Ignoranz und Irrtümer
So, wie U. kann ich die Spielsachen aus meiner Kindheit nicht wiederfinden, sie auch nicht präsentieren! Zweimal bekam ich zu Weihnachten eine Puppe mit langem Echthaar geschenkt. Mein Vater hatte der Käthe-Kruse-Puppe eine blonde Echthaar-Perücke gearbeitet, Oma hatte ihr ein rosafarbenes Prinzessinnenkleid geschneidert – aber ich fand sie überhaupt nicht ansprechend, geschweige denn gar schön! Sie sah ziemlich traurig drein, so dass eine meiner ersten Handlungen dem Waschen ihres traurigen Gesichtchens galt. Doch oh je, ich übersah einen Wassertropfen und der zog unauslöschlich ein. Nun blickte sie nicht nur traurig, sie hatte auch eine dicke, unübersehbare Träne auf der Wange. Ab sofort verschwand sie in der hintersten Ecke meines Kleiderschrankes, aus der ich sie erst befreite, als ich meine Siebensachen mit in meine Ehe nahm. Auch dort fand sie keine schönere Bleibe, bis mein Sohn sie, inzwischen fünf Jahre alt,,, entdeckte. Er nahm sie mit in sein Zimmer.
Ein Jahr später bekam ich eine braune Hula-Puppe. Wunderschön!! Auch ihr hatte mein Vater eine, dieses Mal schwarzhaarige, Langhaarperücke geknüpft. Diese Puppe hatte außerdem eine richtige weibliche Figur mit Busen und Taille und sie trug nur einen Hularock um die Hüften. Ich liebte sie vom ersten Augenblick an. Doch mit ihr zu spielen wagte ich nur selten. Meist saß sie als Deko am Kopfende meines Bettes, bis ich sie abends auf die Frisierkommode setzte, wenn ich mein Bett nutzte.
Als ich heiratete, nahm ich beide Puppen natürlich mit. Es hätte ja sein können, dass ich – entgegen der Aussage eines Gynäkologen – doch einmal ein Kind, vielleicht sogar ein Tochter, bekäme. Zu 99 % wäre das aber nicht der Fall! Anderthalb Jahr später hielt ich meinen Sohn in den Armen. Noch glaubte ich an die Vorhersage des Arztes. Zur gleichen Zeit entband eine liebe Bekannte eine Tochter. Ihr hatte ich versprochen, wenn ihr Kind nach zwei Söhnen nun eine Tochter sei, bekäme diese meine Hula-Puppe. Und so geschah es dann auch. Viereinhalb Jahre später bereute ich es zutiefst, denn nun hielt ich meine eigene Tochter in den Armen!
Doch mit der Zeit tröstete ihr Spielverhalten mich ein wenig: Was für eine Puppe sie auch geschenkt bekam, sie spielte kaum damit. Ihr waren Legosteine, Spielzeugautos, die Autobahn oder eine eigene Modell-Eisenbahn sehr viel wichtiger! Auch das Werkzeug ihres Vaters war ihr wichtig. Als sie sich für eine Lehrstelle entscheiden sollte, wählte sie Elektrikerin! War 1988 noch nicht unbedingt ein Beruf, den Frauen wählten. In der Lehre entschied sie sich, diesen Beruf auch noch auszuweiten. Sie schloss ihre Ausbildung als Kommunikationselektronikerin mit Ausbildungsbefähigung ab.
Irgendwie kam mir seither oft in den Sinn, es wäre auch für mich der Beruf eines Feinmechanikers sehr interessant gewesen. Da ich aber den Friseurberuf meinem Vater abgeschlagen hatte, lieber „Fahrradfitti“ lernen wollte, wurde mir beides 1961 verboten. Der Weg zur Technik kam also nicht nur vom Papa meiner Tochter, er lag auch mir im Blut …
Schon während ihrer Schul- und ihrer Lehrzeit zeichnete meine Tochter alles, was ihr interessant erschien. Ganz wie der mütterliche Ur-Opa, die so früh verstorbene Oma (meine Mutter) und wie sie es bei mir als Neunjährige gesehen hatte. Ich hatte noch zu hören bekommen, das Malen sei eine brotlose Kunst! Während ihrer Ausbildung aber gab sie schon Airbrush-Kurse, machte nach der Lehre nachts, während sie tagsüber in einer Designer-Firma arbeitete, ein Fernstudium zur Designerin und als sie ihren Einser-Abschluss in der Tasche hatte, eröffnete sie ihre eigene Firma. Als zweifach Behinderte war es für sie sowieso schwer, eine Anstellung zu finden. Der erste Arbeitgeber nutzte ihre Talente für sich aus und steckte das Geld für ihre Entwürfe selber ein.
Lange hat sie sich das nicht angeschaut. Ihre Firma führt sie seit 20 Jahren erfolgreich bis heute! Die notwendigen Druck-Maschinen konnte sie sich recht bald kaufen. Heute hat sie in anderthalb Jahren nebenher ihre Diploma als Dyslexie- und Dyskalkulie-Trainerin mit Auszeichnung gemacht und sorgt dafür, dass ihr stark betroffener Sohn auch sein drittes Schuljahr mit Erfolg durchlaufen hat, immer noch Spaß an der Schule und seinem Lieblingsfach Mathe hat. Ziel ist es nun, die hiesige Schule aus ihrem Alltagstrott, der sogar gegen das Gesetz verstößt (legasthene Kinder in der Grundschule nicht mitzunehmen, sie einfach immer wieder mal ein Schuljahr wiederholen zu lassen, bis „es bei ihnen klick macht“, aber es macht nur selten klick, weil die Aufarbeitung der angeborenen anderen Wahrnehmung oft nicht gemacht wird!!), ebenso die Politik wachzurütteln!
Ziel ist es ihr heute vor allem, diese Ignoranz zum Schaden legasthen begabter Kinder aufzulösen und ihnen einen erfolgreichen Lebensweg zu ebnen!
Kommentare (5)
F@floravonbistram
Hallo Flo!
Fast hätte ich diesen Blog schon wieder gelöscht. Ich hatte das Gefühl, zu offen gewesen zu sein. Aber Du hast mit Deinem Kommentar den Kern getroffen: es ist so wichtig, die Begabungen der Kinder zu erkennen und ihnen die Freiheit zu geben, sie auch zu nutzen!!
In meiner Generation war es zu Beginn unseres Erwachsenalters ja noch nicht einmal Frauen erlaubt, mitzuverdienen, falls sie es wollten. Das durften Frauen erst ab Mitte der 1970er Jahre, ohne ihren Ehemann zu fragen.
Und es ist zwar verständlich, wenn eine Familie einen gut florierenden Betrieb hat, aber ein Kind darein zu zwingen - fies und gemein!
Danke für Dein Lesen und Deinen Kommentar freut sich
Uschi
@nnamttor44 Ich bin ja nur 4 Jahre jünger als du und erinnere mich gut, dass mein Vater lange nicht erlaubte, dass meine Mutter arbeitete. Ich selbst hätte es mir nie verbieten lassen. Schließlich lernte ich meinen Beruf nicht, um dann zu Hause zu sitzen.
Einer meiner Neffen wurde von meinem Bruder in den kaufmännischen Beruf gedrückt, doch das wurde nichts. Der Junge jobbte dann erst mal eine ganze Zeit, begann eine Schreinerlehre, ist mittlerweile Schreinermeister. Das ist seine Begabung und da fühlt er sich wohl.
So spielt heute das Leben, das war früher leider sehr anders.
@floravonbistram
Ja so war und ist das, liebe Flo! Wir waren vier Geschwister, drei leibliche Schwestern, ein Adoptivbruder. Áuch der musste Friseur lernen wie meine Schwestern. Nur ich hab mich da rausgezogen, wurde von meinem Vater zur Strafe in keinster Weise bei der Wahl meiner Lehrfirma unterstützt.
Unsere Jüngste wäre gern aufs Gymnasium gegangen, durfte aber nicht: Mädchen heiraten sowieso!
Als sie Mutter von vier Kindern war, ließ sie sich in der Kunstakademie testen, bekam ein Stipendium und konnte nun ohne Unterstützung vom Vater oder Ehemann Kunst studieren. Ihre Ehe war inzwischen eine Katastrophe, sie lebte bald darauf in Scheidung. Sie schilderte mir ihre Not und ich riet ihr, nach abgeschlossenem Studium sich eine passende Firma zu suchen. Das gelang ihr auch. Weiter als "alte" Friseuse wollte sie absolut nicht arbeiten ...
Heute ist sie glücklich, dass sie ihren Weg in der Form gehen durfte, den sie sich schon als junges Mädchen gewünscht hatte. Ich selber fand später als Arztsekretärin meine Zufriedenheit, auch wenn das kein handwerklicher Beruf war.
Heute bin ich glücklich, dass meine beiden Kinder IHREN Beruf fanden. Auch die zusätzlichen Ausbildungen, die meine Tochter (auch jetzt noch mit 50 Jahren) gemacht hat, haben wir gerade heute glücklich ein wenig feiern können. Ihr Büchlein LEGASTHENIE Dyskalkulie DECODIEREN steht nun denen zur Verfügung, die es interessiert. Als anderer Titel fiel ihrem neunjährigen betroffenen Sohn ein: Wie mein Kind lernt, seine Legasthenie zu kontrollieren
Dieser Satz steht mit seiner Erlaubnis unter ihrem Haupttitel. Ich bin nun gespannt, wie sich das weiter entwickelt.
💖lichen Gruß von
Uschi
@nnamttor44 Das sind schöne Schlüsse, die uns unsere Gesellschaftsordnung nun erlaubt. Traurig, dass das in vielen Familien und besonders in vielen Ländern nicht Usus ist
Herzlichst Flo
Ein schönes Bild...ich liebe diese Erinnerungen.
Ich selbst war eine Puppenmutter, wie sie im Buche steht, hütete und hegte meine Lieblinge.
Meine alten Babys, die ich von Oma und Patentante erbte, verschenkte meine Mutter, doch sie kamen durch das Internet zu mir zurück. Ich glaube, ich schrieb hier schon die Geschichte von Max und Elisabeth.
Schön auch, wie glücklich du über deine Kinder schreibst...ja, Begabungen soll man nicht stoppen durch falsche Berufe.
LG Flo