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THEMA:   Willensfreiheit und Egoismus

 19 Antwort(en).

Anne begann die Diskussion am 24.07.02 (22:52) mit folgendem Beitrag:

Guten Abend,
hier gab es mal ein Thema "Willensfreiheit", welches ich mit Interesse verfolgt habe. Für mich stellt sich die Frage, ob "Willensfreiheit" auch mit Egoismus zu tun hat.
Meine Situation: Ich bin sehr früh Mutter geworden und habe mich all die Jahre intensiv um meine Kinder gekümmert. Meine eigenen Bedürfnisse habe ich meistens zurückgestellt. Nun stehen sie auf "eigenen Füssen" und mein Mann und ich haben das Gefühl, einfach mal "raus" zu müssen. So haben wir uns entschlossen, von hier wegzuziehen, einfach mal was Neues auszuprobieren, in einer Gegend (ca.700km entfernt), die uns besser gefällt. Diese Idee brodelte schon lange in uns!
Unsere Kinder finden es "klasse", freuen sich mit uns.
ABER: Meine Eltern sind total geschockt. Sie sind schon älter (80 und 72J.) aber noch recht fit. Ich habe noch Geschwister, die auch in der Nähe leben, die im Notfall zur Stelle wären, und sich auch sonst um die Eltern kümmern.
Aber irgendwie geben meine Eltern mir das Gefühl, daß nur ich ihr "Sonnenschein" bin. Meine Eltern sind sehr auf uns Kinder fixiert, und haben wenig andere Kontakte.
Mich belastet das so, daß ich für unser Vorhaben kaum noch Freude empfinden kann.
Auf der einen Seite das Gefühl, meine Eltern im Stich zu lassen, auf der anderen das Bedürfnis, nach all den Jahren der "Entbehrungen" endlich die Freiheit zu haben, etwas zu verwirklichen, was wir uns lange erträumt haben.

Ich fühle mich so verdammt egoistisch!

Anne


Poldi antwortete am 24.07.02 (23:07):

Aus einer ähnlichen Erfahrung - allerdings nur mit der Mutter - heraus:

Nein, Du bist nicht egoístisch, Du lebst Dein Leben und hast ein Recht dazu.

Auch aus 700 km Entfernung kann man in einem Notfall zur Stelle sein. Mir scheint aber, darum geht es gar nicht. Es ist vielmehr eine Art von Besitzanspruch oder Verfügungsrecht oder das Eintreiben von nicht vorhandener Kindesschuld, die für ein hohes Maß von Egoismus der Eltern spricht.

Realisiert Eure Pläne!


kleinella antwortete am 24.07.02 (23:14):

Also, Anne, ich kann Dir nur Mut zusprechen, Euer Vorhaben in die Tat umzusetzen. Ich selbst hatte, vielleicht aus anderen Gründen, bereits ähnliche Gedanken. Ich kenne das Gefühl, wenn einem vermittelt wird, für alles und nichts irgendwie Schuld zu haben, und das von Kind an. Ich hoffe, ich gebe meinen Kindern nie dieses Gefühl.


pilli antwortete am 25.07.02 (15:16):

hi Anne,

manchmal mag ich das alles nicht glauben, was ich so lese.
die trennung zum elternhaus erfolgt doch recht früh, nicht immer sind studien- oder arbeitsort in der nähe des elternhauses. anteilnehmen klar, nette grüsse, telefonate und ab und an auch besuche...aber mehr? entscheidungen wo und wie ich lebe, die treffe ich schon alleine.

die gleichen entscheidungen treffen dann wieder meine kinder. ich werde informiert aber zustimmung? wieso sollte ich? woher das recht nehmen auf die entscheidung anderer einzuwirken? egoismus ist das falsche wort, vielleicht ist es abhängigkeit? wann, wenn nicht jetzt, willst du denn ein leben, so wie du es dir vorstellst? ist nicht jeder für sich selbst verantwortlich? deine eltern haben sich, wie du schreibst, auf die kinder fixiert. gut; ihre entscheidung!
die daraus resultierenden konsequenzen jetzt auf dich abzuwälzen, das ist zum einen erpressung und zum anderen egoismus und zwar in seiner reinsten form.

sie sind egoistisch und nicht du...


Helena antwortete am 25.07.02 (15:52):

Hallo Anne,

der Psychiatrie-Professor Kisker sagte: wenn man als Erwachsener mit eigener Familie sich den Eltern überrangig verpflichtet fühle, sei das eine "krankhafte Bindung an die Ur-Familie".

Also hör' nicht auf Deine gut versorgten und offensichtlich verwöhnten Eltern, sondern auf Deinen Mann und Dich. Das hat nichts mit Egoismus zu tun. Deine Eltern hätten Dich längst freigeben müssen.


Anne antwortete am 25.07.02 (20:49):

Hallo,
danke für eure Antworten, die mir Mut machen. Mein schlechtes Gewissen werde ich aber wohl so leicht nicht über Bord werfen können.

Es ist nicht so, daß meine Eltern mich die ganzen Jahre gegängelt haben. Sie haben selber lange Zeit in einer anderen Gegend gewohnt (schönere Landschaft, besseres Klima) , sind viel gereist, um sich dann in unserer Nähe niederzulassen, um uns im Alter bei sich zu haben.

Vorwürfe kommen auch nicht direkt, sondern eher subtil. Ich spüre die absolute Enttäuschung.

Wie es auch sei. Da muss ich jetzt durch!

Anne


Felix Schweizer antwortete am 25.07.02 (21:23):

Eltern, die es nicht schaffen, dass ihre gesunden Nachkommen selbständig werden, haben versagt. In der Natur werden Junge nach erreichen eines gewissen Alters sogar brutal verjagt. Gerade so müssen wir es auch wieder nicht machen.
Als ich mit 20 meine Ausbildung abgeschlossen hatte ... wehrte ich mich wehement gegen jede Bemutterung.
Ich erinnere mich an diesen Zeitpunkt, als ich meinen Eltern erklärte: " Bitte schaut mich nicht mehr als Kind von euch an ... sondern als selständiger Miterwachsener." Vorallem meine Mutter wollte dies am Anfang gar nicht einsehen ... musste es aber mit der Zeit auch.


Alfred antwortete am 25.07.02 (21:37):

@ Felix - Du kannst Dich "glücklich" betrachten! Nach Deinen anderen Verhaltens-Ausführungen mußt Du aber auch zugeben, daß eben gerade dieses, Dein Verhalten ja nicht "nur" als Charakter-STÄRKE anzusehen sein kann, auch die Umwelt-, also Erziehungs-, resp. Beispiel-Verhalten sind mitbestimmend gewesen... Wieviel %... welcher Ordnung zuzurechnen ?
;-)) und herzlichst
Alfred


Utelo antwortete am 26.07.02 (09:53):

Hallo Anne,
es ist nicht egoistisch, dir deine eigenen (Rest-)lebenswünsche zu erfüllen. Es ist egoistisch von den Eltern, die ihre erwachsenen und schon in Rente stehenden "Kinder" immer noch zu gängeln. Ich hatte gleiches, allerdings nur mit meiner Mutter. Immer zur Stelle -meistens kurz vor einem Urlaub oder einer anderen mir Spaß machenden Sache. Dann wurde sie krank und und und....
Meine Kinder haben oft gesagt, ich soll emich nicht so einspannen lassen, aber irgendwie habe ich zu lange gebraucht, um wirkliche "egoistisch" zu werden. Das war, als ich eine Krebserkrankung bekam und ich diese fast als Freund ansah, weil sie mir die Möglichkeit gab, nein sagen zu "dürfen", wenn sie wieder etwas wollte. Nun ist sie schon seit ca. 1 Jahr tot und ich bin frei und kann tun und lassen, was ich will, ohne schlechtes Gewissen.
Meinen Kindern werde ich so etwas nie zumuten, aber wir haben immer schon zusammen über alles gesprochen. Auch als sie kleiner waren, durften sie mir sagen, wenn ich zuviel von ihnen wollte und eben auch Kritik an mir ausüben. Und egoistisch sind doch alle Menschen. Wir können anderen nur etwas Gutes tun, wenn es uns selbst gut geht, also wir zufrieden sind. Und da kommt man nur mit etwas Egoismus hin.
Anne zieh mit deinem Mann um und macht euch ein schönes Leben. Das hat man sich verdient.


schorsch antwortete am 26.07.02 (10:15):

Ob Tiere oder Pflanzen - jedes Lebewesen beginnt irgendeinmal sein eigenes, von den Eltern unabhängiges Leben. Nur bei den Menschen gibt es einige Exemplare, die mit der Ablösung von den Eltern nicht fertig werden.


WANDA antwortete am 26.07.02 (17:17):

Viel häufiger noch gibt es die Exemplare, die mit der Ablösung von den Kindern nicht fertig werden.


Geli antwortete am 26.07.02 (18:27):

@ Anna,

ich verstehe Dich sehr gut! Seit mehr als 30 Jahren liegen zwischen mir und meinen Eltern ca. 1000 km, doch dieser subtile, leicht vorwurfsvolle Ton hat sich in all den Jahren nur unwesentlich gemindert.
Aber könnte es nicht vielleicht auch sein, daß sie Eure Pläne "in die falsche Kehle" gekriegt haben: sie ziehen in Eure Nähe, und dann zieht Ihr weg? Vielleicht glauben sie jetzt, daß Ihr ihretwegen wegzieht?

Ihr solltet Euch dadurch nicht von Euren Plänen abbringen lassen, aber vielleicht könnt Ihr eventuelle Mißverständnisse doch klären und Euren Eltern dadurch ein mögliches Gefühl des Verlassenwerdens nehmen.


Anne antwortete am 26.07.02 (21:53):

Danke für alle eure Beiträge!

Ich denke, daß es ein Mischung aus dem "nicht vollständig erfolgtem Abnabelungsprozess" und dem "Verlassenheitsgefühl" ist, und Geli trifft, glaube ich, ganz gut das, was meine Eltern empfinden.
Auf alle Fälle werde ich noch mit ihnen darüber reden, und ich hoffe, daß die Zeit die Wunden heilt.

Der Spruch: "Wenn die Kinder klein sind, gib ihnen tiefe Wurzeln, wenn sie groß sind, gib ihnen Flügel", den ich hier irgendwo im Forum gelesen habe, gefällt mir gut.
So sehe ich das Verhältnis zu meinen eigenen Kindern, kann aber den eigenen Eltern so ein Denken ja nicht aufzwingen, oder ihnen wegen ihrer Einstellung böse sein.

Irgendwie stelle ich auch fest, daß es zweierlei Menschen (auch jüngere) in meiner Umgebung gibt. Solche, die tiefe, unlösbare Wurzeln geschlagen haben, und solche, die das "fliegen" gelernt haben.
Die erstgenannten sind alle erstaunt, traurig und geschockt über unser Vorhaben, die zweiten finden es spannend und ermuntern uns.

Trotz allem: Man bleibt doch das Leben lang Kind seiner Eltern!

Grüsse von Anne


pilli antwortete am 26.07.02 (23:14):

@ Anne

einspruch!!!

"man" nicht, das zeigen ja die obigen beiträge. "Du" bleibst
"kind"und wie ich jetzt fast vermute, auch nicht ungerne...


Alfred Seeck alias wolkenull antwortete am 27.07.02 (09:27):

@ tschuldigung pilli ;-)) - wennsde so übalejen tust, so janz langsam - denn komste aber auch zu´s annere Ende! Ist aber nicht böse gemeint - bitte lach doch mal...


Ausnahmsweise ist Man hier im Kontext als "für die meisten von uns älteren Menschen mit der anerzogenen Haltung" zu verstehen, meinste nicht?

Möchte dazu auch aus eigener 37-jähriger Ehe- und Familien-Erfahrung noch etwas dazu beitragend bemerken:

Es ist doch so, daß die meisten jetzt älteren Mütter damals Kinder, noch bis 1970 in der Vorstellung, d.h. von der vor allem familiären Umwelt zu erhaltenden (konservativ), in bis dahin gültigen Überlebens-Mustern, erzogen wurden.
Wie soll diese bisher tatsächlich "eingebundene" also tradierte Frau sich jetzt, nach 4 oder 5 Jahrzehnten auferlegter "Pflicht-Erfüllung", von der bisher damit verbundenen "Groß"-Mutter Belohnungs-Vorstellung lösen können?

Ist schon ein Kreuz, mit der Ehe, Familie etc ect eine sogenannte Willensfreiheit zu erhalten und zum Ego-Ismus zu finden
Grüße A.


Anne antwortete am 27.07.02 (14:16):

Hallo,
@ pilli: man(n) nicht??? Frau schon *grins* Ja , ja, ich weiß, diese Verallgemeinerung ist nicht so passend. Ich bleibe auch bei mir selber ;-))

Den Satz meinte ich auch eher so, daß jeder doch irgendwie durch seine Eltern geprägt wurde (Nabelschnüre können furchtbar lang sein:-) und ich fühle eine gewisse Verantwortung ihnen gegenüber, da sie mir in all den Jahren nie etwas Böses getan haben. Ihre Traurigkeit ist ihr Weg zu zeigen, daß sie mich mögen. Wie Alfred denke ich auch, daß ihre eigene Erziehung und die Zeit, in der sie aufgewachsen sind, sie geprägt haben. Das können sie nun mal nicht ablegen, wie einen alten Mantel.

Sicher engt mich ihr Denken und Handeln ein, ich sehe aber diese Situation als Prozess, als Lebensabschnitt, aus dem ich lernen kann, und hoffentlich gestärkt hervorgehe. "Egoismus" als positiv zu sehen ist gar nicht so einfach!!!

Übrigens sind unsere Pläne keine Pläne, sondern eine Tatsache. Die Kisten sind fast alle gepackt. In 5 Wochen ist Umzug.

Grüsse von Anne


pilli antwortete am 27.07.02 (21:12):

@ Alfred

juuut, "man" dat is schon klar...aber
ich bin halt nicht "man";ich bin ich, "die" pilli! Und ich bin nicht kind meiner familie geblieben :-), meine "mamm"
würde sich zu tode erschrecken, wenn ich ihr das erzählen würde.("mamm" ist 79)
zu lachen habe ich reichlich, frau hat rechtzeitig für`s greisenalter vorgesorgt: 2 kegelclubs und als echt kölsches mädchen natürlich mitglied der ersten stunde eines karnevalsvereines, nette kunden und ab und an mit dem mann, dem ich erlaube, mich eine zeitlang zu begleiten.

aber, das geschieht selbstbestimmt und nicht egoistisch!

zum "ernsten" thema zeigt der nachfolgende text von Khalil Gibran vielleicht verständlicher, was ich Anne mitteilen wollte:

"Deine Kinder sind nicht deine Kinder,
sie sind Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst.

Sie kommen durch dich, aber nicht von dir,
und obwohl sie bei dir sind, gehören sie dir nicht.

Du kannst ihnen deine Liebe geben, aber nicht deine Gedanken,
denn sie haben ihre eigenen Gedanken.

Du kannst ihrem Körper ein Heim geben, aber nicht ihrer Seele,
denn ihre Seele wohnt im Haus von morgen,
das du nicht besuchen kannst, nicht einmal in deinen Träumen.

Du kannst versuchen, ihnen gleich zu sein,
aber suche nicht, sie dir gleich zu machen,
denn das Leben geht nicht rückwärts und verweilt nicht beim Gestern.

Du bist der Bogen
von dem deine Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden.
Lass deine Bogenrundung
in der Hand des Schützen Freude bedeuten."


liebe Anne,
ich wünsche euch eine saugute zeit!


Anne antwortete am 27.07.02 (22:26):

Pilli,
genau diesen Text habe ich vor ein paar Tagen beim Umzugsausmisten in einem alten Buch gefunden: "Bewußt fruchtbar sein" :-)) von 1975.

Nach diesen Zeilen habe ich im Zusammenleben mit meinen eigenen Kindern gehandelt, meine eigene fürchterlich streng katholische Erziehung immer vor Augen, und hoffe, daß meine 3 sich niemals mit einem schlechten Gewissen mir gegenüber abplagen müssen, nur weil sie ihr eigenes Leben leben.

Du scheinst ein gesundes Selbstbewußtsein zu haben, und Humor, Pilli. Bewundernswert!

Danke für die Wünsche, und ich denke, wir werden sie haben, diese saugute Zeit :-)) "Die Sonne ist immer da, auch wenn sie von den Wolken verdeckt ist"

Grüsse von Anne


WANDA antwortete am 28.07.02 (08:06):

@pilli, diesen Text habe ich seit Jahren in französisch auf geschöpftem Papier und gerahmt bei mir hängen, auch jetzt noch. Einen schönen Sonntag, Wanda


pilli antwortete am 28.07.02 (11:35):

@ Wanda,

ich danke dir herzlich für deinen sonntagsgruss und sende dir liebe wünsche auf diesem wege.

ja, es ist ein schöner tag; die hochzeit meiner tochter wird in naher zeit gefeiert und ich bereite die letzten seiten der hochzeitfestschrift vor. daher hatte ich den text vor mir, als ich die obigen beiträge las. zufall?

erinnerst du dich an den text "von der Ehe" von K.Gibran?
mittlerweile ist das "okay" des pfarrers erteilt, ich darf den text ersatzweise für die vorgesehene lesung sprechen.

stell dir mal vor, wie meine beiden "verflossenen" männer gegrinst hätten, wenn ich von der kanzel "das weib sei dem manne untertan" verkündet hätte... :-))). aber auch der kräftige beifall der vielen gäste wäre mir sicher gewesen.

den text der einladungskarten hat das brautpaar entsprechend gewählt:

"Die gemeinsamen Schritte durchs Leben sind nicht immer leicht, jeder hört die Musik anders, aber der gemeinsame Tanz ist wunderbar."

nette grüsse