auch in 2019 noch aktuell

Autor: ehemaliges Mitglied

                 Man sieht vieles so, wie man es gern hätte. Und man lebt einer Gewohnheit, die nicht gestört werden darf. 

                 Morgens kommen sie: zwei Raben, die sich auf den höchsten Zweig eines lebenden Baumes setzen. Nebenan steht ein toter Baum, der täglich durch das Fenster hereinschaut, als wolle er um etwas bitten. Die Vögel schonen ihn. Oder wissen sie, wo ihnen die größere Sicherheit geboten wird? Bei Regen kommen sie nicht. Nur die rot- und gelb-bäuchigen kleinen Vögel wippen unverdrossen auf den Meisenknödeln unterhalb der Fenster am blattlosen Baum. Und zwei schlanke Tauben auf dem Boden sind zufrieden mit dem, was von oben herunter fällt -, denn sie kennen ihr Gewicht, das die baumelnden Futterbällchen nicht tragen würden.
 
                 Es regnet, es regnet. Heute gibt es keinen Himmel. Heute darf man seine Vorsätze vergessen und sich allenfalls verabschieden.

                 Man sieht, was man sehen möchte. Kleine Knospen an den Ästen des Baumes, dessen Zweige vor den Fenstern schaukeln und der bald schon müßte über und über in Blüte stehen. Später kämen dann die Bienen, Hummeln und Wespen, und man würde hinter ihnen herjagen, um sie zu verscheuchen, ehe die Katze ihre Pfoten hebt, um mit einem sanften Schlag die Bewußtlosigkeit der Honig-Sammler als persönlichen Sieg zu verzeichnen. Ach besiege dich doch selbst, anstatt dir Unschuldiges zu wählen. Feige bist du -, und für schlaflose Nächte schiebst du die Schuld daran anderen zu. Verwirrt ist dein Kopf, und schreiben kannst du nicht, und du verfaulst an den Bildern, die du herstellst ..., unzählige ..., wozu. In Büchern stecken Lesezeichen, weil du über die ersten Seiten nicht hinaus gekommen bist, weil du das nächste in die Hand nahmst und das nächste – und immer unter dem Druck stehst, es doch nicht mehr zu schaffen.
 
                 Hier gehst du deine letzten Schritte. Jetzt bist du wieder traurig.

                 Manchmal nimmst du ein Staubtuch zur Hand, um über die Bücher zu wischen, die sich ungelesen stapeln. Dann wieder die Bilder. Noch mehr, noch mehr -, wozu. Am katathymen Bild-Erleben bist du gescheitert. Der Teppich ist verrutscht. Alles ist nun wieder lebendig geworden. Hinausgehen wolltest du -, doch deine Ausreden rinnen vom Himmel: es regnet. Es regnet auch heute wieder.

                 Die frische Luft ist angenehm, wenn ich auf dem Balkon meine Beine auf dem kleinen Gerät auf und ab bewege. Aber die eigene Luft wird dann bald knapp, und Kopfschmerzen werden zum Maß einer angeblichen Anstrengung.
                 
                 Man sollte hinausgehen. 
                 Drüben ist der Weg nun zugewachsen. Man kann die Hunde nicht mehr sehen, wenn sie sich gegenseitig begrüßen oder bekläffen. Unten ging ein Mann vorbei, dessen Gesicht aussah wie eine Totenmaske. Vielleicht war es ja eine. Mein Freund, der alte Baum am Waldrand, hat noch einmal versucht, seine Krone zu schmücken, aber es sind nur mehr ganz kleine Blättchen geworden, die den Vögeln keinen Schutz bieten. Sie meiden ihn und wiegen sich auf saftigen Zweigen woanders.

                 Es ist die Zeit der Mini-Käfer und kleinen Mücken, die hereinkommen und gleich wieder hinaus wollen – durch die geschlossenen Fenster. Noch gibt es keinen wolkenlosen Himmel: es sind dort oben die Berge, die man hier in der Niederung nicht findet. Heute schwimmen sie eilig nach Osten, und ein mittlerer Wind läßt noch immer frösteln. Der Baum vor dem Fenster sieht schmutzig aus, seit die rosa Blüten dem Luftzug nachgegeben haben und sich von den Ästchen lösten, um sich unten zu einem Teppich zu versammeln. Flüstern sie? Dann schwemmt der Regen sie bräunlich auf, und sie vermengen sich mit dem Erdboden. 

                 Man sollte hinausgehen.    
                 Aber man ist ein Kellerkind. Und geht nicht hinaus. Zieht die Gardinen zu – und stellt die Heizung wieder an. 

                 Wird es in diesem Jahr keinen Sommer geben?









 


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Kommentare (1)

Syrdal


Nun ja, die Erzählweise hat was, fängt ein, zieht den Leser weiter mit Formulierungen, die ganz und gar nicht alltäglich daher kommen. Sie malen Bilder, imaginär sichtbare Bilder, eben katathym... ohne sich in ein klar erkennbares Ganzes zu formen. Vieles ist gesagt, doch bleibt es im Sinnhaften offen... so weit offen, dass die „Botschaft“ sich nur schemenhaft zu zeigen vermag.
Der interessierte Leser bleibt suchend, so wie

Syrdal 


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