Putschisten im Labor

Autor: ehemaliges Mitglied

Leben 3.0 war eine Tagung betitelt, die letztes Wochenende in der Berliner Charité stattfand. Es ging, um was es immer geht, wenn Genetiker sich treffen, nämlich um die genetische Aufhübschung des Menschen (denn nach Meinung von Fortschrittlern ist der aus der natürlichen Evolution hervorgegangene Mensch sanierungsbedürftig). Wer nicht glaubt, woran furchtbare Forscher forschen, der schaue hier nach: RGS14 is a natural suppressor of both synaptic plasticity in CA2 neurons and hippocampal-based learning and memory (by Sarah Emerson Lee et al.), PNAS, September 13, 2010

Grund genug, aus einem älteren aber immer noch aktuellen Enzensberger-Essay zu zitieren.

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Wolfgang

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Die neuen utopischen Verheißungen kamen aus den Forschungsinstituten und den Laboratorien der Naturwissenschaften, und es dauerte nicht lange, bis ein phantastischer Optimismus die Szene beherrschte. Fast über Nacht kehrten alle Motive des utopischen Denkens wieder: der Sieg über sämtliche Mängel und Nöte der Spezies, über die Dummheit, den Schmerz und den Tod.

Auf einmal sagten viele, es sei nur eine Frage der Zeit, bis die genetische Verbesserung des Menschen zum Ziel führte, bis die altertümliche Form der Zeugung, der Geburt und des Todes abgeschafft wäre, bis Roboter den biblischen Fluch der Arbeit aus der Welt schafften, bis die Evolution der Künstlichen Intelligenz (KI) dem leidigen Mangelwesen ein Ende machte. Uralte Allmachtsphantasien fanden so eine neue Zuflucht im System der Wissenschaften.

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Dass es bei einer so tief greifenden Veränderung des Wissenschaftssystems nicht ohne ideologische Ansprüche abgehen kann, leuchtet ein. Waren einst für die Ausrottung aller Leiden Schamanen und Wunderheiler zuständig, so sind es heute Molekularbiologen und Genetiker; und von der Unsterblichkeit sprechen nicht mehr die Priester, sondern die Forscher.

Die neuen Utopien werden mit beispiellosen Kampagnen in der Öffentlichkeit vorgetragen. Nicht von ungefähr sind es oft amerikanische Wissenschaftler, die dabei das große Wort führen. Der endemische Optimismus, das missionarische Bewusstsein und die hegemoniale Stellung der Supermacht USA liefern dafür den ideologischen Hintergrund. Der gute alte Fortschrittsglaube, von dem noch vor kurzem niemand viel wissen wollte, erlebt so eine triumphale Wiederauferstehung.

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aus... Putschisten im Labor (von Hans Magnus Enzensberger), DER SPIEGEL 23/2001


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