Ein ärgerliches Missverständnis


Walters Mutter ließ kein gutes Haar an ihrem Ex-Ehemann. Sie brachte es häufig auf den Punkt mit dem Satz

Der war zu blöd, einen Nagel in die Wand zu schlagen.

Als Oma wieder einmal einkaufen gegangen war und Walter allein zu Hause gelassen hatte, wollte er zeigen, dass er mehr konnte als sein ungeschickter Vater. Er ging an den Werkzeugschrank, holte sich einen Hammer und einen Nagel heraus und versuchte diesen Nagel im Wohnzimmer in die Wand zu schlagen. Dabei traf er öfter den Nagel seines Daumen, als den Kopf des Nagels, aber auch wenn er richtig traf, gelang es ihm nicht, den Nagel in die Wand zu treiben. Der ging erst ein Stück rein, aber dann wurde er krumm. Walter holte sich weitere Nägel und versuchte es an verschiedenen Stellen der Wand, bis er merkte, dass es manchmal klappte und manchmal nicht. Viele Jahre später erfuhr er, dass er hin und wieder eine Fuge getroffen hatte, in die die Nägel hineingegangen waren. Kam er aber auf einen Stein, wurden die Nägel krumm. Die Nägel, die steckten, ließ er stecken, denn er wollte seiner Mutter beweisen, dass er nicht so blöd war wie sein Vater, sondern durchaus Nägel in die Wand schlagen konnte.

Als seine Großmutter vom Einkaufen zurückkam, traute sie ihren Augen nicht. Eine ganze Wohnzimmerwand war da, wo keine Möbel standen, in etwa einem Meter Höhe mit Putzschäden und eingeschlagenen Nägeln verunziert. Anstatt nun aber stolz auf seine Leistung zu sein und ihn zu loben, regte sie sich furchtbar auf und schimpfte ganz schrecklich mit ihm. Ihr letzter Satz in dieser Angelegenheit war: „Warte nur bis deine Mutter von der Arbeit kommt!“

Als Mama endlich da war, fiel er ihr auf dem Korridor um den Hals und gab ihr einen Kuss, wie jeden Abend. Dann nahm er sie an die Hand und führte sie ins Wohnzimmer, bevor sie den Mantel ausgezogen hatte. Dort zeigte er stolz auf sein Werk. Aus den Au­genwinkeln sah er wie seine Oma die Hände zum Gebet faltete und die Augen schloss.

An diesem Abend bekam er die schlimmste Tracht Prügel von seiner Mutter, die er in seinem ganzen Leben erhalten hatte. Seiner Oma schien jeder Hieb, den er bekam, mindestens so weh zu tun wie ihm. Später warf sie ihm vor, ihr keine Zeit gelassen zu haben, seine Mutter schonend auf die Verunstaltung der Wohnzimmer­wand vorzubereiten.

Die Mutter zog wütend die Nägel aus der Wand und klopfte sie gerade, denn neue hätte sie nicht kaufen können. Zum Glück kannte sie jemanden, der wenigstes die Löcher im Putz verschließen konnte. Die Tapete war allerdings versaut. Da es zu dieser Zeit keine Tapeten zu kaufen gab, blieb nichts anderes übrig, als Möbel vor die schadhafte Stelle zu schieben. Allerdings wurden dabei andere Stellen freigelegt, die auch nicht mehr sehr schön aussahen. Walter hatte also ziemlichen Schaden angerichtet, wie er sich über viele Wochen anhören musste.

Später sah er sich als den lebenden Beweis dafür an, dass die da­mals üblicherweise angewandte Erziehungsmethode Schlagen nichts nützt, denn trotz der schmerzhaften Prügel, die er empfan­gen hatte, schlug er auch später noch sehr oft Nägel in Wände.

Aus dem Buch "Onkel Bürgermeister" von Wilfried Hildebrandt


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