Natur vs. Menschenworte

Autor: ehemaliges Mitglied


Mir träumte, ich beträte ein gewaltiges unterirdisches Gebäude mit hohen Gewölben. Er war ganz von einem gewissen ebenfalls unterirdischen, gleichmäßigen Lichte erfüllt. Ganz in der Mitte des Doms saß eine Frau von recht hohem Wuchs; sie trug haarige Kleidung von grüner Farbe. Das Haupt in die Hände gestützt, schien sie tief in Gedanken versunken zu sein.

Nun begriff ich, daß diese Frau die Natur selbst war, und eine ehrfürchtige Angst durchdrang sogleich mit kaltem Schauer meine Seele.

Ich näherte mich der sitzenden Frau und verneigte mich ehrerbietig. ''Ach, unsre gemeinsame Mutter!'', rief ich aus. ''Worüber denkst du nach? Sinnst du etwa über das künftige Geschick der Menschheit? Darüber, ob es ihr vergönnt sein wird, Vollkommenheit und Glück zu erreichen?''

Die Frau richtete ihre dunklen, furchteinflössenden Augen langsam auf mich. Ihre Lippen bebten, und es ertönte eine kräftige Stimme, die dem Klirren des Eisens glich:

''Ich denke darüber nach, wie ich den Beinmuskeln des Flohs größere Kraft verleihen kann, damit er sich leichter vor seinen Feinden retten kann. Das Gleichgewicht zwischen Angriff und Verteidigung ist gestört. Man muß es wiederherstellen.''

''Was?'' platzte es aus mir heraus. ''Darüber denkst du nach? Sind wir Menschen etwa nicht deine Lieblingskinder?''

Die Frau runzelte fast unmerklich ihre Augenbrauen.

''Alle Kräuter sind meine Kinder“, murmelte sie, ''ich denke gleichermaßen an sie alle und kümmere mich um sie, und rotte sie alle gleichermaßen aus.''

''Aber das Gute, die Vernunft, die Gerechtigkeit!'', entfuhr es mir.

''Das sind Menschenworte'', erscholl die eiserne Stimme, ''ich kenne weder Gutes noch Böses. Die Vernunft ist mir nicht bekannt... Und was ist schon Gerechtigkeit? Ich gab dir das Leben, ich nehme es dir und gebe es anderen, Würmern oder Menschen... das ist mir einerlei. Und du schütze dich vorderhand und störe mich nicht!''

Ich wollte abermals einen Einwand vorbringen, doch die Erde um mich herum stöhnte dumpf auf und erbebte – und ich erwachte aus meinem Traum.

Die Natur (von Ivan Sergeevič Turgenjev, 1818 - 1883)

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Wolfgang

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