Die Villa

Die Villa
 

„Hallo, ist da wer?“
Ich schwenkte meine Arbeitspapiere über dem Kopf und versuchte mich bemerkbar zu machen. Jetzt sah mich die Frau. Erst blickte sie ungläubig, dann erhob sie sich aus ihrer gebückten Haltung. Sie tippte sich mit der Hand auf die Stirn, ihr verlegenes Lächeln machte sie augenblicklich sympathisch.
„Sie sind wohl der Handwerker, der die Öfen umbaut. Stimmt´s? Bitte entschuldigen Sie meine Zerstreutheit. Man sollte nicht älter werden“, sagte sie.
„Aber ich bitte Sie, gnädige Frau, es hat ja geklappt. Ich habe Sie gefunden“, sagte ich. Die Frau wirkte auf mich wie jemand, der es gewohnt ist, erkannt zu werden. Ich fühlte mich nicht wohl in meiner Haut, weil ich nicht wusste, wer sie war. Sicherheitshalber wählte ich daher die Anrede „gnädige Frau“ und stellte mich vor:
„Ich komme, wie Sie vermutet haben, von der Firma Keramik-Bau und soll hier die Öfen und die Stiegenhäuser reparieren.“
„Sie sind hier richtig, junger Mann. Mein Name ist Sulzer-Kolb, ich bin die Verwalterin der Liegenschaft. Ich wohne im Nebengebäude. Das Herrenhaus steht schon lange leer. Warten Sie einen Moment, ich hole nur schnell die Schlüssel.“
 
Die Villa lag in einem Park und hatte ein kunstvoll geschmiedetes Tor mit zwei steinernen Säulen. Das Tor ist ein Kunstwerk, dachte ich, fein ziseliertes Eisen, zu Blättern getrieben, am Dach des Nebengebäudes ein verrosteter Wetterhahn, wenn er sich drehte, quietschte er im Wind. Ich kannte dieses Geräusch. Am rechten Stützpfeiler des Tores war eine Vertiefung eingelassen, darin befand sich eine von Grünspan überzogene Kupferplatte mit drei Klingelknöpfen.
Am oberen Schild stand der Name meines Ansprechpartners wie im Auftragsschreiben angegeben: Sulzer-Kolb. In der Mitte: Erzherzog–Johann–Kindergarten. Das sagte mir nichts. Am untersten Schild stand: Fink & Sohn - en gros / en detail. Meine Hand hatte gezittert, als ich die Klingel bei Sulzer-Kolb drückte, doch es gab keinen Ton. Noch zweimal hatte ich es ohne Erfolg versucht, dann hatte ich mich auf die Suche nach einem anderen Eingang begeben, das Tor war ja verschlossen. Fünfzig Schritte östlich vom großen Tor war der Schmiedeeisen-Zaun zu Ende und ging in eine mit Moos und Efeu bewachsene Gartenmauer über. Der Zugang zu dem angebauten Gartenhaus war durch eine kleine Eisentür zu erreichen. Vorsichtig hatte ich die Tür geöffnet und hineingespäht. Möglicherweise bewachte ein Hund das Anwesen. Es war kein Hund zu sehen gewesen, nur eine Frau mittleren Alters stand gebückt vor einer Feuerstelle, sie verbrannte dürre Äste und Gartenabfall.
 
Als sie wieder aus ihrem Häuschen kam, sah sie verändert aus. An der Art zu sprechen hatte ich schon erkannt, dass es sich um eine außergewöhnliche Frau handelte, ihre Ausdrucksweise zeugte von besonderer Herkunft. Sie hatte die Gummistiefel gegen Halbschuhe getauscht und einen breiten, gehäkelten Schal als Umhang übergeworfen. Das sah edel aus, fand ich. „Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Haus.“
 
Ich hatte den Auftrag, die aus dem vorigen Jahrhundert stammenden Kachelöfen fachmännisch abzutragen und mit einem neuen, feuerfesten Innenleben auszustatten. Außerdem mussten die kostbaren Art-Deco Bodenplatten im gesamten Stiegenhaus renoviert werden. Mein Meister war der Meinung, diese Arbeit, vor allem die Renovierung der Kachelöfen, sei genau das Richtige für mich. Gerade jetzt, meinte er, in der ersten Zeit nach meiner Lehre, sei es wichtig, Praxis zu erwerben. Beim Abtragen von alten Bauwerken könne ich am besten verstehen, wie die alten Meister gearbeitet und welche Techniken sie angewandt hatten. Wertvolle Erkenntnisse könne ich mir auf diese Weise aneignen, wie bei der Obduktion von Menschen. Beim Sezieren lernten angehende Ärzte, wie es nach einem mehr oder minder langem Leben „drinnen“ ausschaute. Beim Hafner und Ofensetzer war es genau so. All das hatte ich dem Meister abgenommen und ich hatte mich auch über die Arbeit gefreut. Bis zur Arbeitseinteilung, bei der ich die Adresse erfahren hatte, war ich noch guter Dinge gewesen. Doch das hatte sich schlagartig geändert. Als ich die Werkzeugtasche auf mein Fahrrad packte und losradelte, zitterten meine Knie und ich hatte ein flaues Gefühl im Magen. Ich kannte die Adresse: Carl-Morré-Gasse 77. Das stand auf den Stempeln meines Vaters, mit denen ich als Kind immer gespielt hatte. Das war die Adresse der Villa Hammerherr, dem ehemaligen Sitz der Firma meines Vaters.

Frau Sulzer-Kolb gab sich jovial und verhalf mir dadurch zu mehr Sicherheit. Auf dem Weg zur Villa stellte ich organisatorische Fragen. Viel lieber hätte ich sie über das Haus und seine Bewohner, vor allem über seine ehemaligen Bewohner, befragt – doch ich traute mich nicht. Ich wusste viel zu wenig von der Vergangenheit, wusste nicht, was sich damals vor vierzehn Jahren in diesem Haus abgespielt hatte.
 
Sie führte mich nicht direkt in die Villa sondern zuerst zu einem Nebengebäude, das einmal eine Werkstatt und ein Magazin gewesen war. Sie meinte, ich könne das Gebäude als Lager für die Ofenkacheln benutzen und fügte entschuldigend hinzu:
„Wie Sie bestimmt schon gesehen haben, sind die Fassade und der Park in einem bedauernswerten Zustand, aber das Haus selbst ist sehr gediegen, auch wenn vieles im Lauf der Jahre gelitten hat.“
Jetzt fiel mir das Klingelschild wieder ein und ich fragte: „Wo ist eigentlich der Kindergarten?“
„Ach ja, die Kinder ... sie waren die letzten Nutzer des Hauses. Bis vor zwei Jahren hat die Stadt hier einen Kindergarten betrieben. Das waren noch Zeiten, da lebte das Haus noch einmal richtig auf, das hat auch mir gut getan, das Kinderlachen“, sagte sie und schaute mich von der Seite her an.
„Wie war ihr Name noch gleich? Sagten Sie nicht Fink?“
Da war sie, die Frage! Ich hatte darauf gewartet, jetzt fürchtete ich mich vor ihrer Reaktion.
„Ich bin Franz Fink.“
„Dann müssen Sie der Burli sein! Habe ich recht?“
„Ja, ich bin der Burli.“ Wie aus dem Nichts fiel mir ihr Name ein.
„Tila. Sie müssen Tila sein! Richtig?“
„Genau, du konntest meinen Namen Mathilda nicht aussprechen. Du nanntest mich Tila und alle anderen auch. Ich mochte diesen Namen.“
„Wie haben Sie mich erkannt? Ich war ja damals noch ein kleines Kind.“
„Ich habe dich sofort erkannt. Die Art wie du beim Fragen den Kopf hieltest, hast du beibehalten. Du bist der Burli mit dem weißblonden Haar und den blauen Augen. Der Burli, auf den ich aufgepasst habe. Der Burli, der niemals Franz genannt wurde, weil er eben unser Burli war!“ sprudelte es aus ihr heraus. Frau Sulzer-Kolb war plötzlich wie verwandelt, keine Spur mehr von feiner Dame. Eine Haarsträhne war ihr ins Gesicht gerutscht, mit einem Ton, den ich kannte, und geschürzten Lippen blies sie sie weg und lächelte mich an. Ich fühlte mich befreit, es war wunderbar diese Wärme zu spüren.
 
Ich war fünf Jahre alt gewesen, als mein Vater nach dem Konkurs seiner Firma Fink & Sohn in den Ruin stürzte und alles verlor. Meine Familie musste die Villa Hammerherr verlassen und landete in einem Loch. In diesem Loch verbrachte ich meine bewusst erlebte Kindheit. Ich wusste nichts vom bürgerlichen Leben und schon gar nichts von Reichtum. Ganz im Gegenteil, der Alltag war ein Kampf ums Überleben, Hunger stand an der Tagesordnung.
 
Der Zufall hatte es gewollt, dass der Auftrag der Hausverwaltung, in der „Hammerherr“ längst notwendige Sanierungen durchzuführen, an meinen Meister ging. Ich hatte das Gefühl, an einem Tabu zu kratzen und es ging mir nicht gut dabei. Über diesen Teil seiner Vergangenheit hatte mein Vater all die Jahre geschwiegen. Über die Villa Hammerherr wurde nicht gesprochen, schon gar nicht über Schuld. Trotzdem hatte ich aus Gesprächen mitbekommen, dass meine Familie alles verloren hatte.
 
„Nach eurer Zeit hat mich nie wieder jemand Tila genannt“, sagte Tila und schaute mich fragend an. „Erzähl mir, wie ist es dir ergangen?“
„Nicht gut, aber das ist für mich normal, ich kenne ja nichts anderes“, antwortete ich.
„Und dein Vater? Wie erging es ihm?“
„Auch nicht besser. Zuerst war er im Gefängnis, dann arbeitslos und jetzt ist er in Frührente und wenn es so weiter geht, säuft er sich zu Tode.“
„Was sagt deine Mutter dazu?“
„Gar nichts. Ich glaube, sie hat resigniert.“
„Spricht sie mit dir darüber?“
„Nicht direkt, es klingt manchmal so, als spräche sie mit sich selbst. Aus ihren Klagen kann ich erkennen, dass es uns einmal viel besser gegangen ist.“
„Sprichst du mit deinem Vater?“
„Wenig. Nur das Notwendigste. Früher hab ich ihm noch Fragen gestellt, aber er sprach so gut wie nichts, außer wenn er wieder einmal total besoffen war. Wenn mich meine Mutter losschickte, um ihn aus irgendwelchen Spelunken nach Hause zu holen, bekam ich manchmal mit, wie er seinen Kumpanen gegenüber prahlte, was für ein toller und erfolgreicher Geschäftsmann er einmal gewesen war und dass alle anderen an seinem Absturz schuld seien. Keine Ahnung, ob das stimmte und wie es wirklich gewesen war. Ich habe ihn schon so oft beim Lügen ertappt, so dass ich ihm nicht mehr glauben kann. Meine Mama sagte, er wolle mich schützen und erzählte mir deshalb nicht die ganze Wahrheit. Wie kann man nur so einen Blödsinn glauben? Ich glaube, sie hat auch Angst vor ihm. Sie lässt sich nicht von mir helfen, sie hält trotz allem zu ihm und will sich nicht scheiden lassen.“
„Das ist ja schrecklich!“, entfuhr es Tila.
„Ja, das ist es. Aber es ist bald vorbei. Ich bin jetzt achtzehn Jahre alt und am Sprung zum Abhauen. Ich warte nur noch auf die Musterung und die Einberufung zum Bundesheer. Danach gehe ich weg. Für immer. Hier sehe ich keine Zukunft für mich, der Name Fink scheint verbrannt zu sein“, sagte ich und schämte mich dafür, das gesagt zu haben.
Tila wollte etwas einwenden.
„Tut mir leid, wenn ich Sie jetzt erschreckt habe. Ich möchte Ihnen sagen, dass ich es als Glücksfall begreife, liebe Tila, dass wir uns hier in diesem Haus noch einmal kennenlernen dürfen. Ich bitte Sie, erzählen Sie mir aus dieser Zeit und was sie damit zu tun haben. Was war Ihre Rolle? Wollen Sie mir helfen, meine Welt zu verstehen?“
 
Tila hatte mir zugehört. Sie wiegte den Kopf und sagte ganz ruhig:
„Das will ich gerne tun, aber es ist eine lange Geschichte und es wird dir nicht alles gefallen. Dazu brauchen wir mehr Zeit und eine gemütliche Ecke.“
Wir waren am Haupthaus angekommen. Mit einem Lächeln im Gesicht sagte sie: „Du solltest deine Arbeit nicht vergessen. Komm´, hilf mir beim Öffnen der Tür, das Schloss klemmt. Ich zeige dir jetzt das Stiegenhaus und die Kachelöfen. Wo hast du eigentlich dein Handwerkszeug?“
Ich hatte vergessen, warum ich hier war, und jegliches Zeitgefühl verloren. Der Meister hatte geplant, in einer Stunde mit dem Material nachzukommen, womöglich stand er schon vor dem verschlossenen Haupttor und fragte sich verärgert, wo ich mich herumtrieb. Zu Tila gewandt sagte ich: „Wir müssen die Zufahrt frei machen, mein Chef  sollte schon da sein, er liefert den Schamott mit dem Transporter an. Er sollte bis zum Haus fahren können, das Material ist schwer. Können Sie das Tor aufsperren, Tila? Ich bereite einstweilen die Abdeckung der Parkettböden vor. Gibt es hier vielleicht alte Kartons oder Decken?“
„So gefällt mir mein Burli oder muss ich dich jetzt Franz nennen? Nein! Antworte nicht, das war eine rhetorische Frage. Für mich wirst du immer der Burli bleiben. Mir gefällt es, wenn du die Dinge in die Hand nimmst, wie seinerzeit dein Vater. Der war auch immer am Organisieren. Das hörst du wahrscheinlich nicht so gerne? Verzeih´ mir, aber ich weiß, dass er dich geliebt hat.“
Ich konnte nur antworten:
„Von wem reden Sie? Doch nicht von meinem Vater. Ich kenne nur einen besoffen prügelnden oder einen nüchtern schweigsamen Menschen. Ich kann mich nur an einen einzigen Moment erinnern, bei dem er mich auf den Schoß genommen und mir über das Haar gestrichen hat. Und diese Szene war künstlich herbeigeführt; durch einen Fotografen, der uns zusammenrücken ließ, um uns auf das Bild zu bringen.“
 
 
Ein langgezogenes „Fraaanz“ tönte aus dem Park.
„Der Meister ist da“, rief ich Tila zu, „ich muss jetzt an die Arbeit, reden wir später weiter?“
„Gerne. Komm´ nach Feierabend in mein Haus oder in den Garten. Du weißt ja wo du mich finden kannst,“ sagte sie und wandte sich meinem Chef zu, der mit den Papieren gekommen war, um die Lieferung zu bestätigen. Verwundert bemerkte ich, dass sich die beiden kannten. Das Gespräch schien sehr vertraut zu sein. Ich kannte meinen Lehrmeister lange genug, um mir meine Meinung zu bilden. Möglicherweise hatte er frühere berufliche Tätigkeiten in diesem Haus ins Private ausgedehnt. Es wäre nicht das erste Mal gewesen. Schon des Öfteren hatte ich seiner Frau gegenüber ein Alibi bestätigen müssen. Im Geheimen beneidete ich ihn um seine Frauenbekanntschaften. Ich hatte ja viel gelernt von ihm, nur das mit den Frauen gelang mir nicht so gut. Der Mann war selbstsicher, eloquent und konnte immer lachen. Genau so wollte ich sein, aber so sehr ich mich bemühte, es gelang mir nicht. Die Idee, es mit Alkohol zu versuchen, kam zufällig. Es geschah beim letzten Betriebsausflug. Lotte, die vermeintlich unnahbare Tochter des Chefs war auch dabei. Wir hatten in einer Bar am Wörthersee süßen Wein getrunken, Twist getanzt und zum Abschied einen „Lamourhatscher“ zelebriert. Das hätte ich mich ohne Alkohol niemals getraut. Es war mehr ein Schleichen als ein Tanzen, Becken an Becken und Wange an Wange bewegten wir uns über die Tanzfläche. Dann die unfassbaren Worte aus Lottes Mund in mein Ohr: „Du kannst ja richtig zärtlich sein, Franzi!“
 
„Kommen Sie, meine Herren“, sagte Frau Sulzer-Kolb, „wir gehen an die Sonnenseite des Hauses über die Freitreppe ins Haus, da ist mehr Platz.“ Für mich war Tila die Dame des Hauses und nicht die Verwalterin. Ihr Auftritt war nicht nur natürlich und souverän; da schwang auch Stolz mit. Wir hatten eine stille Vereinbarung getroffen; solange mein Chef in der Nähe war, sprachen wir nicht über unsere privaten Gemeinsamkeiten in diesem Haus. Der Meister hielt es genau so mit der Bekanntschaft zu Tila.
 
Zwischen freistehenden Fichtenbäumen, deren Äste bis zum Boden reichten, schlängelte sich ein fast zugewachsener Kiesweg zur Villa. Im Schatten der Nadelbäume entrollten die Farnwedel ihre hellgrüne Fiederung und erinnerten mich an einen Bischofsstab oder einen Geigenkopf. Schon als Kind hatten mich diese Pflanzen beeindruckt, ich liebte sie noch immer. Der Weg führte zur Südseite der Villa. Die breite Freitreppe führte zu einer Art Empore hoch. An den Treppenwangen wiegten sich Fliedersträucher im leichten Wind des späten Frühlings. Breite Flügeltüren mit kleinen Glasfenstern führten in die Bel-Étage der Villa Hammerherr. Solide Mauern aus Bruchsteinen umgaben die Terrasse, dadurch wirkt sie wie eine Bühne. Hier spürte ich den Geist des Hauses. Ich versuchte mich in die Gründerjahre zu versetzen, in die Zeit der „Schwarzen Grafen“, wie die Hammerherren genannt worden waren, und von denen die Villa ihren Namen hatte. Der Charme des Hauses, wie es sich ohne zu protzen in die Landschaft einfügte, beeindruckte mich. Die Aussicht war es wert länger zu verweilen, dachte ich. Das Panorama das sich auftat war meine Heimat, nur hatte ich sie so noch nie gesehen. Über blühende Kastanienbäume schaute ich hin bis zum Rennfeld im Südosten der Stadt. Im Westen am Heuberg leuchteten die Narzissenwiesen in der Vormittagssonne. Über dem Murtal lag ein Dunst, darüber war die Mugel mit ihrem Viereckwald und dem Sendeturm zu erkennen. Die Weitläufigkeit des Parks und das harmonische Gefüge von Natur und Bauwerk ließen mich fast vergessen, dass ich mich mitten im steirischen Industriegebiet befand. „Und das alles war einmal mein Elternhaus?“, sinnierte ich. Tila war unbemerkt an meine Seite getreten, blickte mich an und nickte mir stumm zu, offenbar hatte ich den Gedanken ausgesprochen. Ich fühlte mich ertappt, sagte:
„Auf geht’s, an die Arbeit!“ und wischte damit meine Gedanken weg.
 
Tila stand vor einem wuchtigen Schreibtisch aus dunklem Holz, dem letzten noch vorhandenen Möbelstück in der Bibliothek, einmal abgesehen von den leeren Bücherregalen. Die Decke war das Prunkstück des hohen Raumes. Schräg einfallendes Licht spiegelte sich im Eichenholz des Parketts, dessen feingemaserte Stäbe sich zu einem klassischen Fischgrätmuster kreuzten. Die linke Raumecke wurde von einem Jugendstilofen mit dunkelgrün glasierten Kacheln beherrscht, die im vertieften Relief Jagdmotive zeigten - ein edles und wertvolles Stück aus der Jahrhundertwende. Der erste Blick fiel jedoch auf ein bis zur Decke reichendes Ölgemälde zwischen den Fenstern. Es zeigte Erzherzog Johann, den „Steirischen Prinz“ im Gewand eines Hammerherrn. Im Salon nebenan stand mein zweiter „Patient“, ein graziler Ofen im Biedermeierstil. Die weißblauen Kacheln mit alter Craqueleglasur waren besonders in Mitleidenschaft gezogen worden.
Tila und mein Chef beugten sich über neue und historische Pläne, die am Tisch aufgerollt waren und riefen mich hinzu:
„Pass auf, Franz, diese zwei Prunkstücke der Villa Hammerherr sind kostbar und benötigen beim Abbau deine volle Aufmerksamkeit. Also Vorsicht und lass dir Zeit beim Reinigen. Vergiss nicht, jede Kachel und alle Teile des Gesimses einzeln zu nummerieren. Die zwei Öfen werden dann wieder aufgebaut, die anderen kommen ins Magazin. Frau Sulzer-Kolb wird dir behilflich sein.“
Mein Meister stellte mir eine Prämie in Aussicht, wenn alles zu seiner Zufriedenheit geschah. Mit einem Augenzwinkern zu Tila sagte ich: „Natürlich Chef, es ist mir ein persönliches Anliegen, ich liebe alte Öfen und dieses schöne Haus.“
 
Tila hatte sich verabschiedet und ging in Richtung ihres Gartens. Auch der Meister hatte es eilig und wieselte ihr hinterher. Das war mir nur recht. Endlich konnte ich mich im Haus umsehen. Ich hoffte, dass vergessene Kindheitserlebnisse wieder lebendig würden. Das war schon bei Tilas erstem Satz passiert, als mir beim Klang ihrer Stimme ihr Name eingefallen war. Ich hoffte auf Erinnerungen und ging in die Küche, ich war mir sicher, dass sich Kinder am liebsten in diesem Raum aufhielten. Der gemauerte Kachelherd mit ehemals blankpolierter Reling und Messingknöpfen an den Backrohrtüren sagte mir nichts. Die uralten blau-weißen Delfterfliesen an den Wänden und der schwarzweiße Steinzeugboden im Schachbrettmuster erregten nur mein berufliches Interesse. Ich wollte Bilder aus jener Zeit erkennen, unbeeinflusst von dem, was mir Tila erzählen würde. Vielleicht würde durch einen Gegenstand ein Funken überspringen. Nichts. Keinerlei Erinnerung. Vielleicht wäre Musik hilfreich, dachte ich und begann zu summen. Was singen Kinder mit fünf Jahren, fragte ich mich. Das mit dem Männlein? Ich versuchte es und sang: „Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm ...“ Zum Glück hörte mich niemand, dachte ich, aber auch das Singen zeigte keine Wirkung. Blieb nur noch der Geruchssinn. Düfte waren ja ein Quell der Erinnerung. Aber welche? Wie roch es hier? Normalerweise war die Küche ein duftender Ort, aber hier roch es nur nach Staub, leicht modrig, es musste gelüftet werden. Beim süßen Duft des Flieders vor der Hammerherr´schen Terrasse war mir nur die fürchterliche Tracht Prügel eingefallen, die ich von meinem Vater bezogen hatte, als ich für meine Mama zum Muttertag den herrlich dufteten Flieder im Stadtpark gestohlen hatte.
 
„Mach dich nicht verrückt“, sagte ich zu mir: „So wichtig ist dir diese Villa doch gar nicht. Es ist nur der Reiz der Bilder in deinem Kopf; die womöglich schönere Welt deiner Kindheit. Das suchst du. Vielleicht ist es nur die Lust an schönen Dingen: Form, Farbe und Stil und die Stimmung in diesem verlassenen Park. Das hohe Gras auf den überwucherten Wegen hat dich aufgewühlt, hat deine Sinne aktiviert. Die lebendige Natur gehört immer auch dir, du musst sie nicht besitzen um sich an ihr zu erfreuen. Also reiß dich zusammen und mach deine Arbeit und genieße die Zeit.“
Ich hatte mir einen Tagesplan zurechtgelegt und kam gut voran. Als erstes nahm ich den kostbaren Rokokoofen im Salon in Angriff, denn das war die heiklere Arbeit, dann den Jugendstilofen in der Bibliothek. Ich hatte Glück, die Öfen waren bei weitem nicht so marode wie ich gedacht hatte. Das kam meiner Arbeitsplanung sehr entgegen. Es lief mir gut von der Hand. Mein Tempo war gut. Auf die Mittagspause hatte ich verzichtet, ich wollte den Arbeitsfluss nicht unterbrechen. Am späten Nachmittag transportierte ich die Teile der abgebauten Öfen in das Magazin im Nebengebäude der Villa. Das angesammelte Gerümpel in diesem Raum löste in mir die bekannte Anziehungskraft auf alte Sachen aus. Ich fing zu stöbern an und vergaß die Zeit. Dieser Teil des Gebäudes war durch ein Tor getrennt. Dahinter war eine Art Garage, hier lagen alte, verrostete Fahradteile, einzelne Räder und ein altes Schlauchboot. Das nach Öl und Gummi riechende Wirrwarr weckte meine Neugier und ich kämpfte mich zu einem Uralt-Traktor mit Schwungscheibe durch. Dann stockte mir der Atem und ich konnte nicht glauben was ich sah. Die Erinnerung war da: Hier stand der Goliath mit Ladefläche, Baujahr 1935, ein Dreirad-Auto von Borgward. Die Windschutzscheibe war geborsten, im Führerhaus war nur mehr ein Sitz, der zweite lag in der Ecke beim Gerümpel. Ich setzte mich auf den zerkratzten Ledersitz, ignorierte Staub und Ölflecken und träumte von meiner ersten Fahrt mit diesm Auto. Der Geruch von Leder und Öl hatte ein Fenster meiner Kindheit geöffnet. Ich sah mich auf einer ungeteerten Landstraße fahren, hinter mir eine sommerliche Staubwolke. Wer damals gefahren war, fiel mir nicht ein, aber das war auch egal. Jetzt fuhr ich.
Ungern unterbrach ich meinen Tagtraum, aber ich hatte noch viel zu tun. Deshalb  schnappte ich eine Transportrodel und setzte meine Arbeit fort. Es war eine staubige Angelegenheit, aber die alten, ausgebrannten Schamottplatten mussten entfernt werden. Die Lehmfüllung der Kacheln hatte ich abgeschert und alle Teile gewaschen und nummeriert. Ich hatte meinen Plan erfüllt und war zufrieden mit mir. Es war Feierabend und ich wollte zu Tila.
Ich ging nicht über die kleine Straße die direkt zu ihrem Gartenhaus führte, sondern nahm den anderen Weg quer durch den Obstgarten. Ich wollte Zeit gewinnen. Die Euphorie der ersten Begegnung mit Frau Sulzer-Kolb war der Müdigkeit gewichen. Der Arbeitstag hatte mich abgestumpft und jetzt wusste ich nicht, wie ich mich verhalten sollte. Aus Angst und um meine Schüchternheit zu überwinden wäre ich am liebsten zum nächsten Wirt geradelt und hätte ein paar Bier oder ein paar Gläser Wein getrunken. So ein Vierterl Wein kann wahre Wunder wirken, jedenfalls bei mir war das immer so gewesen.
 
„Na, wie fühlt es sich an, wenn das Tagwerk vollbracht ist?“, Tila kam mit einer Handvoll Grünzeug um die Ecke ihres Hauses.
„Ich wollte gerade nachschauen wie es dir geht. Geht´s dir gut?“, fragte sie mich.
Ich war heilfroh, dass sie das begonnen hatte. Irgendwie hatte mich diese Frau fasziniert und ich rätselte, warum das so war.
„Hallo Tila. Ja, es geht mir gut. Ich bin müde, aber das ist normal nach so einem Tag wie heute, glaube ich.“
„Komm Burli, setz dich auf die Hausbank und ruhe dich aus, ich mache uns einen Tee, der regt an. Oder möchtest du lieber ein Bier.“
„Oh ja, ein Bier wäre nicht schlecht zum Feierabend“, antwortete ich. „Können Sie Gedanken lesen?“
Sie lächelte verschmitzt und meinte:
„Manchmal schon, vor allem bei Männern, die können selten ihre Wünsche verbergen. Ich sehe es in ihren Augen.“
Ich blinzelte in die Abendsonne und rauchte eine Zigarette. Den schweren Schlüsselbund, den mir Tila anvertraut hatte legte ich auf den wackeligen Tisch und streckte meine Beine darunter aus.
„So“, sagte Tila, „ich habe noch ein paar Flaschen vom Osterbock. Bestes Starkbier von Reininghaus, das haben mir die die Leute von der Feuerwehr zu meinem Geburtstag geschenkt. Du musst wissen: ich bin ihre Fahnenmutter. Ich habe das Bier für ein besonderes Ereignis aufbewahrt. Voilá, heute ist so ein Tag! Wir haben uns lange Jahre nicht gesehen, das muss gefeiert werden. Bist du einverstanden?“
Tilas ungezwungene Art war herzerfrischend.
„Ja natürlich! Und danke für die Einladung“, sagte ich und durch die Aussicht auf das Starkbier wurde meine Laune noch besser.
„Es gibt noch einen Grund zu feiern, weißt du was für einen? Nein? Weißt du nicht? Natürlich nicht, kannst du gar nicht wissen. Ich sage es dir“, sie machte eine kurze Pause.
„Dieses schöne Haus da drüben, die Villa Hammerherr, ist ein besonderes Haus und wir zwei, nur du und ich, sind die einzigen Menschen auf dieser Welt, die in diesem Haus geboren wurden! Na, was sagst du jetzt?“
Ich war baff und wusste nicht was ich sagen sollte. Dann fragte ich doch:
„Warum wohnen Sie jetzt in diesem Häuschen, und nicht in der Villa? Sie sagen ja selbst, dass Sie hier geboren wurden, warum sind Sie dann nicht die Besitzerin?“
„Weil das Leben eben nicht immer gerecht ist. Du bist auch hier geboren, Burli, und auch nicht der Besitzer.“
„Da haben Sie recht. Wie kam das? Was ist passiert?“, fragte ich und das mulmige Gefühl kehrte zurück. Ich hatte Angst, sie würde mir eine Geschichte erzählen, die ich nicht hören wollte.
 
„Jetzt kommt dein Vater, Ferdinand Fink, ins Spiel. Und natürlich deine Mutter. Du musst wissen, ich bin seit dem Krieg Witwe, mein Mann ist in Russland gefallen. Meine Familie hatte ein Eisenwerk und große Besitzungen in der Steiermark. Nach dem ersten Weltkrieg ging viel davon verloren. Die Villa Hammerherr, unser Stammhaus, ist mir geblieben, doch ohne die Einkünfte von früher wurde es immer schwieriger, das Anwesen zu bewirtschaften. Erst wurden die landwirtschaftlichen Flächen verpachtet, dann verkauft und im letzten Krieg, nach dem Tod meines Mannes, habe ich die Villa an alle möglichen Leute vermietet. Unter anderem auch an deine Mutter mit ihren zwei Mäderln Anna und Elisabeth. Sie war Witwe wie ich und heilfroh, in diesen schweren Zeiten überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Im Dorf lernte sie deinen Vater kennen und lieben. Dein Vater war an der Heimatfront im fernen Zistersdorf im Marchfeld bei den Öltürmen, während deine Mama bei Böhler in Deuchendorf Geschützrohre für Hitlers Panzer baute. Hier in der Villa haben sie 1945 geheiratet.“
Tila seufzte kurz und blickte mich fragend an:
„Was rede ich da, das weißt du doch, oder?“
„Naja, ich weiß, dass sie nach dem Krieg geheiratet haben. Ich weiß sogar, dass ihr Hochzeitstanz der Schneewalzer war, aber ich wusste nicht, dass sie in der Villa geheiratet haben.
 
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©Ferdinand


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Kommentare (1)

EisenweinZwei

Errötet Sorry, die Geschichte ist etwas lang geworden Zwinkern


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