Ruhelos humpelte Else in ihrer kleinen Wohnung auf und ab und kramte mit ihren zittrigen Händen mal hier mal dort in ihren Siebensachen herum, die überall verstreut lagen. " Wo ist bloß mein Autoschlüssel?! - Ich muss Käte anrufen, sie weiß sicher wo er ist," dachte sie, als sie am Telefon vorbeikam. Sie hatte Glück, ihre Freundin war zu Hause.

   "Ja, hier ist Else. Du, mein Autoschlüssel ist wieder weg. Er ist mir geklaut worden!"
    "Else, Du hast ihn sicher wieder verlegt, glaub es mir. Kein Mensch kommt auf die Idee, dir deine Schlüssel zu stehlen!. Frag doch deine Nachbarin, sie wird dir beim Suchen helfen."
    "Das ist eine gute Idee, danke, danke vielmals."

Frau Krause, die Nachbarin, kam und fand mit geübtem Blick in wenigen Minuten den Schlüssel zwischen der Wäsche im Schrank.

    Dann war Else wieder allein. Mit dem Schlüssel in der Hand saß sie auf der Bettkante und starrte ins Leere.

    Seit sie so vergesslich  und tüddelig geworden war, hatte sie nur noch selten Besuch. Auch ihre Familie kam nicht mehr, seit sie sie hinausgeworfen hatte. 
    "Du brauchst einen Vormund!" hatte ihr Schwager gesagt. "Du brauchst jemanden, der auf dich aufpasst." Aber Else, die immer eine streitlustige Person gewesen war, überhäufte ihn mit Schimpfworten, bis er das Weite suchte.
    "Geldgierige Aasgeier sind das," schimpfte sie vor sich hin, wenn sie an ihre Verwandten dachte.   

    Hin und wieder kamen noch alte Freunde und Kollegen vorbei, die aber nur ratlos und betroffen dem Verfall der alten Dame gegenüberstanden. Alle hatten sie den selben Gedanken: "Wenn nur mir das nicht passiert!"
Wenn Else ihnen dann von ihren Ängsten und nächtlichen Visionen erzählte oder in Weinen ausbrach, überfiel sie eine ohnmächtige Hilflosigkeit, und sie hatten es eilig, das Haus wieder zu verlassen.

    Während Else so dasaß, dachte sie an die schwarzgekleideten Herren, die sie jede Nacht besuchen kamen. Sie schienen eine Art Jury zu sein, der sie Rede und Antwort stehen musste.
    "Wie lange muss ich denn noch so leiden?" hatte sie die ehrwürdigen Herren gefragt.
    "Wenn du alle Aufgaben erfüllt hast, kommen wir dich holen", war die ernste aber nicht unfreundliche Antwort.

    Tränen liefen über ihr frühzeitig gealtertes Gesicht. Wie fühlte sie sich doch allein! Sie wollte zu Käthe fahren, um ihr alles zu erzählen.

    Schnell warf sich Else ihren Mantel über und verließ das Haus. Zu dem Auto, das vor dem Eingang stand, passte der Schlüssel nicht. Sie versuchte es noch bei fünf weiteren. Endlich hatte sie es gefunden!

    Eine halbe Stunde später wurde der alte VW an einem Straßengraben am Stadtrand gefunden. Der Körper der Fahrerin, einer kleinen alten Dame, lag auf dem Lenkrad; man vermutete Herzversagen.

    Eine große Schar von Trauernden hatte sich um das Grab versammelt. Von überall waren sie gekommen, auch von weit her. Der Tod hatte sie aus ihren Verstecken geholt - nicht die Tränen einer alten, eisamen Frau.