Zitternd und weinend saß die Frau vor dem geduldig zuhörenden Seelsorger, der ihr, als sie ihr Geständnis abgelegt hatte, einige Ave Maria als Hausaufgabe auferlegte, bevor er sie mit ein paar wohlwollenden Worten entließ. Mit einem noch nie gekannten Hochgefühl des Freiseins verließ die Frau die Kirche. Was war nur geschehen? Sie hatte Sünden gebeichtet, die bereits vierzig Jahre zurück lagen - heute war sie fast 70 - und für die sie bereits zig - mal im Gebet reuig um Abbitte gefleht hatte und sich schon lange mit dem Herrgott im Reinen vermeinte. Aufarbeiten sagt man wohl heute dazu. Aber dieses prickelnde Gefühl der Freiheit hatte sie nie dabei empfunden. Es war, als hätte man ihr ein längst verkapseltes Geschwür entfernt, mit dem sie zwar gelernt hatte zu leben, aber das doch scheinbar wie ein schwerer Sack auf ihrer Seele gelegen war. Nun hatte sie diesen Sack ausgeschüttet, und zwar nicht in einer Ecke ihres Schlafzimmers oder im Wohnzimmer beim Kaffeekränzchen sondern im Beichtstuhl, der Vorkammer der Müllhalde Gottes. Jetzt, da sie sich von dem Unrat befreit hatte, wurde ihr bewusst, dass sie das alles hätte früher haben können. Jahrzehnte langes Schuldbewusstsein wäre ihr erspart geblieben, wenn sie über die wahre Bedeutung und Tragweite der Beichte informiert gewesen wäre. Woher eine solche Aufklärung hätte kommen sollen, wusste sie allerdings nicht. Sie war in einem protestantischen Hause aufgewachsen, in dem über alles, nur nicht über Religion oder den Glauben gesprochen wurde. Selbst war sie mit dreizehn aus der Kirche ausgetreten, nachdem ein Pfarrer ihr hatte weißmachen wollen, dass der heilige Geist eine Taube sei. “Sie meinen das doch wohl symbolisch”, wandte das naseweise Mädchen ein. Darauf entbrannte ein Glaubenskrieg zwischen ihr und dem Geistlichen, der in der Taube den zu Fleisch gewordenen Heiligen Geist sah und die logischen Einwände des Mädchens als Ketzerei abstempelte. Seither waren für sie die protestantische Lehre und die Kirche schlechthin kein Thema mehr. Irgendwo in ihrem Herzen hatte sie einen Platz für den Herrgott und besonders für Jesus freigehalten, den sie seit ihrer frühesten Kindheit liebte und verehrte. Um sich ihm nahe zu fühlen, suchte sie ihn in der Natur, der Kunst und besonders in der Musik. Doch eines Tages, als sie schon eine reife Frau war, genügte ihr dieser passive Glaube nicht mehr. Sie hatte keine Ruhe, keinen Frieden geschweige denn Glück in ihrem Leben finden können. Alles schien sie falschgemacht zu haben und es hatte nicht viel gefehlt , und sie wäre in einer Nervenheilanstalt gelandet. Hilfe für ihre seelischen Nöte fand sie nirgendswo, wusste auch garnicht, wo sie diese hätte suchen sollen. Ihre Familie hatte ihre eigenen Probleme, irgendwelche Beratungsstellen gab es anno dazumal noch nicht und wahre Freunde hatte sie auch keine. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie einsam der Mensch doch ist, wenn er in Not ist. Natürlich überlegte sie sich auch, einen Pfarrer aufzusuchen, doch dazu fehlte ihr der Mut. Als letzten Ausweg sah sie noch eine Psychotherapie, doch woher sollte sie das Geld nehmen? Es folgten Jahre der Suche nach der Wahrheit, denn eine solche - sie war davon überzeugt - müsse es doch geben. Zweimal ackerte sie sich durch die Bibel, ohne großen Nutzen daraus zu ziehen, im Gegenteil: das Durcheinander ihrer Gedanken wurde eher größer. Sie näherte sich einer Sekte, die aber nur eine abschreckende Wirkung auf sie hatte. Sie war nicht auf der Suche nach Gehirnwäsche und Einschränkung ihrer Persönlichkeit, sondern suchte doch die Freiheit durch Wahrheit. Etwas innere Ruhe fand sie durch Yoga und Meditation, doch angekommen, das wusste sie, war sie immer noch nicht.. Um nicht so allein zu sein, ging sie unter Menschen und schloss sich einem wohltätigen Verein an, dessen Mitglieder alle Katholiken waren. Zwar nahm man sie mit Wohlwollen und einem gewissen Interesse auf, doch sie fühlte sich nicht zugehörig. Wenn gebetet wurde, stand sie unbeteiligt daneben, und wenn ein Kirchenbesuch vorgeschlagen wurde, zog sie es vor, zu Hause zu bleiben. In den dreißig Jahren, da sie in dieser südländischen Stadt lebte, hatte sie nie den Fuß in eine Kirche gesetzt oder einem Geistlichen ihre Tür geöffnet. Als sie jedoch wieder einmal gebeten wurde, mit den Vereinskolleginnen einen Gottesdienst zu besuchen, gab sie nach. Nicht etwa aus einem inneren Bedürfnis heraus, sondern aus einem Gefühl der Solidarität. Alles war ihr fremd in dieser Kirche: die Athmosphäre, die Riten, die Sprache. Um niemanden mit ihren negativen, kritischen Gedanken zu stören, konzentrierte sie sich auf die Figur des Heilands. Nur ER war ihr vertraut. Eine Stunde saß sie so in Gedanken verloren. Als sie nach Hause ging, fühlte sie sich seltsam erfüllt. Noch konnte sie dieses Erlebnis nicht einordnen, nahm sich aber vor, von nun an öfters die Kirche zu besuchen. Ihre ursprüngliche Abneigung verwandelte sich langsam in eine Akzeptanz, aus der nach und nach der Wunsch nach Zugehörigkeit entsprang. Über Jahrzehnte aufgebaute Mauern begannen zu bröckeln und Bilder aus ihrer frühesten Kindheit tauchten auf: Bilder des Vertrauens, der Hingabe, der Sehnsucht nach Gott. Noch fiel ihr das Beten schwer, lieber sang sie, so als ob Töne schneller und sicherer ihr Ziel erreichten. Fortwährend verstand sie wenig von dem Inhalt der Messe und nahm daher nur mechanisch an ihren Riten teil. Aber sehr bald genügte ihr das nicht mehr, denn weiterhin war sie von der Gemeinschaft ausgeschlossen. Wenn die Gläubigen die Hostie empfingen, blieb sie mit Tränen in den Augen auf ihrem Platz zurück. So kam es , dass sie den Entschluss fasste, Katholikin zu werden. Es folgte ein erstes klärendes Gespräch mit dem Pfarrer, der ihr als allererstes den neuen Kathechismus in die Hand drückte. Einmal wöchentlich sprachen sie über die wichtigsten Aspekte des katholischen Glaubens, über die Sakramente und die Bedeutung der Kirche. So wichtig diese Zeit der Vorbereitung auch war, sie hatte nur einen Gedanken: so schnell wie möglich die erste Kommunion empfangen zu können, um die in Aussicht gestellte Symbiose mit Gott zu erfahren. Der Herr Pfarrer und der Kathechismus klärten sie auf: keine erste Kommunion, ohne vorher die Sünden gebeichtet zu haben! Sie fürchtete, diese Hürde nicht überspringen zu können. Tag und Nacht setzte sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinander, alte, hässliche, längst vergessene oder verdrängte Bilder stiegen in ihr auf, eine Inventur, wie sie sie so noch nie vorgenommen hatte. Der Gedanke, über all diese Hässlichkeit mit einem mehr oder weniger fremden Menschen reden zu müssen, ließ sie panisch werden. Aber zurück wollte sie nicht mehr. Der Preis war zu hoch. Sie sprach über ihre Ängste mit dem Geistlichen, der ihr nahelegte, sich nicht in zerfleischende Selbstvorwürfe hineinzusteigern, sondern ruhig und vertrauensvoll dem Moment der Beichte entgegenzusehen. Und dann war es soweit. endlich durfte sie einen Teil ihrer Vergangenheit ablegen wie einen alten Schuh, der drückte und sie am Gehen hinderte. Ohne Zögern erzählte sie dem Pfarrer alles, was ihr in den Sinn kam. Sie spürte keinerlei Scham, von den dunklen Seiten ihres Lebens zu reden. Von dem Tag an konnte sie auf die Menschen fröhlich und gelassen zugehen. Endlich war sie frei! Sie fühlte sich geliebt und angenommen und ließ andere an diesem Wunder teilhaben: an dem ewigen Wunder der alles heilenden Liebe.
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