Das alte Haus
Die Nachkriegsgeneration oder auch die heutige Jugend hat offensichtlich kaum von den Realitäten unserer Eltern, Großeltern Kenntnis.
Erst als ich mich entschlossen hatte, mein Alter allein zu verbringen, hatte ich die Muße, mich für meine „Vorfahren“ zu interessieren. Es liegen mir einfach zu viele Fotos und Geschichten meiner Großeltern (ca. 1885 – Ende der 1980er Jahre) vor, so dass ich begann, in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, aber auch ein wenig in der am Ende des 19. Jahrhunderts zu blättern.
Ursächlich war schon die Tatsache, dass unsere Geschichtslehrerin für die Zeit des Pogroms aus einem anderen Buch als dem, das die Schule bzw. die Schulbehörde vorsah, lehrte und sie erklärte uns auch hochinteressant, was da für Ungeheuerlichkeiten geschehen war und dass so etwas nie wieder passieren dürfe.
Jahrzehnte später hatte ich aus einem Buch, das ich zu meiner bestandenen Gesellenprüfung von der Lehrfirma erhalten hatte, das Foto eines Münsterschen Giebelhauses entdeckt, auf dessen Giebel tatsächlich Name und Beruf meines Großvaters standen. Drunter stand zu lesen, dass der Malermeister Heinrich Delker seinem Sohn Heinrich dieses Haus als Firmensitz zu seiner Meisterprüfung 1909 übergeben hatte. So stand es halt in den Annalen. Da meine mütterliche Familie sehr viele Nachkommen hatte, habe ich das Foto eingescannt und in DIN A 4-Format meinen interessierten Cousinen und Cousins gerahmt geschenkt.
Fast alle wollten dieses Foto als Erinnerung an das, was der Familie zuvor wohl gehörte, haben, hängten es an einen passenden Platz in ihr Zuhause. Verblüfft und völlig verständnislos war meine Reaktion, als ich dem jüngsten Sohn unseres Großvaters – meinem Patenonkel – diese Bild brachte. Er wollte es nicht. „Das Haus haben die früher den Juden weggenommen!“ war sein Argument.
Moment mal. Das Haus erhielt unser Großvater 1909 von seinem Vater. Die Hitlerzeit mit den Gräueln dieser Jahre war erst 25 Jahre später! Um die Jahrtausendwende lebte die jüdische Gemeinde in Münster eher in Frieden mit der überwiegend christlichen Bevölkerung Münsters, wie ich in den Annalen lesen konnte. Es war keineswegs zu der Zeit in Münster üblich, jüdischen Mitbürgern ihren Besitz zu entreißen!
Vielleicht aber war es auch so, dass die zuvor sehr wohl jüdischen Hausbesitzer aus uns unbekannten Gründen in die neue Welt nach Amerika auswanderten und daher ihr Haus an meinen Urgroßvater verkauften. Ich weiß es nicht …Es gibt niemanden mehr, der mir diese Fragen beantworten könnte. Das Haus überstand den 1. Weltkrieg,
es wurde von der Familie meiner Großeltern im Obergeschoss bewohnt, im Parterre waren die Malerwerkstatt sowie ein Hill-Geschäft und in der Zwischenetage lebten Verwandte mit 14 Kindern …
Im 2. Weltkrieg fiel es, wie viele Häuser Münsters, dem Bombenhagel zum Opfer.
Die nur wenige Meter entfernte Überwasserschule (teilweise rechts im Foto) blieb heil, und auch nur wenige hundert Meter weiter blieb das Haus, in dem mein Vater vor dem Krieg seinen ersten Salon eröffnet hatte, ebenfalls vollkommen heil, genauso wie das Haus an der Straßenecke, das heute in den Münsterkrimis als Wilsberg-Firma keinen Bombentreffer erhielt! Als die Engländer den Deutschen wieder erlaubten, ihren eigenen Geschäften in eigenen Firmen nachzugehen, konnte er weiter arbeiten wie zuvor.
Kommentare (7)
@indeed
Entschuldige liebe Ingrid, ich hab mich mit dem Kriegsjahrzehnt im 19. Jahrhundert vertan! In den 1870er Jahren herrschten Schlachten zwischen Bayern und Frankreich sowie Preußen und Frankreich.
Ob das dennoch dazu führte, dass dieses Giebelhaus Ende des 19. Jahrhunderts den Besitzer wechselte, lässt mich nun doch daran denken, mal in Münsters Grundbuchamt nachzufragen, wer die Vorbesitzer dieses Giebelhauses am Katthagen gewesen sind. Vielleicht haben diese Einträge ja das Bombardement Münster überlebt?
Lieben Gruß zu Dir von
Uschi
@indeed
Das wäre eine Möglichkeit, liebe Ingrid. Doch es interessiert mich inzwischen herzlich wenig, was Ende des 19. Jahrhunderts in Münster geschah. Wie ich schon schrieb, waren sich die Münsteraner mit dem jüdischen Anteil der Bevölkerung laut Stadtarchiv einig und lebten friedlich miteinander.
Ich weiß, dass mein Patenonkel erst 1925 geboren wurde, als in seinen folgenden Kinderjahren die Nazis die Oberhand gewannen, die Juden verfolgten. Kein anderer seiner Geschwister, die alle älter waren, ließ solch eine Anschuldigung hören. Jeder freute sich über das Foto, das ich leider momentan zwischen meinen Büchern noch nicht wiederentdecken konnte.
Den obigen Kunstdruck entdeckte eine Cousine vor Jahren in einem münsterschen Kunstgeschäft und schenkte das Original ihrer Mutter, geb. Delker. Jetzt noch der münsterschen Stadtverwaltung Geld dafür zu zahlen, was ich als Foto längst habe, nur um zu erfahren, wie mein Urgroßvater an dieses Giebelhaus kam - nee ...
Da lass ich lieber meine Fantasie schweifen. Immerhin gab es vor dem 1. Weltkrieg auch in den 1880er Jahren einen Krieg, der viele Bürger verarmen ließ und sie das Auswandern ins Auge fassten. Immerhin ist auch mein Großvater ein Kriegskind dieses Krieges bis 1887.
Derzeit unter Corona-Bedingungen sowie meiner Chemo nach Münster zu fahren lass ich lieber bleiben. Für die Ehenamen meiner ehemaligen Mitschülerinnen wegen meines geplanten Klassentreffens 50 Jahre nach der Schulentlassung sollte ich vor 10 Jahren schon pro Nase 25 € zahlen. Günstiger wird die Kasse des Stadtarchivs inzwischen auch nicht geworden sein. Wäre ja auch per Telefon zu machen, DAS überlege ich mir noch mal, nachdem ich bis Ende nächster Woche umgezogen bin.
Danke für Dein Lesen, Deinen Kommentar samt 💖chen und Deinen wirklich guten Ratschlag sagt
Uschi
Ja,liebe Uschi,
das ist für mich "lebendiger Geschichtsunterricht" und sehr interessant gewesen zu lesen. So muss ich Roxanna beipflichten, dass diese Erinnerungen meistens zu spät erst wieder wissenswert werden, wenn man niemanden für die Auskünfte hat?
Immer wieder gefällt mir diese Mode aus der Vergangenheit......was würden diese Menschen wohl sagen, wenn sie nur mal "eben" gucken kämen, um alle Entwicklung und Fortschritt zu sehen.? Leider auch viel Schönes weg wäre...
mit Gruß und Dank für "das alte Haus"
herzlichst
Renate
@ladybird
Liebe Renate!
Erstmal Dank für Dein 💖chen und Deinen Kommentar!!
Es ist ein Glück, dass ich noch von meiner jüngeren Schwester, mit der ich wieder regen Telefonkontakt habe, so einiges erfahren konnte. Aber auch einige Cousinen wussten mein Wissen mit ihrem zu ergänzen.
Meine jüngere Schwester G. ist vor über 20 Jahren (da war sie ca. 50) dort hingereist, wo sie Verwandte unserer Eltern finden und befragen konnte. Auch daher stammt mein Wissen, was mein Vater handschriftlich über seine Vorfahren bis zum 30-jährigen Krieg (1643 - 1648) in Kirchenbüchern nachschlagen konnte. G. hatte damals als Grafikerin für ihre Kinder einen Stammbaum erarbeitet.
Das hat meine Tochter jetzt aufgrund der Hausaufgabe von Max ebenfalls in Angriff genommen. Und die Geschichten dazu kann ich ihr liefern. Sollte ich nicht so alt werden wir meine Großeltern, so kann sie vieles nachlesen in meinem Diary. Das wird sie nicht auf meiner Festplatte löschen ...
denkt Uschi
Es ist immer interessant über seine Vorfahren etwas herauszufinden, liebe Uschi. Leider wird oft zu spät, so war es meinem Fall, damit begonnen, wenn niemand mehr lebt, den man fragen könnte. In deinem Fall hat dir sozusagen der Zufall etwas zugespielt, das ist doch bewegend. In manchen Familien hat jemand die Aufgabe übernommen, alles aufzuschreiben. Das ist dann ein richtiger Schatz. Ich habe deine Erzählung mit Interesse gelesen. Danke und herzlichen Gruß
Brigitte
@Roxanna
Liebe Brigitte,
das Titelfoto konnte ich in meinem übervollen Bücherschrank jetzt nicht finden, werde es wohl beim Ausräumen für den Umzug entdecken, denn in dem großen Buch (das mir durchaus vorliegt, lag noch ein kleines Heftchen, in dem das Haus abgebildet ist. Wenn ich das nächste Woche wiederfinden, werde ich es hier drüber setzen.
Aber zurzeit habe ich nicht die Kraft, die Bücher alle vorweg zu räumen und dann auch nicht die Zeit, weil auch meine Arztbesuche weitergehen müssen.
Bin gespannt, zwischen welchen Büchern das Heftchen sich versteckt hat. In meiner Familie sind es meine jüngere Schwester und ich, die so einiges in Verwahrung haben. Und nun beginnt auch meine Tochter aufgrund der Hausaufgaben ihres Neunjährigen und meinen Fotos sich sehr dafür zu interessieren! Es bleibt also die Möglichkeit, dass sie es weiterführt ...
Danke für Dein Lesen und Deinen Kommentar und Dein Herzchen freut sich
Uschi
Eigentlich müsstest du dich mit dem Grundbuchamt in Verbindung setzen. Ich könnte mir vorstellen, dass die Vorbesitzer dort eingetragen sind, die vor deinem Großvater das Haus besaßen.
Viel Glück, liebe Uschi und sei lieb gegrüßt
Ingrid