Damals, als alles besser war. Oder: als ich Lokomotivführer werden wollte


Als Kind wollte ich Lokomotivführer werden und als ich alt genug war, machte ich tatsächlich eine entsprechende Ausbildung. Das waren damals allerdings noch schwere, schnaufende, schwarze Dampfrösser, denn Diesel- oder E-Loks gab es nur in Ausnahmefällen, obwohl sie längst die neue Zeit ankündigten, die ich dann auch glatt verpasste.

Und so schaufelte ich mit einer breiten Schippe tonnenweise Kohlen in den brennenden Schlund, brachte das Wasser im riesigen Kessel zum Kochen, bis der Dampf die Kolben und die Kolben die imposanten aber schwerfällig erscheinenden Räder der Dampflokomotive in Bewegung setzten und der Zug über die Schienen aus Kruppstahl rollte. Ich war stolz auf meine Arbeit, stolz auf meine Leistung.

Als ich ausgelernt hatte, war die Zeit über mich hinweggerollt und ich musste lernen: alles ist Veränderungen unterworfen. Dampflokomotiven gab es bald nur noch im Eisenbahnmuseum oder bei Nostalgiefahrten. Technisch und beruflich hatte ich die Zeit verschlafen. Aber viele andere Veränderungen der „guten alten Zeit“, in der angeblich alles viel besser war, sollten in Erinnerung gerufen werden. Denn vieles, was uns heute als "Selbstverständlich" gilt, war vor etlichen Jahren noch verboten und stand unter Strafe:

Als ich zum ersten Mal ein Mädchen auf einem Kirmes-Tanzboden küsste, war meine Mutter nahezu erleichtert. „Endlich!“ rief sie freudig aus. „Und ich dachte schon, du wärst … also du wärst, na einer von den anderen, du weißt schon wen ich meine…!“ Sie traute sich nicht, das Wort in den Mund zu nehmen, denn sie meinte die Schwulen und hatte eine Heidenangst, ich könnte schwul sein, nicht nur wegen dem Getratsche der Nachbarn, sondern vor allem wegen der Schande und wegen dem Gesetz und der Polizei. Denn schwul zu sein war nach Paragraf 175 des Strafgesetzbuches verboten und wurde nicht nur bei den Nazis mit Konzentrationslager, sondern auch danach mit Gefängnis bestraft. Eher hätte man die Pest ins Land einschleppen dürfen, als schwul zu sein. Einmal als Mann mit einem anderen Mann Händchen halten und du warst im Dorf isoliert und dein Leben war ein Torso.

Ich war nicht schwul und ersparte meiner Mutter die Schmach des Gefängnisses. Aber jetzt hatte sie eine andere Sorge: Ich brachte nämlich – naiv und wiederum in Unkenntnis der gesetzlichen Lebensrealität – mein Herzallerliebchen mit nach Hause, und zwar nicht nur in die Küche, wo die ganze Familie als moralische Aufpasser um uns herumsaß, sondern gleich auf mein Zimmer, das ich auch noch - frech aber diskret - von innen abschloss, bis meine Mutter entsetzt an der Tür riss, zeterte und schließlich ängstlich rief: „Du Ungehorsamer! Willst du denn Unsitte und Schande über unsere Familie und mich ins Gefängnis bringen?“

Erst nach und nach erfuhr ich die Zusammenhänge: Es galten noch die juristischen Paragrafen der Zuhälterei und der Kuppelei. Wer den Beischlaf zweier unverheirateter Menschen ermöglichte, begünstigte, duldete oder nicht unterband, machte sich wegen Kuppelei strafbar.
Meine Mutter als Puffmutter im Gefängnis? Niemals! Da würde ich es mit meiner jugendlichen Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit lieber in einem Hotel versuchen. In einem Hotel? Ich könnte mich noch heute bepinkeln, wenn ich daran denke, mit welchem Trara sie uns damals hochkant aus dem Hotel warfen. "Sie sind nicht verheiratet? Ja, schämen Sie sich denn nicht?!" Liebe war auch für unverheiratete Heteros ein schmutziges Geheimnis und musste im Dunkeln und heimlich erledigt werden.

Im Dunkel lag auch das Geheimnis der Schwangerschaft. Erst erklärte uns niemand wo’s lang geht, und wenn‘s dann schief ging, musste man heiraten oder abtreiben. Aber Abtreibung war – ihr werdet es erraten – bei Zuchthausstrafe verboten. Also ging man zur Kurpfuscherin oder Engelsmacherin – das waren die Frauen mit den langen Stricknadeln und der scharfen Seifenlauge – von denen viele im Gefängnis und einige im Selbstmord landeten.

Oder kann sich noch jemand daran erinnern, dass eine Ehefrau gesetzlich zur unentgeltlichen Hausarbeit verpflichtet war und ohne die Erlaubnis ihres angetrauten Göttergatten weder eine andere Arbeit annehmen, noch die Arbeitsstelle wechseln, noch ein eigenes Bankkonto eröffnen durfte. „Unsinn!“ werdet ihr sagen. „Wo gab‘s denn so etwas? Vielleicht irgendwo im feudalistischen Orient. Aber doch nicht bei uns!“ Falsch gedacht! Das war deutsches Gesetz!

Liebe Freunde der geschliffenen Worte: Ich will hier nicht den Nostalgiker spielen. Und ich weiß, dass ich als alter Knacker mit meinem Text auch nicht an die modernen Rap- und flotten Poetry-Texte der anderen, meist jugendlichen Schreiberlinge herankomme. Euer Geschmack ist heute woanders zu Hause. Okay! Aber es liegt mir am Herzen, einmal kurz und in wenigen Minuten an ein paar Aspekte zu erinnern, die ihr heute als "selbstverständlich" anseht und nicht mehr darüber nachdenkt; die aber vor etlichen Jahren, auch noch in der späten Entwicklung unserer bundesrepublikanischen Kapital-Demokratie, verboten waren und unter Strafe standen.

Und wenn sich daran in den letzten Jahren etwas verbessert hat, dann waren „wir Alten“ daran nicht unbeteiligt. Denn wir haben uns nicht mit uns selbst oder spielerisch mit unserem IPhone beschäftigt, sondern haben engagiert den Mund aufgemacht und die Verhältnisse verändert. Im - aber vor allem außerhalb des Parlamentes. Spätestens ab 1968 und bis heute!
Die Welt von gestern hat Verbesserungen nicht freiwillig an die Welt von heute abgegeben. Und die Welt von heute wird sie nicht freiwillig an die Welt von morgen und übermorgen übergeben. Wir sollten uns also darum kümmern und weder den Kopf in den Sand stecken, noch glauben, "das wird sich schon irgendwie von alleine ergeben...".

"Selbstverständlich" ist nur der Tod. Was zwischen Leben und Tod passiert, haben wir in der Hand und können es verändern und verbessern. Ich wollte nur mal kurz daran erinnern ...

Michael Kuss (Berlin)

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Kommentare (3)

Drachenmutter Es kann gar nicht oft genug an die Tatsache erinnert werden, dass unsere Generation es war, die diese Freiheiten für uns und die Generationen nach uns erkämpft hat. Und heute werden wir von viele jungen Menschen für dumm verkauft. Es ist eine Schande.

Liebe Grüße,
woelfin
ehemaliges Mitglied solche "alten Erinnerungen" noch mal zu lesen! Als für meinen Sohn der Wechsel in die weiterführende Schule anstand, war es gerade gesetzlich erlaubt, dass eine Mutter ihr Kind in die entsprechende Schule anmelden "durfte"! Als der faule, aber hochintelligente (142 IQ) Bursche zum 2. Mal sitzen zu bleiben drohte, habe ich ihn notgedrungen umgemeldet. 10 Jahre später behauptete er, er habe sich selbst umgemeldet - als Teenie!

Ich glaube, das geht selbst heute noch nicht lt. Gesetz ...
LG Uschi
Maritt sie war nett zu lesen, Deine Geschichte. Und sie endet mit einem bemerkenswertem Satz:
"Die Welt von gestern hat Verbesserungen nicht freiwillig an die Welt von heute abgegeben." Oh ja, wie wahr.
Ich würde statt Verbesserungen vielleicht lieber Veränderungen einfügen. Das ist jedoch unwichtig.

Wie entsetzt sind wir doch, wenn 2 junge Menschen auf einer Bank sitzen und jeder hat nur mit seinem Smart-Phone zu zun.
Die heutige Generation spricht nicht mehr miteinander !!!!

Wir haben Recht, aber die jungen Leute sehen das ganz anders. Es gibt bestimmt noch viele solcher Beispiele.....und Dein "Erinnern"..... kommt richtig an.

Besten Gruß von Maritt

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