Der Jahrmarkt

    Irgendwo in Italien, in einem kleinen verschlafenen Bergdorf, steht am Marktplatz eine Kirche, die den Namen "Santa Elisabeta" trägt. Sie ist eine zweihundert Jahre alte würdevolle Dame, die im Laufe der Jahre jeden einzelnen Dorfbewohner von der Geburt bis zum Tod begleitet hatte.
    In früheren Zeiten herrschte auf dem Platz noch reges Treiben. Hier trafen sich die Dorfbewohner, um sich die Neuigkeiten des Tages auszutauschen, diskutierten die politische Lage und die letzten Sportereignisse.
    Die kleine Kirche denkt wehmütig an die vergangenen Zeiten zurück, als sie noch im Mittelpunkt des dörflichen Geschehens stand. Viele Generationen hatte sie getauft, gefirmt, getraut und beerdigt und ihre dicken Mauern hüten die Beichtgeheimnisse aller reuevollen Sünder. Ja, das waren noch Zeiten! Jetzt fühlt sie sich schwach, alt und recht unnütz, denn der Dorfplatz begrüßt sie jeden Tag mit gähnender Leere. Nichts mehr geschieht auf ihm. Die Dorfbewohner haben nach und nach ihre karge Heimat verlassen, um anderorts sich eine Existenz aufzubauen. Zurückgeblieben sind nur die alten und gebrechlichen Leute, die darauf warten, dass der Herrgott sie in die Ewigkeit hinübernimmt.

    Doch heute ist ein besonderer Tag. Man feiert Mariens Himmelfahrt, ein großes Volksfest hierzulande. Um es gebührend zu begehen, hat man den Dorfplatz in einen großen, bunten Jahrmarkt verwandelt. An allen Seiten haben Straßenhändler Stände und Tische aufgebaut mit vielem schillernden Krimskrams und mit köstlichen Leckereien.  Im Schatten der großen Linde hat man rohe Tische und Bänke aufgestellt.

    Von überall her sind die Auswanderer angereist gekommen, um wie  jedes Jahr dieses Sommerfest in ihrer alten Heimat zu feiern.

    Als die Glocken zur heiligen Messe rufen, strömen die Dorfbewohner und die es einmal waren in die Kirche, die aus den Nähten zu platzen droht, aber für einen Tag hat sie ihre alte Selbstachtung wiedergefunden. Wie in vergangenen Zeiten, als Jung und Alt noch zwischen ihren Mauern Trost und Kraft suchten.
    "Ach, wenn es doch wieder einmal so werden würde!" seufzt sie. Aber sie weiß, dass dies eine Illusion ist, denn wenn auch die letzten Alten gestorben sind, würde sich niemand mehr an diesem rauhen und armseligen Ort niederlassen wollen.

    Der Priester spricht den Segen aus, die Gemeinde singt ein letztes Lied zusammen und dann drängt die Menge auf den Platz hinaus, doch die Sonne mit ihren unbarmherzigen, sengenden Strahlen scheucht bald die Menschen in die kühlen Häuser.

    Erst gegen Abend wird es wieder munter vor der Kirche. Verführerischer Duft von gegrilltem Fleisch und Würsten weht zu ihr hinüber. Die kleine Kirche freut sich für ihre "Kinder", dass sie wieder einmal alle versammelt dieses schöne Fest feiern dürfen. "Danke, Herr, dass ich diesen Tag erleben darf!" betet sie und späht in den Gesichtern der Vorbeilaufenden nach strahlenden Kinderaugen, nach Glück und Zufriedenheit. Aber was sie sieht ist nur eine drängende, sich schupsende Menge von grölenden und kichernden Menschen, die meckern, lästern oder zanken. Selbst die Kinder quängeln, weil sie nicht alles was sie sehen, kaufen dürfen. Auch die Händler schreien um die Wette, denn jeder will heute das beste Geschäft machen. Niemand freut sich über das was er hat sondern hastet weiter, um noch mehr zu ergattern. Vergeblich wartet die Kirche auf ein frisches Lachen, aber sie hört nur grelles Kreischen und lautes Brüllen.

    Ein altes Mütterchen ist vor dem Kirchenportal stehen geblieben und betrachtet den Trubel und den Wirrwar. "Ja, sind die alle von Gott verlassen?" murmelt sie vor sich hin und humpelt kopfschüttelnd weiter. "Santa Elisabeta" würde ihr gern zustimmend mit dem Turm zunicken, aber aus Angst, er könne dann ganz herunter fallen, lässt sie es lieber. "Was ist nur aus meiner geliebten Gemeinde geworden!" denkt sie betrübt und ihre Enttäuschung lässt sie in ihren Mauern erbeben. "Sind das die unschuldigen Geschöpfe, die ich getauft habe? Die gelobt haben, Christi Wort zu verkünden und danach zu leben, und die ihren Bund für´s Leben geschlossen haben mit dem Versprechen, für immer nur die Liebe walten zu lassen? Ich kenne sie nicht wieder, das sind nicht meine Kinder!" Müde geworden, etwas zu suchen, was sie doch nicht findet, kehrt sie still in sich zurück und aus ihren starken Mauern sickern dicke Tränen.

    Ihr Blick sucht das Antlitz des hölzernen Heilands, zu dessen Füßen seit zwei Jahrhunderten die Menschen beten, klagen und flehen und bei dem auch sie jetzt Trost suchen will. Doch als sie die Augen des Herrn Jesus sieht, kommt keine Klage mehr über ihre steinernden Lippen, sondern eine große Scham erfüllt sie: in den Augen des Herrn stehen Tränen, die langsam sein ganzes Gesicht benetzen.
    "Mein lieber Jesus, so habe ich Dich noch nie gesehen. Ich wollte mich bei Dir beklagen über all die Trostlosigkeit, Unersättlichkeit und Unzufriedenheit meiner Gemeinde, aber jetzt erkenne ich, wieviel größer Dein Schmerz über die Habgier der Menschen sein muss."

    Der Herr antwortet ihr mit belegter Stimme: "Meine Kinder verwechseln ihr Dasein immer mehr mit einem einzigen, großen, buntschillernden Jahrmarkt. ´Das Leben ist so kurz` sagen sie, ´da müssen wir alles mitnehmen und auskosten, was nur geboten wird!`
    Seit zweitausend Jahren verheiße ich ihnen die Ewigkeit, aber keiner mag so recht daran glauben. Sie setzen mehr Vertrauen in die Sterne, in Wahrsager und Orakel als in mein Wort. Welcher liebende Vater aber würde seine Kinder zum ewigen Tode verdammen? Nur der Teufel könnte sich solch eine Grausamkeit ausdenken. Die ganze Natur beweist immer wieder, dass es keinen Tod sondern nur Verwandlung zu neuem Leben gibt. In den Schriften habe ich gesagt, dass jeder einen himmlischen Körper erhält, der noch viel schöner sein wird als der irdische.
    Wenn es die Ewigkeit nicht gäbe, welchen Sinn hätte dann das hiesige Leben? Dann wäre auch die Schöpfung kein Ausdruck meiner Liebe, sondern eher einer bizarren Laune entsprungen. Und genau das ist es, was mich so traurig macht: dass sie an meiner Liebe zweifeln. Immer häufiger wird mir vorgeworfen, nicht in die Geschehnisse der Welt einzugreifen. Aber ein Vater, dem wirklich an der Zukunft seines Sprösslings etwas liegt, macht ihm nicht seine Hausaufgaben. Er mag ihm Ratschläge erteilen oder Anweisungen geben und vor allem Vorbild sein, aber die Arbeit, die muss sein Kind schon selber erledigen. Nicht einmal meine Tränen darf ich ihnen zeigen, um sie nicht in ihrer freien Wahl zu beeinflussen.
    Es sind nicht die Schriftgelehrten und die Neunmalklugen, die mir meine Geheimnisse entlocken, sondern die, die reinen Herzens und guten Willens sind. Denen schenke ich die Kunst des Sehens und des Wissens. Doch meistens lächelt man über sie, die "geistig" arm sind, das heißt, die wissen, dass sie nichts aus sich haben oder sind, sondern dass alles aus mir und durch mich entstanden ist.
    Den großen, bunten Jahrmarkt haben die Menschen auf den Trümmern meiner Werte aufgebaut, aber er macht sie weder satt noch glücklich. Wie Mäuse im Käfig hetzen sie umher und drehen sich um sich selbst. Und das werden sie so lange tun, bis sie nicht den Schlüssl gefunden haben, der sie aus ihrer Ohnmacht und ihrer Blindheit befreit."

    Trotz der schwülen Augustnacht fröstelte es der alten Kirche bis in ihre Grundmauern.
"Was meinst Du, werden sie den Schlüssel finden?" wendet sie sich noch einmal mit verzagter Stimme an den Herrn. Aber der Heiland, der sich wieder in sein göttliches Schweigen gehüllt hat, bleibt ihr die Antwort schuldig.