Eine andere Kindheit ...

Autor: ehemaliges Mitglied


Ich bin glücklich, das Land meiner Kindheit nicht wieder aufsuchen zu können. Die Erinnerungen sind nicht gut. Es war Krieg. Das Trauma einer Ausbombung trieb meine vier Jahre ältere Schwester, mir – beginnend mit meinem Kleinkindalter – immer wieder Vorwürfe zu machen. Erst war es die Abgabe ihres Puppenwagens für mich als Kinderwagen.

Dann waren es die blauschwarzen Oedeme, die sich unsere Mutter mit einem richtigen Kriegskinderwagen an der Brust holte, weil sie auf der Flucht in den Keller vor neuen Bomben stolperte. Als sie vier Jahre später Brustkrebs hatte, war auch für die Große das „meine Schuld“, denn wenn ich nicht gewesen wäre, hätte unsere Mutter sich keine blauen Flecken an der Brust geholt! Eine folgenschwere Entscheidung, die sich in dem unwissend-kindlichen fünfjährigen Kopf der Großen festsetzte und sie ihr Leben lang nicht vergessen ließ.

Nach dem Tod unserer Mutter – ich wurde gerade sieben – gab unser Vater die Große ins gymnasiale Internat, um die ewigen Streitereien, die sie immer wieder an mir provozierte, zu unterbinden. Dennoch gab es in ihrem monatlichen Heimatbesuch spätestens nach dem Zubettgehen zänkisches Gekrähe aus dem Schlafzimmer. Die Große stachelte prompt die Jüngste jedes Mal an, mich – in der Mitte – zu treten, zu schlagen, zu kneifen, zu beißen – kurz, was der Großen so einfiel, womit sie mich für mein Dasein strafen konnte. Irgendwann lernte ich, mein Kopfkissen als Zudecke mit auf den Bettvorleger zu nehmen, um dort dann ungestört zu schlafen.

Als der Großen das Lernen nach vier Jahren im Gymnasium zu schwer fiel, wechselte unser Vater uns aus. Sie kam nach Hause und ich in die Sexta.

Doch der Stress, den sie mir stets machte, wenn wir alle vier Wochen zuhause aufeinander trafen, hatte meinen angeborenen Herzfehler nicht ruhen lassen: Das Internat war ein von Nonnen geführtes Kloster. Papst Pius XII starb und die Nonnen machten so ein Theater darum, dass ich dachte, die Welt geht unter. Es belastete mich ungeheuer. Dann erklärte mir unser Vater, seine Verlobte, die er an Stelle unserer verstorbenen Mutter zu heiraten gedachte, sei ebenfalls an Krebs erkrankt! Ein zweiter Stressfaktor, ich hätte so gern wieder eine Mutti gehabt! Und weitere vier Wochen später verstarb die Mutter Oberin des Klosters – wieder das gleiche Bohei wie beim Papst-Tod. Das war für mich zu viel ...

Dann kam das sommerliche Sportfest und ich als knapp 12-Jährige, eigentlich eine leistungsstarke Läuferin, fiel ohnmächtig auf die Aschenbahn … Der angeborene kleine Herzfehler, der auf zu viel Stress reagierte, wurde benutzt, mich ab sofort von jeder körperlichen Anstrengung fernzuhalten. Aber Fahrrad fahren durfte ich in unserer flachen Münsterlandumgebung noch! Ich durfte das Gymnasium verlassen, wurde auf der Realschule angemeldet und freundete mich mit einer Cousine im Sauerland an, denn die mir fremden Mitschülerinnen in der neuen Schule hielten vorsichtshalber erst einmal Abstand zu mir. Sie wussten, wo ich zuhause war. Erst über 50 Jahre später, als ich meine ehemaligen Mitschülerinnen zu einem Klassentreffen versammelt hatte, erfuhr ich den Grund: Der bekannteste Damensalon Münsters zu seiner Zeit gehörte meinem Vater … Wer weiß, wie eingebildet seine Tochter war – und dabei war ich ein schüchternes Mäuschen …

In diese Kindheitstage möchte ich nie wieder versetzt werden!!

 


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Kommentare (3)

chris33

Kriegskinder nennt man uns erwachsene leutz. Unsere kindheit wurde durch den  2. Weltkrieg und danach und durch  die damit verbundenen erlebnissse geprägt und nicht zu knapp.

wichtig finde ich  nnammttor44 , dass  man  nach all den "schlimmen jahren" es als erwachsener mensch  geschafft hat, das negative zu überwinden,  bewusst losgelassen und abstand gewonnen hat. 

gift für unser leben, unsere gesundheit, zufriedenheit und unsere beziehungen  nenne ich  diese erlebnisse, wenn sie nicht  irgendwann  aufgearbeitet wurden.. 😣

chris33






 

ehemaliges Mitglied

@chris33  
Ich habe vierzig Jahre geglaubt, wenn ich meiner älteren Schwester nicht begegne, sie nicht sehe oder anspreche, wäre alles okay. Welch ein Irrtum ...

Auch meinen psychopathischen Mann vor fast elf Jahren einfach zu verlassen, seine Art zu vergessen, weil ich seine ewigen Versuche, mich vor anderen klein zu machen, mich als psychisch Kranke hinstellen wollte wie seine Mutter, nicht mehr ertragen wollte, dauert offensichtlich länger und braucht wohl doch Hilfe, um nicht bei jedem Stichwort wieder in Erinnerungen zu verfallen. So ein wenig gelingt mir es inzwischen, doch Abstand zu gewinnen.

Vorrangig hilfreich ist für mich die mit ganzem Herzen zu bekämpfende Legasthenie so vieler Kinder, deren bildllche andere Wahrnehmung ihnen von Eltern und Umwelt sowie unserem völlig veralteten Schulsystem als Dummheit, Faulheit und Lernunfähigkeit unterstellt wird. Es reichen im allgemeinen zwei, drei Grundschuljahre, um diesen Kids den Frust so groß werden zu lassen, dass sie nicht mehr zur Schule gehen wollen, Schulverweigerer werden oder mit körperlichen und psychischen Folge-Erkrankungen reagieren!!

ehemaliges Mitglied

Verständlicher Wunsch bei der traurigen Geschichte.❤️


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