Als die Mutter ihm die Haustür öffnete, stürmte Paulchen an ihr vorbei und schmiss seine Schultasche in die Flurecke, dann rannte er in sein Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. “ Was ist denn mit dir los?” Die Mutter war ihm nachgegangen.  “Sagt man denn nicht mal mehr guten Tag, wenn man nach Hause kommt?” Ihre Stimme war aber mehr besorgt als vorwurfsvoll, denn einen triftigen Grund mußte ihr Jüngster haben, dass er sich so aufführte. “Na, nun mal raus mit der Sprache! Wer hat dich denn heute geärgert?” “Ach, niemand. Aber die Lehrerin hat den superblöden Einfall gehabt, dass wir einen Aufsatz über die Sünde schreiben sollen.
    Dabei weiß ich noch nicht mal richtig, was das Wort bedeutet. Ist irgendwas  Kirchliches oder so. Da kann man doch nichts Vernünftiges drüber schreiben. Ich jedenfalls kann das nicht.“ 
    “ Schlag am besten im Wörterbuch nach, was dort über die Sünde gesagt wird. Oder denk über deine eigenen Missetaten nach , die geben Stoff genug für ein ganzes Buch. Nun komm aber zum Mittagessen, es gibt Kartoffelpuffer.” 
    Nicht einmal sein Lieblingsgericht konnte Paulchen in gute  Laune  versetzen. “Vielleicht kann mir Felix helfen, immerhin geht er schon ins Gymmi”. Aber sein Bruder warf ihn recht unsanft aus seinem Zimmer:”Siehst du nicht, daß ich zu tun habe?” schrie er ihn an. “ Der und sein dämlicher Computer “ dachte Paulchen erbost, “ seit er Tag aus  Tag ein vor diesem Kasten sitzt , kann man kein vernünftiges Wort mehr mit ihm reden. Paulchen zerfloss vor Selbstmitleid. Aber dann siegte doch die Vernunft und er überlegte sich, wie und wo er Hilfe bekommen könnte. 
    Vielleicht sollte er in eine Bibliothek gehen, dachte er, verwarf aber  sofort wieder diese Idee, denn zu Büchern hatte er gar kein gutes Verhältnis. Dann blieb nur noch seine Oma, doch die wohnte in einer anderen Stadt. Der Aufsatz sollte aber schon Übermorgen abgeliefert werden. Bei diesem Gedanken kamen ihm die Schweißperlen : er müßte unbedingt handeln! “ Ich habs´! Ich gehe einfach Leute auf der Straße interviewen. Da muss doch jemand sein, der alles über die Sünde weiß!” 

    Am nächsten Morgen ging Paulchen zur gewohnten Zeit aus dem Hause, allerdings mit einer leeren Schultasche auf dem Rücken. Nur das Pausenbrot und etwas Erspartes hatte er eingesteckt. Seine Mutter hatte Gottseidank nichts gemerkt, sie hatte sich nur über seinen großen Appetit zum Frühstück gewundert. 
     Als Paulchen auf der Straße stand, überlegte er kurz, ob Schuleschwänzen wohl eine Sünde sei. Im Wörterbuch hatte er nämlich gelesen, dass die Sünde ein Verstoß gegen das Gesetz Gottes sei. Nun war die Frage, ob es Gott wichtiger fand, dass er heute in die Schule ging, dafür aber morgen keinen oder einen nur sehr schlechten Aufsatz ablieferte oder dass  er loszog, um so viel Material wie möglich zu sammeln, damit er eine gute Arbeit abgeben konnte. Paulchen entschied sich fürs letztere.

    Mit der Linie 5 fuhr Paulchen bis an die Stadtgrenze, um das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden. Etwas frische Luft in der freien Natur konnte nicht schaden. 
     An der Endstation, einem kleinen Vorstadtsbahnhof, stieg Paulchen aus und begab sich auf die Wanderschaft. In einem Garten sah er eine alte Frau, die Unkraut jätete. Er fasste Mut und sprach sie an: “Entschuldigen Sie, darf ich Sie mal interviewen? Ich möchte gern wissen, was die Sünde ist. Ich  soll nämlich einen Aufsatz darüber schreiben.” Die alte Frau richtete sich auf, soweit ihr krummer Rücken es erlaubte. 
“ Sünde ist all das, was mich nachts nicht mehr schlafen läßt. Und was ich wie ein schweres Gepäck in meinem Puckel herumtrage. Alles was uns hässlich und böse macht, ist Sünde. Du bist noch jung und kannst dein Leben genießen. Aber warte bis du so alt bist wie ich und die Sünde dich in die Knie gezwungen hat! Da vergeht auch dir das Lachen.” 
    Paulchen bekam es eilig, denn vor der verbitterten Alten fürchtete er sich ein wenig. 
“ Vielen Dank für die Auskunft und tschüß,” rief er der Frau noch zu und machte sich wieder auf den Weg. 

    Ein paar Straßen weiter begegnete er einem Zeitungsjungen. “ Hallo, du! Kann ich dich mal was fragen? Weißt du was Sünde ist? “ Der Junge sah ihn fassungslos an,  grinste dann aber gutmütig. Oder war es Mitleid? ”Nee weißt du, da muß ich passen, da solltest du wohl lieber zum Herrn Pfarrer gehen, der kennt sich mit sowas aus. Gleich da vorn ist die Kirche, da würd ich mal anklopfen.” Paulchen war von diesem Rat nicht überaus begeistert, denn er war noch nie im Leben einem Geistlichen begegnet, außer bei seiner Taufe natürlich, aber daran konnte er sich ja nicht mehr erinnern. Vielleicht hatte der Zeitungsjunge recht: immer an die Quelle muss man gehen, wenn man was wissen will.
   Der Herr Pfarrer sei nicht da, sagte ihm eine Frau, die wohl seine Sekretärin war. Aber du darfst gerne im Kathechismus nachlesen was Sünde ist . “ Ach danke schön, ist aber nicht nötig, ich komme vielleicht ein andermal wieder”. 

    Paulchen stand wieder auf der Straße, ohne auch nur ein bisschen klüger geworden zu sein. Wut stieg in ihm auf, als er an seine Lehrerin dachte, die ihn in diese aussichtslose Situation gebracht hatte. Wenn das nicht Sünde war, kleine Jungen so zu quälen! Er entschloss sich, erst einmal eine Pause zu machen.

    Nicht weit entfernt fand er einen kleinen Park und setzte sich dort unter einen Baum. Es war Mittagszeit, die Sonne brannte heiß vom Himmel und Paulchen war müde vom Herumrennen. Er aß einen Apfel und sein Pausenbrot, dann legte er sich ins warme Gras um nachzudenken. Dabei fielen ihm die Augen zu. Plötzlich gewahrte er, dass er nicht allein war und riss die Augen wieder auf. Tatsächlich! Vor ihm stand ein blonder Junge ganz in Weiß gekleidet mit einem großen, goldenen Schwert in der Hand und von einem silbernen, strahlenden Licht umgeben. Paulchen wagte  es nicht sich zu rühren, er wusste nicht, was er von dieser Erscheinung halten sollte. Doch der seltsame Junge sah ihn aufmunternd an: “Wolltest du mich nicht interviewen? Ich bin der Einzige, der alles über die Sünde weiß. Stelle mir nur deine Fragen.” 
    “ Ja, also; - was  genau ist eine Sünde und woran erkennt man sie?” “ Ach, das ist ganz einfach: alles was anderen und einem selbst wehtut, ist Sünde.” “Und all die kleinen schwarzen Männchen in meinem Gehirn, die mich immer stören, gehören die auch dazu?” “Du meinst deine schlechten Gedanken? Ja, sie sind sozusagen die Wurzel, aus der alles Böse auf dieser Welt entspringt. Sie sind Schuld daran, dass die Menschen sich streiten, dass sie krank werden und dass es Kriege gibt.” “Und kann man gar nichts gegen sie tun?” “ Oh doch, sehr viel sogar. Siehst du mein Schwert hier? Damit kann man sie alle umbringen.” “ Das ist doch Sünde!” Paulchen war sichtlich empört, aber der blonde Junge lachte nur. “Nein, dieses ist die einzige Waffe, mit der man niemandem Schaden oder Schmerzen zufügen kann. Aber ihre Kraft ist so groß, daß sie durch Wände, über die Grenzen und durch den Weltraum wirken kann.” “Aber wenn du jemanden erschlägst, fließt doch Blut.” Paulchen war ein hartnäckiger kleiner Bursche. Wieder lachte der Junge. “Mit meinem Schwert erschlägst du keine Menschen sondern nur die Sünde. Kaum hast du sie berührt, zerschmilzt sie wie die Butter in der Sonne.” 

    “Die Sache fing an, Paulchen zu interessieren. “Aber ich kann mich doch nicht mit so einem Riesenschwert sehen lassen. Wenn das die Bullen, oh, entschuldige, ich meine die Polizisten sehen, nehmen sie mich fest wegen unerlaubtem Waffenbesitz. Aber auch die Leute, die halten mich doch für übergeschnappt, wenn ich mit so einem Ding rumlaufe.” 
    “Nichts  einfacher als das. Du brauchst das Schwert nur zu verschlucken, dann merkt kein Mensch etwas davon. Nur den Griff läßt du draußen, aber der ist unsichtbar. So hast du es immer gleich zur Hand wenn du es brauchst.” “Was, ich soll das Schwert verschlucken? Das ist wohl nicht dein Ernst! Ich bin doch kein Fakir! Ich zerschneid’ mir ja die Kehle!” “Keine Angst, das Schwert ist weich und süß wie das beste Vanilleeis. Du darfst mal an der Spitze lecken.” Sehr vorsichtig und skeptisch berührte Paulchen die goldene Spitze. “Tatsächlich. Schmeckt ganz fantastisch! Wo kann man denn so ein Schwert kaufen? Das ist doch bestimmt sehr teuer.” “Nein, kaufen kannst du es nirgends, das bezieht man nur bei mir. Es ist nämlich meine Erfindung. Seit zweitausend Jahren gebe ich es all denen, die es bei mir bestellen.” Als er das sagte, sah er ein wenig traurig aus, fand Paulchen. “Würdest du mir wohl auch eins geben? Heutzutage muss man bewaffnet sein, bei all ´dem was passiert. Das sagt mein Vater auch. Der würde Augen machen: eine Waffe, die alles Böse vernichten kann, ohne Blut zu vergießen!”      “Hier, ich schenke es dir. Solange du es bei dir trägst und es regelmäßig gebrauchst, kann dir nichts geschehen. Wenn du es aber verlierst oder es in eine dunkle Ecke stellst und es verstauben läßt, bist du genau so machtlos und schwach wie vorher.

    Paulchen nahm das Schwert in seine Hand. Wie leicht es war! Ja, es hatte überhaupt kein Gewicht. Paulchen sah auf, um sich bei seinem Freund zu bedanken, aber es war niemand mehr bei ihm. Er wollte ihm nachrennen, aber das Schwert hinderte ihn beim Laufen. Schnellstens ließ er es in seinem Mund verschwinden. Er hatte noch nie so etwas Köstliches gegessen! Sein kleines Herz schien vor Freude in seiner Brust zu hüpfen. Dann zog er los, den seltsamen Jungen zu suchen und lief straßauf, straßab, doch ohne jeden Erfolg

    Vom vielen Laufen müde geworden, fuhr Paulchen in die Stadt zurück. Was sollte er nur der Mutter sagen? Kein Wort würde sie ihm glauben, wenn er ihr die Wahrheit erzählte. “Bist du dumm!” schimpfte er sich aus, “du hast doch das Schwert, da kannst du es gleich mal ausprobieren.” Es wirke auch durch die Wände hindurch, hatte sein neuer Freund gesagt. “Hoffen wir das Beste!”, so ganz überzeugt war er nicht, aber als er vor der Haustür stand, fasste er energisch den Griff des Schwertes und schlug zu. Dabei wurde ihm ganz warm ums Herz, seine Angst war verflogen und er war glücklich, wieder zu Hause zu sein.
    Es war seine Mutter, die auf sein Klingeln ihm die Tür öffnete. Sie strahlte vor Freude, als sie Paulchen sah, denn, als er nicht von der Schule heimgekommen war, hatte sie schon das Schlimmste befürchtet. Doch kein Vorwurf kam über ihre Lippen. “Es hat funktioniert!” jauchzte Paulchen innerlich.

     Als er im Bett lag, kam wie immer seine Mutter, um ihm einen Gutenachtkuss  zu geben. Da konnte er sein Geheimnis nicht mehr bei sich behalten und erzählte ihr, was ihm widerfahren war. Die Mutter hörte aufmerksam zu, dann sagte sie mit bewegter Stimme: “Ja, weißt du denn, wem du da begegnet bist?” Aber Paulchen, der die Augen schon geschlossen hatte, antwortete ihr nicht mehr, denn vor ihm stand wieder der blonde Knabe mit dem goldenen Schwert, der ihn fest und eindringlich ansah :  “Ich bin Jesus, der Sohn Gottes, und meine Waffe ist die Liebe.”

     Paulchens Aufsatz bekam die höchste Note und wurde in der Klasse laut vorgelesen. Dass er Jesus höchst persönlich kennengelernt hatte, wollte ihm allerdings niemand glauben. Das enttäuschte ihn sehr. Nun verstand Paulchen, warum der blonde Knabe so traurig ausgesehen hatte.