Am Pranger
Alter Pranger an der Maria-Magdalenen-Kirche in Lauenburg/Elbe
(Nach einem Dokument von 1752 ebendaher)
Es ist Nachmittag, die große Glocke hat gerade zweimal angeschlagen. Kein Windhauch regt sich, die Augustsonne brennt unbarmherzig in die Mauernische der Kirchenmauer hinein. Nichts stört das Schweigen, kein Vogel singt, der Friedhof an der Kirche liegt in tiefem Schweigen.
Was aber ist das? Ein tiefes Stöhnen klingt durch die Mittagsglut.
»Wasser!«
Leise Worte aus rauer, ausgedörrter Kehle dringen vom Südportal der Kirche her.
»Bitte Wasser, bitte!«
Spröde aufgesprungene Lippen schaffen es kaum, Worte zu formulieren.
Auf dem kreisrunden Granitblock neben dem Kirchenportal sitzt eine junge Frau. Um ihren Hals ein Eisenring mit einem schweren Schloss. Von einer Krampe in der Wand nebenan führt eine eiserne Kette zu diesem Halsring.
Die Kleidung der jungen Frau ist ärmlich, ein grob gewirkter grauer Rock, eine eben solche Bluse, die vielfach geflickt und gestopft ist. An den Füßen grobe Wollstrümpfe und Holzpantinen.
Seit Sonnenaufgang sitzt sie nun schon auf diesem Steinblock, und es ist noch weit bis zum Sonnenuntergang! Was war ihr Verbrechen, dass sie zu solch einer Strafe verurteilt wurde? Wir kennen die Anklage nicht.
Aus historischen Quellen jedoch ist bekannt, dass ledige Frauen und Mädchen, die ein Kind geboren hatten, zu dieser Kirchenstrafe verurteilt wurden! Die Kinder, Bastarde, wie man sie nannte, wurden in Waisenhäusern untergebracht. Und die Väter der Kinder? Es ist nicht bekannt, dass auch nur ein einziger von ihnen jemals bestraft wurde!
Grausames Schicksal von Frauen, die oft nichts anderes wollten, als Zuneigung und ein wenig Liebe, vielleicht auch etwas Hilfe zum Überleben? Dann jedoch als große Sünderinnen abgestempelt wurden.
Welch eine Welt, voller kirchlicher und religiöser Vorurteile, voller Ressentiments gegenüber all jenen, die nicht in das Schema passten.
Stunden später sitzt die junge Frau immer noch auf diesem Pranger. Durch Sonnenbrand und Schweiß hat das Halseisen ihren Hals vollkommen aufgeraut, jede Bewegung des Kopfes schmerzt unsäglich.
Der unerträgliche Durst hat schließlich dazu geführt, dass sie fast bewusstlos auf dem Prangerstein zusammengesunken ist, nur die jetzt straff gespannte Kette verhindert ein Umfallen des Körpers.
Zwei Friedhofsbesucherinnen mittleren Alters gehen gegen Abend am Kirchenportal vorbei.
»Na Gesa? Hast endlich genug von‘ne Hurerei?«
Boshafte Worte fliegen zu der Sünderin:
»Mein'n Mann lässt du jetzt sicher in Ruh, nich?«
»Wasser!« flüstert die Frau auf dem Stein, »bitte, bitte Wasser!«
»Nu hol dir doch wat, da is doch der Brunn’n!« lästert die eine Frau und spuckt dem Menschenkind am Pranger ins Gesicht.Höhnisch kichernd und gackernd entfernen sich die beiden.
Bald geht die Sonne unter. Dann wird der Büttel die junge Frau von ihren Qualen erlösen. Aber das seelische Leid wird erst dann richtig anfangen! Ganz gewiss!
Wie bin ich doch froh, dass es seit Mitte des 19.Jahrhunderts keinen Pranger mehr gibt, niemand muss sich noch öffentlich demütigen lassen, ob nun schuldig geworden oder nicht, ob Delinquent oder Familienangehöriger.
Keiner wird heute mehr an den Pranger gestellt, wir leben alle in einem Rechtsstaat!!
Oder?
Vielleicht aber sind die Pranger von heute die »sogenannten«
sozialen Netzwerke? Darüber sollte man vielleicht einmal nachdenken!
©2010 by H.C.G.Lux
Kommentare (2)
Ja, als ich das alte Dokument vor Jahren auf dem Kirchenboden fand, war ich tagelang wie gelähmt. Aber dann den Bogen zur Gegenwart zu finden, war gar nicht schwer dieses Thema begleitet uns ja - wie Du schon anmerktest - jeden Tag.
Danke für Deine Sicht der Dinge,
ich grüße Dich,
Horst
Lieber Pan, das ist eine erschütternde Geschichte…
Aber abschließend hast du sehr richtig den Bogen zur Gegenwart gespannt. – Heutige Pranger sehen halt nur anders aus, haben keine rostige Kette und keinen eisernen Ring um den Hals, sie sind aber mindestens so quälend und lebenszerstörend.
Wie viele Suizide gibt es z.B. bei Teenagern, die von ihren „Userfreunden“ zu Tode gemobbt werden, wieviele Menschen verlieren ihre Arbeitsstelle, weil sie irgendeinem Entscheider „nicht genehm“ sind, weil sie anders denken oder gar einer anderen Partei angehören, wie viele Menschen werden aus welchen Grund auch ausgegrenzt, geächtet, verspottet… Nein, lieber Pan, unsere heutige Zeit ist in dieser Hinsicht bei weitem nicht besser als das Mittelalter, nur die modernen Pranger sind gut getarnt und die „Strafe“ vollzieht sich oft irgendwo im Verborgenen, im Untergrund, aber sie vollzieht sich mit mindestens so schlimmen Folgen wie ehedem.
LG
Syrdal