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THEMA: Pinocchio
3 Antwort(en).
Gila
begann die Diskussion am 09.11.01 (17:22) mit folgendem Beitrag:
Wer kennt es nicht, das Märchen vom hölzernen Bengele, dessen Nase bei jeder Lüge länger wurde?
Zum Thema "Lügen" habe ich vorgestern einen interessanten Artikel in der Zeitung gelesen. Er ist ein bisschen lang, aber lesenswert.
>>Wer nicht lügt, wird einsam: Jeder Mensch flunkert im Schnitt alle acht Minuten. Wer immer die Wahrheit sagt, ist schnell einsam, meinen Forscher. Früh morgens vor dem Badezimmerspiegel. Er: "Ich sehe heute scheußlich aus." Sie: "Stimmt."
Versuchen Sie es mal - ein Tag ohne Lüge. Zunächst im Badezimmer. Später im Büro, wo Sie einen Geschäftsbrief statt mit "Sehr geehrter" wahrheitsgemäß mit "Alter Stinkstiefel" beginnen und Ihrem Vorgesetzten auf die Frage "Wie geht’s" erklären, sie hätten keine Lust zu arbeiten. Nach Feierabend dann, Sie sind eingeladen, sagen Sie Ihren Gastgebern, dass der Rinderbraten wie halbgarer Hamster schmeckt. Ganz ehrlich. Am Ende eines Tages ohne Lüge werden Sie sehr einsam sein.
"Mit jemandem, der notorisch die Wahrheit sagt, könnte niemand leben. Aber zum Glück muss das ja auch keiner", urteilte der Schriftsteller Mark Twain. Irmtraud Tarr stimmt ihm zu. Die Psychotherapeutin und studierte Theologin aus Rheinfelden bei Basel hat die soziale Funktion der Lüge untersucht und darüber ein Buch geschrieben: "Von der Unmöglichkeit, ohne Lüge zu leben." Danach würde die reine Wahrheit die Gattung Mensch in Gefahr bringen. "Eine Welt ohne Lüge wäre das Ende aller Beziehungen, der privaten, der beruflichen und der öffentlichen", sagt Tarr.
Lüge als Zeichen von Intelligenz: Noch bis vor wenigen Jahrzehnten hätte dieses Urteil zu Tarrs öffentlicher Verurteilung geführt. Damals waren es allein Moraltheologen und Philosophen, die sich mit der Lüge beschäftigten. Die meisten von ihnen teilten die Ansicht Immanuel Kants: "Wahrhaftigkeit in Aussagen ist formale Pflicht des Menschen gegen jeden, es mag ihm oder einem anderen daraus auch noch so großer Nachteil erwachsen." Die Sozialpsychologen, Kommunikationsforscher und Soziobiologen, die heute das Feld beackern, zeigen sich eher geneigt, eine Lüge als Zeichen von Intelligenz zu deuten. "Das Lügen-Lernen kennzeichnet wichtige Schritte bei der Entwicklung des planvollen Denkens, des Einfühlungsvermögens und der sozialen Intelligenz", urteilt etwa Charles Ford, Psychiatrieprofessor an der Universitätsklinik in Birmingham, Alabama.
Gerade im Umgang mit Menschen, die uns besonders nahe stehen, kann unbedingte Ehrlichkeit zu jeder Zeit tief verletzen. "Die Wahrheit ist wie ein Kleid. Ich muss mich fragen, ob sie der andere tragen kann", meint Irmtraud Tarr. "In Zweifelsfällen stelle ich das Gebot der Nächstenliebe über das Gebot, nicht zu lügen." Wer jedoch Falschaussagen verbreite, um seinen Partner und andere planvoll zu schädigen oder zu betrügen - wie es Hochstapler oder Intriganten tun - handele verwerflich. "Er ist nicht schlau, sondern antisozial", meint Irmtraud Tarr. Und manches Mal gar ein pathologischer Fall. Von "Pseudologia phantastica" sprechen Wissenschaftler, wenn Menschen nicht mehr bemerken, dass sie chronisch schwindeln. "Sie erfinden eine neue Biografie und halten die für wahr, weil sie die Realität nicht ertragen können", berichtet Tarr aus Erfahrung mit eigenen Patienten.
Auch Kleinkinder können lügen: Aus purer Berechnung zum eigenen Vorteil die Wahrheit zu verdrehen, ist gefährlich. Gerade in Zeiten globaler und totaler Kommunikation, in der Lügen schneller in die Welt gesetzt werden als jemals zuvor. Und ebenso schnell wieder entlarvt werden. Dieser Umstand beendete frühzeitig Politiker-Karrieren. (Barschel: "Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort") Und er zerstörte, wonach sich Menschen am meisten sehnen: vertrauen zu können. So rangiert gleich der ganze Stand der Berufspolitiker nach spektakulären Falschaussagen einiger Vertreter in der öffentlichen Wahrnehmung auf der Stufe von Gebrauchtwagenhändlern. Sagen Lügenforscher, die wie die meisten Wissenschaftler als vertrauenswürdig gelten. Noch bis vor kurzem gingen Psychologen davon aus, dass Kindern unter sechs Jahren die Flunker-Fähigkeit abgeht, weil sie zwischen Wahrheit und Vorstellung nicht unterscheiden könnten. Ein Irrtum, wie jüngere Untersuchungen nahe legen. So schiebt schon das kleine Kind, das Muttis liebste Vase zerbrochen hat, die Schuld auf die Katze. Es biegt sich die Wahrheit zurecht aus Angst vor ihren Folgen. Angst betrachtet Irmtraud Tarr als Wurzel aller Lügen. Wir flunkern, weil wir fürchten, den Partner zu verlieren, verachtet oder nicht beachtet zu werden.
In jedem vierten Gespräch eine Lüge: Diese Angst muss groß sein. Nach einer Studie der University of South Carolina in Los Angeles schummelt und schwindelt jeder Mensch im Durchschnitt alle acht Minuten. Eine weitere Untersuchung der University of Virginia veranschlagt in jedem vierten Gespräch eine Lüge.
Das hier ist keine: US-Forscher werteten Videobänder von Bill Clintons Lewinsky-Anhörung aus. Sie stellten fest, dass bei jeder Lüge die Präsidenten-Nase durch Bluteinschuss anschwoll. Wer also andere der Lüge bezichtigt, sollte sich mal an die eigene Nase fassen.<< (Kathrin Lenzer, Rheinische Post vom 07.11.01)
Ob der letzte Absatz tatsächlich der Wahrheit entspricht? Würde mich ja mal interessieren, ob es dazu wissenschaftliche Erkenntnisse gibt. Im ST gibt es doch viele kluge Köpfe, die sicher dazu etwas sagen können.
Der Artikel ließ mich schmunzeln, hat mich aber auch nachdenklich gestimmt. Ich glaube, Irmtraud Tarr hat Recht mit ihrer These, oder?
Gila
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Ingrid Steiner
antwortete am 11.11.01 (22:53):
Hallo Gila,
scheint als ob Lüge heutzutage kein Thema mehr ist -:) Dreh die Frage um, gibt es noch Situationen, in denen man erwartet, daß jemand ehrlich ist?
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Gerda
antwortete am 16.12.01 (15:16):
Eine nette Glosse! Nur - nachvollziehen kann ich es nicht, dass (fast?) alle Menschen im Grunde so oft das Bedürfnis haben, eine Grobheit zu sagen, diesen Drang dann zurückhalten und glauben, „lügen“ zu müssen, sei es aus Verlustangst, oder um nicht zu verletzen oder Konfrontationen zu vermeiden (Beispiele „ halbgarer Hamster“, „Stinkstiefel“, „scheußlich aussehen“). Ich meine, diese Menschen vereinsamen auch dann, wenn sie „Nettigkeiten“ austeilen. Kommunikation ereignet sich nicht nur auf der verbalen Ebene. Ich meine damit, dass Schmeicheleien bald durchschaubar sind und oft mehr abstoßen als vielleicht unangenehme „Wahrheiten“. Es kommt auf die Verpackung an.
Was ist überhaupt eine „Lüge“ ? Wohl das Gegenteil von Wahrheit – aber gibt es die „absolute“ Wahrheit überhaupt? Gibt es nicht eher viele subjektive „Wahrheiten“, die nur für diesen Augenblick Gültigkeit haben, also veränderbar sind? Wenn wir das annehmen können, dann gibt es auch keine „absolute“ Lüge. Nun, das sind philosophische Spielereien. Für mich ist eine „Lüge“ (ein grässlich moralisierendes Wort) dann gegeben, wenn eine bewusste Täuschung vorliegt. Eine Bekannte von mir hat ihre alte kranke Mutter ein halbes Jahr lang belogen, indem sie den Tod ihres Bruders, der im Ausland lebte, verschwieg und an seiner statt Briefe an die Mutter schrieb.
Lügen sind wertneutral. Es sind die Taten oder Absichten, die hinter den Lügen stehen, die ihnen den Stempel „hilfreich“, „schädigend“, oder „belanglos“ aufdrücken und selbst diese Werte sind subjektiv.
„Gerade bei Menschen, die uns nahe stehen, kann unbedingte Ehrlichkeit zu jeder Zeit tief verletzen“ – da kann ich nicht ganz folgen. Zum einen – was ist das überhaupt, die „unbedingte Ehrlichkeit“? Zum anderen verbinden uns doch herzliche Gefühle wie Wertschätzung, Zuneigung, Vertrauen, Freundschaft, Liebe usw. mit jenen Menschen, die uns nahe stehen! Es ist doch ein großer Unterschied, ob mir irgendein belangloser Mensch sagt: “Ich sehe heute scheußlich aus“ oder ob das eine Freundin oder mein Lebenspartner ist. In dem einen Fall würde ich irgendein positives Blabla machen, also „lügen“, im anderen Fall aber würde das Gespräch ganz anders verlaufen, nämlich liebevoll-ehrlich-hilfreich. Umgekehrt würde man doch auch sicher nicht jedem Xbeliebigem auf die Frage „Wie geht’s?“ das echte Befinden mitteilen.
Es gibt also allgemein anerkannte Floskeln der Höflichkeit im Small Talk oder im Geschäftsleben („Sehr geehrte…“, „hochachtungsvoll“) , die ich nicht als Lügen bezeichnen würde. Der/die Angesprochene weiß schon, was er/sie davon zu halten hat. Tarrs Satz „Die Wahrheit ist wie ein Kleid – ich muss mich fragen, ob sie der andere tragen kann“ gefällt mir sehr. Ich möchte noch ergänzen: Auch ich muss mich fragen, ob es notwendig ist, dem Anderen dieses Kleid zu verpassen. Letztlich ist es nur MEIN Kleid, meine Sichtweise, die ich dem anderen aufsetze.
Und noch etwas: So manche Lüge oder bittere Wahrheit ergibt sich aus einer ungeschickt gestellten Frage. Der Mangel an sozialer Kompetenz kann also auch am Fragenden liegen…
Zur Nase des Präsidenten: Von unserem langjährigen Bundeskanzler Kreisky hieß es, jedes Mal, wenn er an seine Brille greift, würde er lügen. Es muss also nicht die Nase sein, die verrät, die Zeichen der Körpersprache sind vielfältig und unterschiedlich. Aber selbst der Lügendetektor kann nur jene Lügen aufdecken, die beim Lügner eine gewisse Anspannung (Aufregung, Angst) verursachen. Gruß, Gerda
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MechtildTh
antwortete am 16.12.01 (17:43):
Die Geschichte von Pinocchio hat uns wie die meisten, guten Kindergeschichten viel zu sagen. Doch würde ich die vielen Floskeln, die ich im Laufe des Tages benutze nicht als Lügen bezeichnen. Man braucht halt Umgangsformen, die das Miteinander regeln. Auch morgens sollte man nett zu sich sein und mit den harten Wahrheiten noch etwas warten.:-)) Wenn man jedoch nur Floskeln benutzt im Leben zu allen Menschen, ist es schwierig zu unterscheiden, wer es ehrlich mit Dir meint und wer nur freundlich zu Dir ist, weil er was von Dir will. - Das macht einsam! Man sollte schon den Mut haben ehrlich zu den Menschen zu sein, die einem wichtig sind, auch auf die Gefahr hin, den einen oder den anderen Menschen zu verlieren. - Nur dann sind die anderen Menschen auch ehrlich zu Dir. Zu Bekannten muss man nicht ehrlich sein, es lohnt sich meist nicht und bringt nur unnötig Stress und Streit. Ich habe übrigens eine ziemlich lange Nase. :-))
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