichen versehen und beim Familienbad nicht von der Frauenwelt einsehbar“ war die Mindestforderung. Und in der ersten Badeordnung befand sich auch der Hinweis, dass „Wasserlassen beim Schwimmen hat zu unterbleiben!“. Wer wollte so etwas kontrollieren? Vielleicht bestand ja im Weixdorfer Bad noch so viel Anstand, dass man eben an Land ging.
Das freie Pinkeln in der Öffentlichkeit ist Naturrecht der Männer – „pipi rustique“ nennen es die Franzosen-. So lautete nicht nur im 19. Jahrhundert die juristische Meinung, als man eben diesen Vorgang in das Strafrecht aufnehmen wollte.
Laut „Spiegel“ setzt sich heutzutage weltweit die Meinung durch, dass Freipinkler, zumal in urbanen Zonen „ein untrügliches Zeichen für einen Rückfall im Zivilisationsprozess“ sind. Dem Drang, dem Druck der Blase nachzugeben, hat man eigentlich von Kindesbeinen an gelernt zu beherrschen. In New York ist das öffentliche Urinieren heute sogar in die zu bekämpfenden Verwahrlosungstendenzen aufgenommen worden. Hier wurde vor zwei Jahren eine Oma mit 50 Dollar bestraft, die ihrem vierjährigen Enkel „beim Geschäft im Park“ half.
Die älteste belegbare Auseinandersetzung zu diesem selten in der Öffentlichkeit diskutierten Thema liefert Radeberg. Im März 1906 waren Mitglieder des ältesten städtischen Männergesangsvereins gegen 2.30 Uhr auf dem Heimweg nicht am König-Albert-Denkmal auf dem Marktplatz vorbei gekommen, ohne ihrem dringenden Bedürfnis nachzukommen. Ratswachtmeister Ganßauge erwischte die Herren und nahm von allen Beteiligten die Daten auf. Der Vorgang wurde in nichtöffentlicher Sitzung des Radeberger Stadtrates verhandelt. Bürgermeister Bauer wird nach der Sitzung mit dem Satz zitiert: „In Anbetracht der Verdienste, die die beteiligten Personen um unsere Stadt haben, sehen wir von einer Bestrafung diesmal ab!“ So weit geht es, wenn man über sich selbst entscheiden kann.
Und die Situation heute? Die moderne Praxis zeigt, dass ein Verfolgen eher selten ist, wenngleich das „Wasser lassen in der Öffentlichkeit“ juristisch gesehen weiterhin ein öffentliches Ärgernis bleibt und mit Bußgeld bedroht ist.

haweger

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