"Die lebendige Reliquie" - eine Geschichte T u r g e n j e w s


Der Tod

oder

Die Todin






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Erfahrungen des Todes in geschlechtsspezifischer Sinndeutung



Essay, zuerst erschienen in der Zeitschrift "Religion heute" (E. Friedrich Verlag. Seelze). - Die literaturpädagogische Intention der Erarbeitung ist hier beibehalten worden.

Erläuterungen und Arbeitsaufträge:

zu der Kurzgeschichte von Theodor Weißenborn „Gespräch mit der Todin“ (in: Religion heute. Heft 52. S. 257f.)

Die im Heft 52 der Religionszeitschrift abgedruckte Kurzgeschichte von Theodor Weißenborn hat einen ganz eigenen literarischen Spielraum, dem nachzugehen eine schöne Aufgabe ist.

Hierzu werden - nachträglich - Erläuterungen und Arbeitsaufträge angeboten:


Erläuterungen zu Weißenborns Kurzgeschichte:


Städtenamen = Hier sind reale Orte am Niederrhein genannt, mit dem Zentrum des Marien-Wallfahrtsortes Kevelaer, die die an Amnesie leidende, erzählende Ich-Person als Jugendlicher kennen lernte. - Weißenborn überträgt also in kritischer Absicht das individuell verzweifelte Geschehen der Erkrankung in der naturmagische Szenerie in unserer Gegenwart auf den religiösen Ort des katholischen Wallfahrt-Ritus und seiner Hoffnungsangebote.

Petrifasten = Begriff in der Orthodoxie, nach Quintus S. F. Tertullian, besondere Liturgie; nach Tertullians (ca. 160-220 n.Chr.) theologischen Charakterisierungen des Apostels Petrus in der Apostelgeschichte (vgl. „Über das Fasten; gegen die Psychiker“; lat.: „De inedia“).

Turgenjew = gemeint ist Turgenjews Novelle „Die lebendige Reliquie“ (aus dem Roman "Aufzeichnungen eines Jägers"; 1852); vgl. Textangebot 1.

Löffel = Ausschabeinstrument bei Obspipationen

Regredieren in uterum = psychoanal. Begriff für die Vorstellung der Trans- oder Regressio post mortem (also die Rückkehr in eine transzendentale“ Gebärmutter“ als mögliche Erklärung des Weiterlebens und der Jenseits-Vorstellungen)

Knochen = veränderte Wiedergabe von "Rückgrat" (der körperlichen Deformation der jungen Frau bei Turgenjew), gemeint ist wohl das Knochengerüst.

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Dieser erzählerisch konventionellen, aber provozierenden Kurzgeschichte Weißenborns liegt eine Novelle der russischen Dichtung aus der Phase des poetischen Realismus zugrunde: Iwan Turgenjews "Die lebendige Reliquie" (ZIVYE MOSCI), aus seinem Erzählband "Aufzeichnungen eines Jägers" (ZAPISKI OCHOTNIKA), erschienen 1852.

Empfehlenswert ist die vollständige Übertragung der Novelle; greifbar in der Übersetzung von Johannes Günther, in I. T.: „Aufzeichnungen eines Jägers“. Reclam UB 2197. S. 453-472.

Der Begriff "Knochen", den der leichthin amnesierende Erzähler bei Weißenborn gebraucht - ob er wirklich im Titel einer Übersetzung gegeben ist, weiß ich nicht.
Die mir bekannt gewordenen Übersetzungen bieten alle den markant-sensiblen Titel "Die lebendige Reliquie".

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Textangebot 1:

Zum Inhalt der Novelle:

Zu seiner Überraschung wird der Erzähler, der Arzt Pjotr Petrowitsch, der sich auf der Jagd befindet, von seinem begleitenden Führer auf das abgelegene Gut Alexejewka geführt, das seiner (des Arztes) Mutter gehört und das er seit seiner Jugend nicht mehr betreten hat. Bei einem morgendlichen Spaziergang gerät er auf einen abgelegenen Fußweg.

Iwan Turgenjew: „Die lebendige Reliquie“ (Ausschnitt):


Ich schlug diesen Pfad ein und erreichte den Bienengarten. Neben diesem befand sich ein kleiner Schuppen aus Flechtwerk, wie er zum Einstellen der Bienenkörbe für den Winter dient. Ich blickte in die halbgeöffnete Tür hinein: Es war darin dunkel, still, trocken; es roch nach Minze und Melissen. In einer Ecke war eine Pritsche angebracht, und auf dieser lag unter einer Bettdecke eine kleine Gestalt ... Ich wollte schon weitergehen ...
"... Herr, Sie, Herr! Pjotr Petrowitsch!" rief eine Stimme, schwach, langsam und tonlos wie das Rascheln von Riedgras im Sumpf.
Ich blieb stehen.
"Pjotr Petrowitsch! Kommen Sie bitte her!" wiederholte die Stimme. Sie kam aus der Ecke, von der Pritsche, die ich bemerkt hatte.
Ich kam näher und erstarrte vor Verwunderung. Vor mir lag ein lebendiges menschliches Wesen; aber was war denn das?
Der Kopf war vollkommen ausgetrocknet, einfarbig, bronzen, genau wie auf einer alten Ikone; die Nase schmal wie die Schneide eines Messers; die Lippen fast unsichtbar; ich konnte nur die weißschimmernden Zähne erkennen, die Augen und einige dünne Strähnen der Haare, die unter dem Kopftuch auf die Stirn fielen.
Auf einer Falte der Bettdecke neben dem Kinn bewegten sich langsam zwei winzige, gleichfalls bronzene Hände mit spindeldürren Fingern. Ich sehe genauer hin: Das Gesicht ist nicht nur nicht abstoßend, es ist sogar schön, doch schrecklich und ungewöhnlich. Und dieses Gesicht erscheint mir um so schrecklicher, als ich sehe, daß sich ein Lächeln vergebens bemüht, sich auf den metallenen Wangen auszubreiten.
"Sie erkennen mich nicht, Herr?" flüsterte wieder die Stimme; sie verdampfte gleichsam auf den sich kaum bewegenden Lippen. "Wie sollten Sie mich auch erkennen! Ich bin Lukerja ... Erinnern Sie sich noch, dieselbe, die bei Ihrer Frau Mutter zu Spaßkoje den Reigen anzuführen pflegte... erinnern Sie sich noch? Ich war immer die Vorsängerin im Chor."
"Lukerja!" rief ich aus. "Bist du es? Ist es möglich?" "Ja, ich bin es, Herr. Ich bin Lukerja."
(...)
"Dann hatte ich auch noch diesen Traum", fuhr Lukerja fort. "Ich sitze unter einer Weide an der Landstraße, habe ein geschältes Stöckchen in Händen, einen Sack auf dem Rücken, und mein Kopf ist mit einem Tuch umbunden ich sehe ganz wie eine Pilgerin aus! Und ich muß irgendwo weithin wallfahren. Lauter Pilger kommen an mir vorbei; sie gehen langsam, wie widerwillig, alle in die gleiche Richtung; sie haben alle traurige Gesichter und sehen sich alle ähnlich. Und ich sehe: Eine Frau, die um einen ganzen Kopf größer ist als alle und so merkwürdig, gar nicht russisch gekleidet, wirft sich zwischen ihnen hin und her. Auch ihr Gesicht ist so merkwürdig vom Fasten ausgemergelt und streng. Alle anderen weichen ihr aus; sie aber geht plötzlich auf mich zu. Sie bleibt stehen und sieht mich an; ihre Augen sind aber so gelb wie die eines Falken, groß und seltsam hell. Ich frage sie: 'Wer bist du?' Und sie antwortet mir: 'Ich bin dein Tod.' Statt zu erschrecken, bin ich so furchtbar froh und bekreuzige mich. Und jene Frau, das ist mein Tod, sprich zu mir: 'Du tust mir leid, Lukerja, aber ich kann dich nicht mitnehmen. Leb wohl!' Mein Gott, wie traurig wurde es mir da ums Herz..! 'Nimm mich mit', sage ich ihr, 'Mütterchen, liebes Täubchen, nimm mich mit!' Und die Frau wandte sich zu mir um und redete mir zu ... Ich verstand nur, daß sie mir meine Stunde bestimmte, aber sie sprach so undeutlich ... 'Nach den Petrifasten', sagte sie mir ... Da erwachte ich ... So sonderbare Träume habe ich immer!"
Lukerja hob die Augen zur Decke ... wurde nachdenklich ...
"Aber mein Unglück ist, daß ich oft eine ganze Woche nicht einschlafen kann. Im vorigen Jahr kam hier eine Dame vorbeigefahren; sie sah mich und gab mir ein Fläschchen mit einer Arznei gegen die Schlaflosigkeit; sie sagte, ich soll jedesmal zehn Tropfen nehmen.
Die Tropfen halfen mir gut, und ich konnte schlafen; jetzt ist aber das Fläschchen leer ... Wissen Sie nicht, was es für eine Arznei war, und wie ich sie mir verschaffen kann?"
[Der Arzt vermutet, dass die mitleidige Ärztin Opium gab und nimmt sich vor, auch mit einem solchen Medikament zu helfen; doch die Novelle endet so:]
Einige Wochen später erfuhr ich, daß Lukerja gestorben war. Der Tod hatte sie also doch geholt ... und sogar "nach den Petrifasten". Man erzählte, sie habe an ihrem Sterbetag immer Glockenläuten gehört, obwohl die Kirche mehr als fünf Werst weit von Alexejewka lag und es ein Wochentag war. Lukerja hatte übrigens gesagt, das Läuten sei nicht von der Kirche gekommen, sondern "von oben". Wahrscheinlich wagte sie nicht zu sagen: vom Himmel.

(Übersetzt von Alexander Eliasberg; aus dem Jahre 1929; abgedruckt nach „Die wirkliche Welt“. Realistische Erzähler der Weltliteratur. Eine Anthologie. Hrsg. von Hermann Kesten. Frankfurt/M. 1963. S. 19-31.


Textangebot 2:


Iwan Turgenjew: Christus
- Gedicht in Prosa -

Ich sah mich als Jüngling, fast noch als Knaben in einer niedrigen Dorfkirche. Dünne Wachskerzen brannten mit schwacher Flamme wie rote Pünktchen vor den alten Heiligenbildern.
Ein regenbogenfarbener Lichtschein umgab jede einzelne kleine Flamme. Dunkel und trüb war es in der Kirche. Vor mir drängten sich viele Menschen.
Lauter blonde Bauernköpfe. Von Zeit zu Zeit gerieten sie in Bewegung, verneigten sich, erhoben sich wieder, wie reife Kornähren, wenn der Sommerwind wie eine sanfte Woge über sie dahinstreicht.
Plötzlich trat jemand von hinten her neben mich.
Ich wandte mich ihm nicht zu, aber ich spürte sofort, dieser Mensch ist Christus.
Rührung, Neugier, Angst bemächtigten sich meiner. Ich nahm alle meine Kraft zusammen und betrachtete meinen Nachbarn.
Ein Gesicht wie jedes andere, ein Gesicht, das allen Menschengesichtern gleicht. Die Augen schauen ein wenig nach oben, aufmerksam und still. Die Lippen sind geschlossen, werden nicht zusammengepreßt: die Oberlippe ruht gleichsam auf der unteren. Der kleine Bart ist geteilt. Die Hände sind gefaltet und bewegen sich nicht. Auch seine Kleidung ist die gleiche wie bei allen anderen.
»Wie kann das Christus sein!« dachte ich. »Ein so einfacher, einfacher Mensch! Es kann nicht sein!«
Ich wandte mich ab. Aber kaum hatte ich meinen Blick von diesem einfachen Menschen abgewandt, als mich wieder das Gefühl überkam, Christus stände wirklich neben mir.
Wieder nahm ich alle meine Kraft zusammen. Und wieder sah ich dasselbe Gesicht, das allen Menschengesichtern glich, dieselben alltäglichen Züge eines, wenn auch unbekannten, Menschen.
Mir wurde plötzlich unheimlich zumute, und ich kam zu mir. Nun erst verstand ich, daß gerade ein solches Gesicht ein Gesicht, das allen menschlichen Gesichtern gleicht Christi Antlitz ist.

(Der Text wurde geschrieben im Mai 1879; aus: Iwan Turgenjew: Gedichte in Prosa. Hrsg. von Chr. Reinke-Kunze. Stuttgart 1983. S. 117ff.)


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Arbeitsaufträge:

Charakterisiere die Personen in den zwei Texten,
* bei Weißenborn den Ich-Erzähler und die Todin,
* bei Turgenjew den Arzt und die gelähmte Frau.

Kennzeichne die soziale, medizinische und religiöse Situation des Lebensabschieds: Krankheitsbild, Ort der Handlung, Behandlungsmethoden, Ärzte - und die Funktion von Traumfiguren: Christus, die Todin (Tod als Frau)

Vergleiche und diskutiere abschließend in den Erzählangeboten die Auffassungen über Sterben, Tod und Weiterleben.

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Zu den Autoren:

Iwan Turgenjew (1818-1883): russischer Autor der „natürlichen Schule“, die ihn befähigte, die psychische und soziale Lage der Menschen im damaligen Zarenreich in seine poetische Welt einzubeziehen, nicht nur in ihrem gesellschaftlichen Schicksal, sondern auch in ihren poetischen und religiösen Hoffnungen.
Empfehlungen:
„Gedichte in Prosa“. Hrsg. von Chr. Reinke-Kunze. Stuttgart 1983: RUB 1701.
„Aufzeichnungen eines Jägers“. Erzählungen in de Übersetzung ovn Johannes Guenther. Stuttgart 1982: Reclam UB 2197.

Theodor Weißenborn (* 22. Juli 1933):
1956 Examen du Degré Supérieur de Français Moderne. Seit 1982 Studien der Philosophie zu den Themen "Aristotelische Logik und Logik der Paradoxie", "Sprache und Erkenntnis" und "Ethos und Konflikt" (s. Weißenborn, "Das Sein ist das Nichts", Traktat, Berlin 1984).

Veröffentlichungen (Auswahl): Die Stimme des Herrn Gasenzer, Erzählungen (1958/1970, Claudius). Beinahe das Himmelreich, Erzählungen (1963). Ausser Rufweite, Roman (1964, List). Eine befleckte Empfängnis, Erzählungen (1969, Diogenes/1972, dtv). Geistlicher Nachlass, Gedichte (1977, Gilles und Francke). Polyglott, Gedichte (1979, Hildebrandt). Gespenster im Abraum, Erz. (1983, Husum). Die Wohltaten des Regens, Roman (1994). Der Wind im Cantal, bei Tag, in der Nacht (1997). Fragmente der Liebe, Prosa aus fünf Jahrzehnten (2000, Böschen). Insel im Strom, Gedichte (2001, Böschen). Brot für die Seele, Geschichten (2001, Echter).

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Zu den Autoren:

Iwan Turgenjew (1818-1883):
KLassischer russischer Autor der „natürlichen Schule“, die ihn befähigte, die psychische und soziale Lage der Menschen im damaligen Zarenreich in seine poetische Welt einzubeziehen, nicht nur in ihrem gesellschaftlichen Schicksal, sondern auch in ihren poetischen und religiösen Hoffnungen.

Leseempfehlungen:

„Gedichte in Prosa“. Hrsg. von Chr. Reinke-Kunze. Stuttgart 1983: RUB 1701.

„Aufzeichnungen eines Jägers“. Erzählungen in de Übersetzung von Johannes Guenther. Stuttgart 1982: Reclam UB 2197.

„Väter und Söhne.“ [Turgenjews berühmtester Roman]. Stuttgart 2002: RUB 718 [Am bekanntesten in der Bergengruenschen Übersetzung].

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Theodor Weißenborn (* 22. Juli 1933):

Studien der Sprachen und Philosophie und Psychologie. Freier Schriftsteller, international erfolgreicher Autor, besonders mit Erzählungen und Hörspielen zu den Themen Logik und Sprache und Erkenntnis, Ethos und Konflikt, Liebe und Gesundheit.

Neuere Veröffentlichungen (Auswahl): „Fragmente der Liebe“. Prosa aus fünf Jahrzehnten (2000. Böschen). „Insel im Strom“. Gedichte (2001. Böschen). „Brot für die Seele“. Geschichten (2001. Echter).

Vgl. zum Autor:

http://de.wikipedia.org/wiki/Theodor_Wei%C3%9Fenborn

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