Groteske Sakralisierung

Autor: ehemaliges Mitglied

Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk und sein russischer Kollege Viktor Jerofejew schreiben über das Flugzeugunglück von Smolensk und seine politischen Folgen. Stasiuk schüttelt nur noch den Kopf (dem ich mich anschließe) über die Rezeption des Unfalls:
[...]

Ich glaube, dies war das größte Beerdigungsritual in der Geschichte Polens. Im Grunde nahmen alle daran teil. Es gab kein Entkommen. Das erinnert an Stammesriten, an denen die gesamte Gesellschaft teilnehmen musste. Wer sich weigerte, stellte sich außerhalb der Gemeinschaft. Heute sind es statt der Stammesbande die Medien, die uns zusammenhalten. Sie sind es, die den Rhythmus unseres Lebens und Verhaltens bestimmen. Im Falle der Katastrophe von Smolensk wurde eine Trauer-Werbekampagne unerhörten Ausmaßes gestartet. Niemals zuvor hatten wir es mit einer solchen Massenproduktion, einem solchen Massenvertrieb von Gefühlen zu tun. Das Volk schluchzt, verzweifelt und lamentiert, dirigiert von Zeitungen, Fernsehen und Radio.

Seit zehn Tagen gibt es praktisch keine anderen Informationen als die Informationen über die Katastrophe. Ein nicht endender Reigen von Trauergästen erinnert an die Heldentaten der Verstorbenen. Rühmt ihren Edelmut, ihre Güte und ihre Außergewöhnlichkeit. Die Moderatoren sprechen mit tiefer, von Ernst und Schmerz belegter Stimme. Die Zeitung, die noch vor kurzem die Politik des Präsidenten gnadenlos attackierte, ihn sogar persönlich verhöhnte und den Hohn anderer legitimierte, veröffentlicht auf ihrer ersten Seite pharisäerhafte Erklärungen: „Siebzig Jahre nach dem Verbrechen von Katyn ist bei Smolensk erneut die Blüte der Nation umgekommen.“
Neue Helden

Sehr interessant, dieses rituelle Bündnis von Macht und Medien, deren Geschäft normalerweise die Kritik der Regierenden ist. Es reicht ein gewaltsamer Tod, der Geruch von Blut, schon kehrt sich ihre Rolle völlig um. An die Stelle der Kritik tritt die groteske Sakralisierung. Ganz gewöhnliche, in politische Intrigen verstrickte, im Kampf um die Interessen der eigenen Gruppierung aufgehende, völlig austauschbare Staatsdiener werden auf einmal zu „Helden“, zur „Blüte der Nation“ und zur „Elite“ derselben, zu den „Besten von uns“. Man sieht deutlich, dass in Krisenzeiten die Medien der Macht zu Hilfe eilen, weil sie ohne diese nicht existieren können. Ebenso wenig wie die Machthaber ohne sie. Gemeinsam schaffen sie ein Bild, aus dem hervorgehen soll, dass ein Leben ohne sie und jenseits von ihnen überhaupt nicht möglich sei. Dass sie die einzige reale Wirklichkeit seien. Um das zu beweisen, bringen sie es fertig, wie in den vergangenen Tagen, eine absolut alternative Wirklichkeit zu schaffen.

[...]

FAZ.net
21. April 2010
Katyn, Smolensk und die Folgen
Eine Nation trauert und kennt keine Unterschiede mehr: Der polnische Autor Adrzej Stasiuk und sein russischer Kollege Viktor Jerofejew über neuen Nationalismus, historische Ängste und eine beispiellose Medienkampagne nach den Ereignissen von Smolensk.



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