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THEMA:   Gewalt an Deutschlands Schulen: Ein Phaenomen, das zusehends Schule macht

 9 Antwort(en).

Wolfgang begann die Diskussion am 04.02.04 (16:05) mit folgendem Beitrag:

Immer wieder wird berichtet von zunehmender Gewalt an vielen Schulen Deutschlands - jetzt wieder ein aktueller Fall in einer Schule in Hildesheim.

CHRISTIAN PFEIFFER, Leiter der Kriminologischen Forschungsstelle Niedersachsen und bis Anfang 2003 Niedersachsens Justizminister, meint, dass Gewalt typisch sei bei einer "[...] Zusammenballung von jungen Maennern, die zu den extremen Verlierern zaehlen und die sich selbst auch so einstufen." (Quelle... INTERVIEW ZU SCHUL-QUAELEREIEN: 'Systematische Abstumpfung', SPIEGEL ONLINE, 03.02.2004)

Was, meint ihr, ist die Ursache zunehmender Gewalt ? Oder, gibt es vielleicht gar keine zunehmende Gewalt, sondern nur eine zunehmende Berichterstattung darueber ?

Ich selbst tippe auf Letzteres... Aber so ganz sicher bin ich mir nicht. Es interessiert mich auch, wie das in anderen Laendern mit der Gewalt an Schulen ausschaut.


DorisW antwortete am 04.02.04 (16:41):

Pfeiffer sagt selbst in dem von dir zitierten Interview:
"Wir haben keinen Anstieg der Gewalt an Schulen. Das ist konstant auf einem durchaus beachtlichen Niveau. Nur die Anzeigebereitschaft hat zugenommen."

Als Leiter einer entsprechenden Forschungsstelle wird er ja über die entsprechenden Statistiken verfügen.

Auch die Anzeigebereitschaft ist also ein möglicher Grund für den subjektiven Eindruck, die Gewalt an Schulen nehme zu.

Generell bin ich immer erst mal geneigt, jegliches Lamento der Kategorie "Alles wird immer schlimmer / gewalttätiger usw." dem Umstand zuzuschreiben, dass man einfach immer mehr erfährt, je länger man lebt. Das eigene Weltbild wird im Laufe der Zeit mit immer mehr Mosaiksteinchen bereichert - hier ein Mord, dort eine Vergewaltigung, da eine Misshandlung... Das "Normale" macht eben keine Schlagzeilen und dringt nicht so ins Bewusstsein ein wie das Spektakuläre (das meistens darum spektakulär ist, weil es negativ ist). Hinzu kommt, dass bei jedem einschlägigen Vorfall ruckzuck eine Chronik ähnlicher Ereignisse aufbereitet und als Beilage serviert wird. Mit irgendetwas müssen die vielfältigen Medien schließlich rüberkommen.

Mit Sicherheit war es auch vor zwanzig, vierzig oder sechzig Jahren kein Zuckerschlecken, als Außenseiter/in einer Bande Halbstarker ausgeliefert zu sein.


utelo antwortete am 04.02.04 (17:18):

Ich erinnere mich, dass auf unserem Schulhof der Volksschule jeden Tag in den Pausen Schlägerei war. Ich sehr oft mittendrin. Die LehrerInnen griffe nur ein, wenn es zu doll wurde und ernsthafte Verletzungsgefahr bestand. Dann hörten wir aber auch auf, weil wir noch Respekt vor dem Lehrpersonal hatten. Und wenn einer der Kämpfer am Boden lag, gab der andere auf. Es wurde sich die Hand gereicht und es war gut.
Heute hat sich die Gewalt verändert. Es wird brutaler geprügelt, es werden Kleinere angegriffen, es werden andere Schüler "abgezogen", es wird Geld erpresst mit Prügel usw.
Wenn die Lehrer etwas sagen, wird ihnen ebenso Prügel angedroht und auch schon etliche Male ausgeführt. Ich habe das selbst gesehen, als ich meine Vizeenkelin von der Schule abholte. Die Lehrer werden beschimpft, verhöhnt, sogar angespuckt. Das ist auch Gewalt. Aber offensichtlich ist niemand in der Lage diesen Kindern und Jugendlichen Einhalt zu gebieten. Im Fernsehen, auf Videos usw. wird ihnen ja gezeigt, wie es geht. Wie gesagt, Gewalt an Schulen gab es immer schon, nur leider hat sie sich vom -meistens- fairen Kampf zu unfairer Schlägerei gewandelt.


BarbaraH antwortete am 04.02.04 (21:37):

Ich weiß nicht, ob die Gewalttaten in den Schulen tatsächlich zugenommen haben oder ob der Eindruck eher an der Berichterstattung und den besseren Informationsmöglichkeiten liegt. Eine der möglichen Ursachen für derartige Gewalttaten sehe ich in unserem dreigliedrigen Schulsystem. Hier im Norden (Schleswig-Holstein) ist die Hauptschule inzwischen zur Restschule geworden. Eltern, die ihre Kinder auf dem Gymnasium oder der Realschule für überfordert halten, geben sie lieber zur Gesamtschule als zur Hauptschule, da sie dort die Möglichkeit haben, trotzdem noch zu einem besseren Schulabschluss zu kommen. Insofern besuchen praktisch nur noch Schüler die Hauptschule, in die keine Erwartungen mehr gesetzt werden.

Welche Berufsaussichten haben bei uns junge Menschen mit einem Hauptschulabschluss? Was für ein Gefühl muss es sein, bereits als junger Mensch kaum eine Perspektive für ein gelungenes Leben zu sehen?

Natürlich ist das kein Grund, Mitschüler zu quälen. Man muss sich jedoch fragen, wie verhindert werden kann, dass aus jungen Menschen wahre Monster werden. Ich denke, wenn Schüler mit Lernproblemen gezielte Förderung und dadurch die Möglichkeit zu einem guten Schulabschluss erhielten, könnte man einen großen Teil dieser gewaltbereiten Schüler auf andere Bahnen lenken.


mart antwortete am 05.02.04 (01:29):

Interessanter Artikel auf

Internet-Tipp: https://www.sueddeutsche.de/panorama/artikel/84/26058/


doris16 antwortete am 07.02.04 (02:56):

Gewalttätigkeit gibt es nicht nur in deutschen Schulen, sondern sowohl in Kanada als vor allem auch in den USA. In vielen Oberschulen gibt es jetzt sogenannte Schulliaison (Polizei)Offiziere, deren Anwesenheit zur allgemeinen Sicherheit beitragen soll. Trotzdem, meist allerdings nicht auf dem Schulgelände, werden Kinder zu Tode geprügelt. Bei manchen dieser Vorfälle sind Rassenvorurteile der Anstoss. Ein "farbiges" Mädchen wurde mit Zigaretten verbrannt und dann ertränkt. Die Täterin bekam zwei Jahre Jugendhaft. Immer wieder wird in der Presse auch vom Selbstmord eines(r) Schülers(in) berichtet, der/die die ständige Quälerei nicht länger ertragen konnte. Eltern und Lehrer erfahren davon meistens erst aus dem Abschiedsbrief. Soziologen, Sozialarbeiter, Psychologen zerbrechen sich den Kopf, worauf die zunehmende Gewalttätigkeit und Grausamkeit zurückzuführen sei? Sie haben allerhand Theorien, aber keine definitiven Lösungen zu bieten.


jako antwortete am 07.02.04 (05:38):

Es wundert mich, dass es so schwer ist zu verstehen, warum die Gewalt unter der Jugend immermehr zunimmt (habe gerade über einen Fall von Mobbing in der KK berichtet). Unsere Gesellschaft krankt doch weltweit an Mangel von Liebe und Geborgenheit. Gewalttätige Kinder schaffen sich durch ihr Verhalten m.E. nur ein Ventil für ihren Leidensdruck, dem sie aus eigener Kraft nichts Positives entgegenzusetzen haben. Woher sollen sie es auch nehmen, wenn ihnen in der eigenen Familie die Vorbilder fehlen.


Wolfgang antwortete am 07.02.04 (10:49):

Ich moechte auf eine UNICEF-Studie aufmerksam machen: "Child Maltreatment Deaths in Rich Nations", UNICEF-Innocenti Report Card Nr. 5, Florenz, August 2003. Hier ein paar Ergebnisse:

- In den OECD-Laendern [das sind die sogenannten entwickelten, reichen Industrielaender] sterben jedes Jahr rund 3.500 Kinder unter 15 Jahren an den Folgen koerperlicher Misshandlung und Vernachlaessigung. Jede Woche sind dies in Deutschland und England zwei Todesfaelle, in Frankreich drei, in Japan vier und in den USA 27.

- In einer kleinen Gruppe von Laendern (Spanien, Italien, Irland und Norwegen) kommen Todesfaelle auf Grund von Misshandlungen eher selten vor. In fuenf Laendern (Belgien, Tschechien, Neuseeland, Ungarn und Frankreich) liegt die Rate pro 100.000 Kinder vier bis sechs mal hoeher. In drei Laendern (USA, Mexiko und Portugal) ist sie sogar zehn bis 15 Mal hoeher.

- Die Laender mit niedrigen Todesraten haben auch insgesamt niedrige Mordraten bei Erwachsenen. Umgekehrt weisen die Laender mit hohen Todesraten aufgrund von Misshandlungen bei Kindern auch hohe Mordraten bei Erwachsenen auf.

Das sind nur die von mir ausgewaehlten Ergebnisse der Studie... Es lohnt sich, die 10-seitige Zusammenfassung der Studie zu lesen (PDF, Acrobat Reader erforderlich, s. Link).

Internet-Tipp: https://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/Gewalt/unicef-gewaltstudie.pdf


gertzi antwortete am 17.03.04 (21:58):

Bei meiner nun jahrelanger Arbeit (mit Kindern und )Jugendlichen schöpfe ich meine Meinung aus einer Menge Beobachtungen und Erlebnisse. Gerne möchte jeder dem anderen die Schuld zuschieben. Wer ist Schuld? die Eltern? die Geselllschaft? die Lehrer, die Clique .....?

Kinder sind so, wie wir sie erziehen. Sie werden nicht böse und aggessiv geboren!
Es gibt keinen einzelnen "Schuldigen".
Auf einen Punkt möchte ich aber in diesem Zusammenhang besonders eingehen, denn ich denke, dass da die Wurzel des Übels liegt:

WIR haben verlernt, unseren Kindern
W E R T S C H Ä T Z U N G
vorzuleben, beizubringen, als wichtig zu erachten.......

Immer wieder allerdings darf ich erleben, dass in manchen Familien der Grundstein für ein soziales Zusammenleben gelegt wird. Diese Kinder raufen nicht, stehlen nicht, helfen einander, sind auch nicht aggressiv und es mangelt ihnen auch nicht an Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein. Sie haben es nicht nötig um jeden Preis aufzufallen!

Kann man nur hoffen,
- dass kommende Eltern sich wieder auf Wesentliches besinnen, Werte vermitteln
- die Erzieher/Lehrer/ Ausbilder sich wieder darauf besinnen Helfer, Ratgeber und Begleiter zu sein,
- Gleichaltrige nicht auschließlich konkurrieren, wer mehr "Alk" verträgt, besser zuschlagen kannn, die schlechtesten Noten hat ...
- der Einzelne Selbstwertgefühl und -sicherheit entwickelt, soziale und geistige Kompetenz anstrebt und sich als wertvolles Mitglied einer wertvollen Gesellschaft fühlen kann....
- dass der Staat notwendige Mittel zur Verfügung stellt, die Rahmenbedingungen dafür zu verbessern und bereits seinerseits sowohl den kinderreichen Familien als auch den zur Zeit "geprügelten" Erziehern WERTSCHÄTZUNG entgegenbringt.

In diesem Sinne:
Man soll die Hoffnung nicht aufgeben!


gertzi antwortete am 17.03.04 (22:11):

Vergessen habe ich noch, dass z.B. Schweden für uns dabei Vorbild sein könnte.
Nicht nur die PISA-Studie zeigt uns, dass dort leistungsbereite, glückliche, gewaltärmere ....Kinder/Jugendliche in Sicherheit und Geborgenheit zu mündigen, verantwortungsvollen erfolgsorientierten.... Erwachsenen heranreifen dürfen.
Jeder Mensch ist etwas Besonderes. man muss es nur wahrnehmen können/wollen ....