Sigismund von Radeckis Erzählung von Grubenponys: "Begegnung unter der Erde"
Ein erzählerischer Beitrag zum sprachlichen "Grubenhund", dem journalistischen Begriff für ein Fake, als eine gewollte und erkennbare Fachmeldung, pardon: Falschmeldung.
"Begegnung unter der Erde"
"Grubenponys" - ein frühes Beispiel für einen literarischen „Grubenhund“.
Der Begriff Grubenhund - also nicht der eisener Förderwagen - meint – im Gegensatz zur "Zeitungsente“ - eine absichtliche, versteckte Falschmeldung, eine Lügengeschichte, ein Fake; also Texte, die die Leser selber entdecken, erschließen – und belächeln können und sollen.
Zum journalistischen Begriff des Grubenhund vgl.:
Vom "Grubenhund"
Oder:
Der "Grubenhund" bei wiki:
Hier eine Geschichte, die der livländische, exil-baltische Erzähler (aus Riga stammend) nach seinen Ingenieur-Erfahrungen im Ruhrbergbau in der Nähe von Dortmund niederschrieb:
Sigismund von Radecki:
Begegnung unter der Erde
Ich war erst kurze Zeit auf Schacht III, doch wollte ich schon wieder weg. Er gefiel mir nicht, er hatte etwas Unheimliches. Wie eine Panzerfregatte von Anno sechzig schien er mit seiner Esse und seiner finsteren Halde durch die Ebene zu dampfen. Im Hintergrunde rauchte eine ganze Flotte ähnlicher Ungetüme. Daneben lag ein Gleisdreieck der Abfuhrbahn und in dessen Mitte eine von Riesenhand herausgehobene und brüsk hier hingesetzte Vorstadtstraße.
Auf Schacht III passierten Sachen, die nichts Gutes ahnen ließen.
Neulich sollte zum Beispiel eins der schweren Belgierpferde von der zweiten Sohle zutage gefördert werden. Unten im Schachtsumpf, in sechshundert Meter Tiefe, wurde zu der Zeit gearbeitet. Das Pferd steckt, dumm wie es ist, während der Fahrt seinen langen Kopf aus dem Korb. Natürlich wird er glatt abgeschnitten und fällt - fällt - in die Tiefe. So daß einem Mann im Schachtsumpf ein blutender Pferdekopf plötzlich mit furchtbarer Gewalt aufs Genick stürzt und er sofort tot zusammenbricht.
Ich selbst arbeitete auf einem Abbau in der dritten Sohle. Ich will nichts davon sagen, daß unser Kompressor fortwährend asthmatisch wurde und man ewig Scherereien mit ihm hatte, nein, auch sonst war es nicht schön. Wir hatten doch alles solid verzimmert, und trotzdem war man nicht sicher. So stand ich einmal neben dem Waggonet1] und schippte Kohle ein, als einer von den Kollegen mich heranruft, damit ich ihm von meinem Kautabak ein Stück zum Abbeißen gebe. Und wie ich zurückkomme, liegt an genau derselben Stelle, wo ich gestanden bin, ein riesiger, von oben herabgefallener Schieferblock - gerade so lang wie mein Sarg, ein sogenannter „Sargdeckel", wie es die Kumpels nennen. Er hätte mich plattgedrückt wie ein Buchzeichen, der Kerl. So etwas verstimmt. -
Schlagwetter drohten uns kaum. Die Lüftung war ausgezeichnet - und dennoch konnte ich den Gedanken daran nicht loswerden. Ich sah schon den Katastrophentitel der Zeitungen vor mir: „Schweres Grubenunglück. Bisher vierzig Leichen geborgen. Die Rettungsarbeiten dauern fort...“ Aber das war, wie gesagt, bloß eine leere Befürchtung.
So war ich also schon ziemlich „auf Angst präpariert“, als ich eines Morgens um halb fünf zu meinem Betriebspunkt wanderte. Ich hatte wieder einmal Pech gehabt und die unterste Förderkorbetage zugewiesen bekommen, so daß mir die ganze schwarze Kohlensuppe in den Nacken getröpfelt war. Jetzt stolperte ich mit meiner Lampe durch die labyrinthischen Gänge. Anfangs waren sie noch ziegelgemauert und hatten Glühbirnen an der Decke, aber bald wurde es dunkel, es kamen die mächtigen Holzbalken der Verzimmerung und mit ihnen jener merkwürdige mufflige Gesteinsgeruch, der für alle Bergwerke so charakteristisch ist. Ab und zu stolperten mir riesige Pferde entgegen, die drei bis vier Waggonets zogen. Dann ging es, vorsichtig gebückt, die schrägen Abbaustrecken immer tiefer hinab, bis endlich alles totenstill wurde. Ich war allein. Einen halben Kilometer unter der Erde.
An einer bestimmten Stelle, wo die Strecke rechtwinklig in einen Querschlag abbog, machte ich halt. Diese war der Ort, wo ich mich mit meiner Arbeitskameradschaft zu treffen pflegte. Ich bog ein paar Schritte in den abfallenden Querschlag ein und hockte mich an einen Holzpfeiler, um noch etwas zu schlafen. Es war ruhig - so ruhig, wie es nur tief unter der Erde sein kann.
Wie ich gerade beim Einschlafen bin, höre’ ich plötzlich ein merkwürdiges Geräusch von der Strecke her kommen.
Ein Lärm wie von vielen trappelnden kleinen Füßen.
Was konnte das nur sein? - Pferde waren es nicht, dazu war das Geräusch zu hüpfend und rasch, auch kamen die schweren Belgier bis in diese Tiefe nie herunter. Menschen? - Doch die hüpften und trippelten weiß Gott nicht, wenn es zur Arbeit ging. Aber etwas mußte es doch unbedingt sein, und zwar ein Etwas, das mit ziemlicher Geschwindigkeit immer näher und immer lauter durch die Dunkelheit heranstürzte! Jetzt war’s schon wie ein Brausen von vielen, vielen eiligen Schritten ... Herrgott, am Ende eine Katastrophe, und sie retteten sich auf die dritte Sohle Mir stand der Verstand still, denn es konnte hier unten nichts anderes geben als Menschen und Waggonets, und immer wieder nur Menschen!
Vielleicht stürmten die schlagenden Wetter so durch die Strecken? Lange Stichflammen, die durch die Querschläge schossen? ... Jetzt war es eine gräßliche Windsbraut - gleich war sie da - gleich mußte sie um die Ecke biegen!
In Todesangst drückte ich mich flach an die Wand. Ich konnte ja nicht weglaufen, ich war im Tunnel gefangen. - Und da kam es. Ich hielt die Hände vors Gesicht und sah dennoch, wie jetzt eine höllische Jagd durch den kargen Lampenschein den Querschlag hinunterstürmte. Mein Gott, was waren das für Tiere? Irgendeine Art großer schwarzer Wölfe, die schweigend in dichtem Rudel vorüberschossen. Und schon waren sie weg und trappelten den Querschlag hinunter. Dann war nichts mehr zu hören, und die alte Totenstille trat ein, in der ich nur mein Herz klopfen hörte. - Nach einer längeren Zeit kam gähnend und lampenklappernd ein Kumpel heran. Ich fragte ihn bestürzt, was das gewesen sein könne.
„Ach“, sagte er, „die haben wohl die Shetlandponys wieder mal zu spät nach der untersten Sohle abgelassen.“[i]
*
(1924 entstanden; zuerst gedruckt in: S.v.R.: Alles Mögliche. Stuttgart/Berlin 1939: Rowohlt Verlag. S. 90 - 93)
Von Radecki kommt später noch einmal auf dieses autobiographische Erlebnis zu sprechen, das er im Dortmunder Bergbau hatte, als er während eines Praktikums in seinem Studium als Bergingenieur in Dortmund-Dorstfeld lebte. Abgedruckt in:„Begegnungen mit Pferden“:
Wo gibt es keine Pferde? Ich arbeitete einmal in Westfalen als Kohlenkumpel einen halben Kilometer unter der Erde. Eines Nachts war ich zu früh gekommen und hockte mich dösend an einen Holzstempel in dem abfallenden Querschlag. Es war alles so ruhigdunkel, wie es nur tief unter der Erde sein kann. Auf einmal höre ich ein herankommendes Rauschen, wie von vielen trappelnden Füßchen. Was konnte das nur sein? - Pferde waren es nicht, denn die schweren Belgier kamen nie bis in diese Tiefe herunter. Und Menschen hüpften auch nicht gerade, wenn's zur Arbeit ging. Aber das kam immer näher, jetzt war's schon ein Brausen - Herrgott, am Ende schlagende Wetter? Gleich war es da; in Todesangst drückte ich mich flach an die Wand. Und da kam es. Die Hände vorm Gesicht, sah ich dennoch im kargen Lampenschein, wie jetzt eine höllische Jagd den Querschlag hinabstürmte: irgendeine Art schwarzer Wölfe, die schnaufend im Rudel vorüberschossen. Und schon waren sie fort, und in der Totenstille hörte ich mein Herz klopfen. Da kam gähnend ein Kumpel heran. „Was war das?“ fragte ich bleich. - „Ach“, sagte er, „die haben wohl die Shetlandponies zu spät nach der untersten Sohle abgelassen.“[/b]
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Texterklärungen:
1] Älterer Ausdruck für „Waggon“, oder für bergmännisch „Grubenhund“ oder kurz: „Hund“ genannt; seltener auch (fachlich korrekt) Förderwagen oder Lore.
2] Die Shetland-Ponys sind ein gekonnter, allgemein bekannter Bergarbeiter-Witz; es gab nur schwere Gäule auf den Verlade-Stationen; „vor Ort“ konnte man „Pferdchen“ gar nicht einsetzen, bei Strebhöhen bis 80 cm. - Ein Fachmann aus dem Bergbau hat mir das bestätigt: Es gab keine Versuche mit Ponies oder dergleichen.. - „Esel“ - das wär’s gewesen: immergrau, allzeit bereit zu streiken....
**
(Aus: S.v.R.: Die Reise ins Herz. Heiteres und Besinnliches. Reinbek/Hamburg: 1983. Rororo 5277. S. 135–140. - Mitgeteilt nach: S. v. R.: Bekenntnisse einer Tintenseele. Freiburg 1980. S. 263f. – Veröffentlichung der Erzählung mit Genehmigung der verstorbenen von-Radecki-Nachlassverwalterin Frau Ruth Matthaeus-Weilandt. Gladbeck; als Nachdruck für nicht honorarpflichtige, unkommerzielle Bildungszwecke.
© - Wer nach dem Ableben der Erbin und Nachlassverwalterin R. M.-W. jetzt die Nachdruckrechte verwaltet, ist mir unbekannt; ich bitte ggfls. um freundliche Nachricht.)
Anmerkungen:
Original - oder Humor?
Nein, Shetland-Ponies sind nach übereinstimmendem Urteil mehrerer Bergfachleute des Bergbaumuseums in Bochum nie im Ruhrkohlenabbau eingesetzt worden.
Also, Pferde waren es nicht, die hier ein trappelnd-entsetzliche Angstgefühl produzierten bei einem eingeschlafenen Kumpel, der als Ingenieur ein "Strebfremdling" war!
Es handelte sich um ein inneres Spannungserlebnis, eine Halluzination, wie es bei Ausschluß der Wahrnehmungskontrolle häufig ist - erst recht unter Unständen, wie von Radecki sie so suggestiv-mitreißend, aber im Endeffekt homorvoll beschreibt. Vgl.d ie Pointe des zur Entlasstung auftauchednen Kumpels.
Und der Bergmann, der sich dem abseits ruhenden Kumpel zuwendet, spricht einen beliebten Witz aus; derb, aber solidarisch, weil die Angst eines Einzelnen aufgenommen, aber durch eine kollektive Humor-Fiktion verallgemeinert wird. Der Angst des Kumpels wird die freundliche, schulterkopfende Solidarität zuge-mutet. Die volkstümliche Form der paradoxen Therapie.
Wer an einem Mangel, an einer Phobie, an einem Gemütszustand leidet, der durch Außeneinflüsse bestimmt ist – der kann zumeist mit einem überraschenden Angebot aus der Reserve gelockt werden; es entwickelt Freiheits- oder Genesungsmomente bei dem „Leidenden“.
*
Es gab - nachrichtlich gesprochen, der Vorform des Journalismus - spezielle bergmännische "Grubenponys", nicht nur Grubenhunde.
"Begegnung unter der Erde"
"Grubenponys" - ein frühes Beispiel für einen literarischen „Grubenhund“.
Der Begriff Grubenhund - also nicht der eisener Förderwagen - meint – im Gegensatz zur "Zeitungsente“ - eine absichtliche, versteckte Falschmeldung, eine Lügengeschichte, ein Fake; also Texte, die die Leser selber entdecken, erschließen – und belächeln können und sollen.
Zum journalistischen Begriff des Grubenhund vgl.:
Vom "Grubenhund"
Oder:
Der "Grubenhund" bei wiki:
Hier eine Geschichte, die der livländische, exil-baltische Erzähler (aus Riga stammend) nach seinen Ingenieur-Erfahrungen im Ruhrbergbau in der Nähe von Dortmund niederschrieb:
Sigismund von Radecki:
Begegnung unter der Erde
Ich war erst kurze Zeit auf Schacht III, doch wollte ich schon wieder weg. Er gefiel mir nicht, er hatte etwas Unheimliches. Wie eine Panzerfregatte von Anno sechzig schien er mit seiner Esse und seiner finsteren Halde durch die Ebene zu dampfen. Im Hintergrunde rauchte eine ganze Flotte ähnlicher Ungetüme. Daneben lag ein Gleisdreieck der Abfuhrbahn und in dessen Mitte eine von Riesenhand herausgehobene und brüsk hier hingesetzte Vorstadtstraße.
Auf Schacht III passierten Sachen, die nichts Gutes ahnen ließen.
Neulich sollte zum Beispiel eins der schweren Belgierpferde von der zweiten Sohle zutage gefördert werden. Unten im Schachtsumpf, in sechshundert Meter Tiefe, wurde zu der Zeit gearbeitet. Das Pferd steckt, dumm wie es ist, während der Fahrt seinen langen Kopf aus dem Korb. Natürlich wird er glatt abgeschnitten und fällt - fällt - in die Tiefe. So daß einem Mann im Schachtsumpf ein blutender Pferdekopf plötzlich mit furchtbarer Gewalt aufs Genick stürzt und er sofort tot zusammenbricht.
Ich selbst arbeitete auf einem Abbau in der dritten Sohle. Ich will nichts davon sagen, daß unser Kompressor fortwährend asthmatisch wurde und man ewig Scherereien mit ihm hatte, nein, auch sonst war es nicht schön. Wir hatten doch alles solid verzimmert, und trotzdem war man nicht sicher. So stand ich einmal neben dem Waggonet1] und schippte Kohle ein, als einer von den Kollegen mich heranruft, damit ich ihm von meinem Kautabak ein Stück zum Abbeißen gebe. Und wie ich zurückkomme, liegt an genau derselben Stelle, wo ich gestanden bin, ein riesiger, von oben herabgefallener Schieferblock - gerade so lang wie mein Sarg, ein sogenannter „Sargdeckel", wie es die Kumpels nennen. Er hätte mich plattgedrückt wie ein Buchzeichen, der Kerl. So etwas verstimmt. -
Schlagwetter drohten uns kaum. Die Lüftung war ausgezeichnet - und dennoch konnte ich den Gedanken daran nicht loswerden. Ich sah schon den Katastrophentitel der Zeitungen vor mir: „Schweres Grubenunglück. Bisher vierzig Leichen geborgen. Die Rettungsarbeiten dauern fort...“ Aber das war, wie gesagt, bloß eine leere Befürchtung.
So war ich also schon ziemlich „auf Angst präpariert“, als ich eines Morgens um halb fünf zu meinem Betriebspunkt wanderte. Ich hatte wieder einmal Pech gehabt und die unterste Förderkorbetage zugewiesen bekommen, so daß mir die ganze schwarze Kohlensuppe in den Nacken getröpfelt war. Jetzt stolperte ich mit meiner Lampe durch die labyrinthischen Gänge. Anfangs waren sie noch ziegelgemauert und hatten Glühbirnen an der Decke, aber bald wurde es dunkel, es kamen die mächtigen Holzbalken der Verzimmerung und mit ihnen jener merkwürdige mufflige Gesteinsgeruch, der für alle Bergwerke so charakteristisch ist. Ab und zu stolperten mir riesige Pferde entgegen, die drei bis vier Waggonets zogen. Dann ging es, vorsichtig gebückt, die schrägen Abbaustrecken immer tiefer hinab, bis endlich alles totenstill wurde. Ich war allein. Einen halben Kilometer unter der Erde.
An einer bestimmten Stelle, wo die Strecke rechtwinklig in einen Querschlag abbog, machte ich halt. Diese war der Ort, wo ich mich mit meiner Arbeitskameradschaft zu treffen pflegte. Ich bog ein paar Schritte in den abfallenden Querschlag ein und hockte mich an einen Holzpfeiler, um noch etwas zu schlafen. Es war ruhig - so ruhig, wie es nur tief unter der Erde sein kann.
Wie ich gerade beim Einschlafen bin, höre’ ich plötzlich ein merkwürdiges Geräusch von der Strecke her kommen.
Ein Lärm wie von vielen trappelnden kleinen Füßen.
Was konnte das nur sein? - Pferde waren es nicht, dazu war das Geräusch zu hüpfend und rasch, auch kamen die schweren Belgier bis in diese Tiefe nie herunter. Menschen? - Doch die hüpften und trippelten weiß Gott nicht, wenn es zur Arbeit ging. Aber etwas mußte es doch unbedingt sein, und zwar ein Etwas, das mit ziemlicher Geschwindigkeit immer näher und immer lauter durch die Dunkelheit heranstürzte! Jetzt war’s schon wie ein Brausen von vielen, vielen eiligen Schritten ... Herrgott, am Ende eine Katastrophe, und sie retteten sich auf die dritte Sohle Mir stand der Verstand still, denn es konnte hier unten nichts anderes geben als Menschen und Waggonets, und immer wieder nur Menschen!
Vielleicht stürmten die schlagenden Wetter so durch die Strecken? Lange Stichflammen, die durch die Querschläge schossen? ... Jetzt war es eine gräßliche Windsbraut - gleich war sie da - gleich mußte sie um die Ecke biegen!
In Todesangst drückte ich mich flach an die Wand. Ich konnte ja nicht weglaufen, ich war im Tunnel gefangen. - Und da kam es. Ich hielt die Hände vors Gesicht und sah dennoch, wie jetzt eine höllische Jagd durch den kargen Lampenschein den Querschlag hinunterstürmte. Mein Gott, was waren das für Tiere? Irgendeine Art großer schwarzer Wölfe, die schweigend in dichtem Rudel vorüberschossen. Und schon waren sie weg und trappelten den Querschlag hinunter. Dann war nichts mehr zu hören, und die alte Totenstille trat ein, in der ich nur mein Herz klopfen hörte. - Nach einer längeren Zeit kam gähnend und lampenklappernd ein Kumpel heran. Ich fragte ihn bestürzt, was das gewesen sein könne.
„Ach“, sagte er, „die haben wohl die Shetlandponys wieder mal zu spät nach der untersten Sohle abgelassen.“[i]
*
(1924 entstanden; zuerst gedruckt in: S.v.R.: Alles Mögliche. Stuttgart/Berlin 1939: Rowohlt Verlag. S. 90 - 93)
Von Radecki kommt später noch einmal auf dieses autobiographische Erlebnis zu sprechen, das er im Dortmunder Bergbau hatte, als er während eines Praktikums in seinem Studium als Bergingenieur in Dortmund-Dorstfeld lebte. Abgedruckt in:„Begegnungen mit Pferden“:
Wo gibt es keine Pferde? Ich arbeitete einmal in Westfalen als Kohlenkumpel einen halben Kilometer unter der Erde. Eines Nachts war ich zu früh gekommen und hockte mich dösend an einen Holzstempel in dem abfallenden Querschlag. Es war alles so ruhigdunkel, wie es nur tief unter der Erde sein kann. Auf einmal höre ich ein herankommendes Rauschen, wie von vielen trappelnden Füßchen. Was konnte das nur sein? - Pferde waren es nicht, denn die schweren Belgier kamen nie bis in diese Tiefe herunter. Und Menschen hüpften auch nicht gerade, wenn's zur Arbeit ging. Aber das kam immer näher, jetzt war's schon ein Brausen - Herrgott, am Ende schlagende Wetter? Gleich war es da; in Todesangst drückte ich mich flach an die Wand. Und da kam es. Die Hände vorm Gesicht, sah ich dennoch im kargen Lampenschein, wie jetzt eine höllische Jagd den Querschlag hinabstürmte: irgendeine Art schwarzer Wölfe, die schnaufend im Rudel vorüberschossen. Und schon waren sie fort, und in der Totenstille hörte ich mein Herz klopfen. Da kam gähnend ein Kumpel heran. „Was war das?“ fragte ich bleich. - „Ach“, sagte er, „die haben wohl die Shetlandponies zu spät nach der untersten Sohle abgelassen.“[/b]
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Texterklärungen:
1] Älterer Ausdruck für „Waggon“, oder für bergmännisch „Grubenhund“ oder kurz: „Hund“ genannt; seltener auch (fachlich korrekt) Förderwagen oder Lore.
2] Die Shetland-Ponys sind ein gekonnter, allgemein bekannter Bergarbeiter-Witz; es gab nur schwere Gäule auf den Verlade-Stationen; „vor Ort“ konnte man „Pferdchen“ gar nicht einsetzen, bei Strebhöhen bis 80 cm. - Ein Fachmann aus dem Bergbau hat mir das bestätigt: Es gab keine Versuche mit Ponies oder dergleichen.. - „Esel“ - das wär’s gewesen: immergrau, allzeit bereit zu streiken....
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(Aus: S.v.R.: Die Reise ins Herz. Heiteres und Besinnliches. Reinbek/Hamburg: 1983. Rororo 5277. S. 135–140. - Mitgeteilt nach: S. v. R.: Bekenntnisse einer Tintenseele. Freiburg 1980. S. 263f. – Veröffentlichung der Erzählung mit Genehmigung der verstorbenen von-Radecki-Nachlassverwalterin Frau Ruth Matthaeus-Weilandt. Gladbeck; als Nachdruck für nicht honorarpflichtige, unkommerzielle Bildungszwecke.
© - Wer nach dem Ableben der Erbin und Nachlassverwalterin R. M.-W. jetzt die Nachdruckrechte verwaltet, ist mir unbekannt; ich bitte ggfls. um freundliche Nachricht.)
Anmerkungen:
Original - oder Humor?
Nein, Shetland-Ponies sind nach übereinstimmendem Urteil mehrerer Bergfachleute des Bergbaumuseums in Bochum nie im Ruhrkohlenabbau eingesetzt worden.
Also, Pferde waren es nicht, die hier ein trappelnd-entsetzliche Angstgefühl produzierten bei einem eingeschlafenen Kumpel, der als Ingenieur ein "Strebfremdling" war!
Es handelte sich um ein inneres Spannungserlebnis, eine Halluzination, wie es bei Ausschluß der Wahrnehmungskontrolle häufig ist - erst recht unter Unständen, wie von Radecki sie so suggestiv-mitreißend, aber im Endeffekt homorvoll beschreibt. Vgl.d ie Pointe des zur Entlasstung auftauchednen Kumpels.
Und der Bergmann, der sich dem abseits ruhenden Kumpel zuwendet, spricht einen beliebten Witz aus; derb, aber solidarisch, weil die Angst eines Einzelnen aufgenommen, aber durch eine kollektive Humor-Fiktion verallgemeinert wird. Der Angst des Kumpels wird die freundliche, schulterkopfende Solidarität zuge-mutet. Die volkstümliche Form der paradoxen Therapie.
Wer an einem Mangel, an einer Phobie, an einem Gemütszustand leidet, der durch Außeneinflüsse bestimmt ist – der kann zumeist mit einem überraschenden Angebot aus der Reserve gelockt werden; es entwickelt Freiheits- oder Genesungsmomente bei dem „Leidenden“.
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Es gab - nachrichtlich gesprochen, der Vorform des Journalismus - spezielle bergmännische "Grubenponys", nicht nur Grubenhunde.
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