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THEMA:   Wie erklärt sich, daß Kriegsverbrecher immer wieder Mittäter, Hilfsfreiwillige und Claqueure finden?

 10 Antwort(en).

Ernst begann die Diskussion am 18.03.03 (00:41) mit folgendem Beitrag:

In Urzeiten war das Mittun in Kriegen Pflicht und „Ehrensache“ aller einsatzfähigen Männer. Wenn der Leit-Nacktaffe zum Kampf blies, hatte jedermann widerspruchslos zu folgen, wofern er nicht als gefahrbringend für das Unternehmen eliminiert werden wollte. Am leichtesten dürfte das jenen gefallen sein, die ohne Nachdenken blind gehorchten. Bedingungslose Gefolgschaft war Grundlage für das Überleben der eigenen Horde. Dieses eigentlich nützliche Verhalten ist noch immer irgendwo tief in menschlichen Hirnstrukturen programmiert. Es enthebt der Mühen eigener Verantwortlichkeit, wenn Massenmorden staatlich angeordnet und somit sanktioniert wird.

Inzwischen hat sich unser kollektives technisches Wissen - somit auch die Kriegstechnik - in stetig steigender Rasanz extrem vervielfacht. Die individuellen Verhaltensmuster unseres Gehirns jedoch konnten mit den neuen technischen Chancen nicht Schritt halten. Menschliche Wünsche, Instinkte, Motive haben sich vermutlich in den letzten 10 000 Jahren kaum verändert, wie uns ein Blick in jede Tageszeitungen zeigt. Trotz schlimmster Erfahrungen werden immer wieder höchste wissenschaftliche Erkenntnisse zur Verfolgung niedrigster Instinkte – nichts anderes sind Kriege - mißbraucht.

Häuptlinge des Atomzeitalters ziehen nicht mehr selbst mit ihrer Horde in den Krieg; sie lassen ziehen. Ihre Voraussetzung ist, archaische Killerinstinkte der Untertanen am Brodeln zu halten. Zahlreiche Rituale - wie Grüßen einer Fahne, patriotische Kampfgesänge, Aufmärsche, Parolen, Lügen, rechtfertigende Beschwörungsformeln, Bespitzelung, Jubelveranstaltungen, Rachegeschrei, Ordensverleihungen usw - helfen beim Abschirmen unerwünschter eigener Denkleistungen und binden viel Volk emotional an den vermeintlich großen Feldherren - selbst dann, wenn dieser vom vormals alkoholabhängigen Versager zum scheinheilig frömmelndem Sendungsbewußten mutierte und nur durch Interessenvertreter gegen Wählerwillen schamlos ins Amt gehebelt wurde. Die Liebe zum Herrscher scheint unerschütterlich, oft hoffnungslos immun gegen alle Vernunftgründe.

„Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch die Kraft dafür“ sagt man. Gibt er ihm aber auch Verstand?

Jedoch:
Die Zahl der Kriegsunwilligen wächst, die der „Willigen“ sinkt. Das bedeutet doch auch, daß sich im Speichermedium Gehirn Programme wie „Kriegsbesessenheit“ und „Kadavergehorsam“ löschen lassen. Darauf hoffe ich sorgenvoll und hilflos noch immer, obwohl vielleicht schon in wenigen Stunden das große irrsinnige Abschlachten Unschuldiger beginnt.
Ernst


Karl antwortete am 18.03.03 (08:17):

Der Verrat der Demokratie und der Verlust des "Amerikanischen Traums"

Lieber Ernst, ich persönlich weiss als Biologe zwar auch die Macht der "Urinstinkte" einzuschätzen, aber ich denke doch, dass "Zivilisation" eben ausmacht, dass Vernunft und Recht an ihre Stelle gesetzt werden.

Was mich an der unrechtmässigen "Kriegserklärung" der USA und ihrer wenigen "willigen" Regierungen an den Irak so schockt und traurig stimmt, ist neben der unmittelbaren Gefahr für das Leben und die Gesundheit der Iraker der endgültige Verlust des "amerikanischen Traums" von einer besseren Welt.

"Amerika" (gemeint war die USA) stand für mich lange Zeit als Inbegriff für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und "ein besseres Leben".

Dieser Traum ist zerplatzt und die US-Regierung zeigt die häßliche Fratze eines Unrechtregimes, das die Mehrheitsmeinung der Völker dieser Erde beiseite fegt mit der irrwitzigen Bemerkung, die USA müßten dann wohl den Willen der Völkergemeinschaft durchsetzen, wenn diese dazu nicht in der Lage sei.

Ich bin geschockt und traurig, weil ich zu wissen glaube, dass dieser Bruch des Völkerrechts seine eigene Dynamik entwickeln wird und die USA selbst in einem größeren Ausmass ändern wird als es die Terroristen je erhofft hatten.

Die USA und auch Spanien und Großbritannien verraten die Demokratie, das internationale Recht und und damit den "Westen" mit seinen Idealen und Zielen.

Ich hatte mich auf das neue Jahrtausend und all die technischen Möglichkeiten gefreut. Jetzt sehe ich wozu dies alles genutzt werden wird und bin in größter Sorge um die Zukunft.

Es gilt, den Hoffnungsschimmer zu ergreifen und auszunutzen, der immerhin auch sichtbar wurde. Das Internet hat eine weltweite Öffentlichkeit geschaffen, die sich global organisieren kann. Waffenstarrende Diktaturen, auch wenn sie sich offiziell noch Demokratie schimpfen, wie die USA, die glauben den Rest der Welt unterjochen zu können, werden auch wieder untergehen. Nicht Waffen allein verhelfen zum Sieg.

Ich hoffe ich erlebe noch, dass ein George Bush und Toni Blair vor dem internationalen Gerichtshof angeklagt werden.


Wolfgang antwortete am 18.03.03 (09:37):

Die Erklärung ist einfach: Es ist die Faszination der Macht, die dafür anfällige Menschen anzieht, wie das Licht die Motten. Der schöne Schein der Diktatur bannt sie und gibt ängstlichen Menschen in einer Welt der Unsicherheiten ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit.

HEINRICH MANN hat 1914 in seinem Roman "Der Untertan" einen Menschen beschrieben, der nach oben buckelt und nach unten tritt. Denn das haben die AnbeterInnen der Macht alle gemeinsam: Dass sie zum vermeintlich erfolgreichen Teil der Gesellschaft gehören wollen und - wenn schon auf unterer oder unterster Ebene - selbst Führer sein wollen, sei es als Fähnleinführer, als Schüler einer Eliteschule des Regimes, als Blockwart oder als was auch immer. Diktatorische Regime sind äusserst erfinderisch im Erfinden von Feinden und im Verteilen der Macht.

Ein charakteristisches Merkmal des Untertanen ist seine Meinungslosigkeit. Er meint zwar, er hätte eine Meinung. Diese angeblich eigene Meinung ist aber die herrschende Meinung, also die Meinung der Herrschenden. Sie wechselt je nach der Interessenlage der Herrschenden. Gegen Informationen ist solch eine "Meinung" so gut wie immun. Untertanen erkennen ihren Irrweg nicht, sondern gehen diesen Weg konsequent bis zum eigenen Untergang. Vernunft und Recht - das, was Karl zu Recht als die "Zivilisation" beschreibt - sind ihnen ein Gräuel.

P.S.: Es sollte vielleicht noch erwähnt werden, dass sich Untertanen massenhaft in jeder Gesellschaft befinden und dass das kein deutsches Problem alleine ist. Die aktuellen Vorgänge im BUSH-Land zeigen das deutlich.

Internet-Tipp: https://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=4139


Barbara antwortete am 18.03.03 (09:41):

Lieber Karl,

Du hast meine Gedanken so wunderbar in Worte gefasst, dass ich dem eigentlich nichts hinzu zu fügen habe....

Daher einige Gedanken allein zum Titel:

>>Wie erklärt sich, daß Kriegsverbrecher immer wieder Mittäter, Hilfsfreiwillige und Claqueure finden?<<

Es gehört oft viel Kraft dazu, seinen eigenen Weg im Leben zu gehen, besonders wenn dieser nicht der Straße der Massen sondern einem kleinen, verschlugenen Feldweg gleicht....

Verunsicherte Menschen mit wenig Selbstbewusstsein trauen sich diesen schweren, oft einsamen Weg nicht zu. Sie suchen Halt beim vermeintlich Stärkeren. Der Held an ihrer Spitze lebt ihnen dieses Ideal des Allwissenden vor, der keinen Zweifel an der Richtigkeit seiner Strategie aufkommen lässt. Biedern sie sich ihm an, spüren sie ein wenig dieser Stärke auch in sich selbst. Auf einmal kommen sie sich selbst tollkühn und mächtig vor... Sie ziehen eine Uniform an, ob nun real oder nur im Geiste, und verspüren diese Klarheit, diese Stärke. Sie beten die Leitsätze ihrer Führung nach und stellen ihr Ziel nicht in Frage.... wissen auf einmal genau, was Recht und was Unrecht ist und verurteilen Menschen, die sich in ihren Augen auf der Seite des Unrechts befinden. Dadurch steigert sich ihr Selbstbewusstsein weiter....und bald vergessen sie, dass sie ursprünglich ein ängstliches, fragendes Etwas waren....

Menschen mit wahrer Größe können sich selbst und anderen eingestehen, mitunter verunsichert zu sein. Sie brauchen Hintergrundwissen, was andere nur belastet....denn es macht ihre Entscheidungen oft schwieriger.

Fortsetzung folgt w/ Überlänge


Barbara antwortete am 18.03.03 (09:44):

Fortsetzung:

Der Grundstein für den Mut zum eigenen Weg wird m.M.n. bereits in frühester Kindheit gelegt. Daher darf man kleinen Kindern ein Recht auf Mitentscheidung nicht abnehmen.

Ich habe mich oft gewundert, dass meine Kinder nie im Trotzalter waren, während meine Freundinnen an dieser Phase oft verzweifelten. Allerdings warfen sie mir vor, meinen Kindern gegenüber inkonsequent zu sein.

Beispiel: Auf dem Weg zum Kaufmann kommen wir an eine Gabelung des Weges. Ich möchte den kürzeren Weg wählen, mein Sohn den längeren, weil er an einer großen Baustelle mit Betonmischern und Baggern vorbeiführt. Entweder entschieden wir uns für seinen Weg, weil das Wetter herrlich war, und wir unbedingt sehen mussten, wie weit der Bau fortgeschritten war oder ich erklärte ihm, dass wir unbedingt den kürzeren Weg nehmen müssten, weil der Bruder in einer Stunde vom Kindergarten abgeholt werden musste. Es gab nie "Trotzreaktionen", denn wenn mir die Argumente meines Sohnes einleuchteten, war ich gern inkonsequent und habe Stunden den Bauarbeitern zugesehen....Später mit drei Kindern, haben wir eine Münze entscheiden lassen, wenn die Argumente gleich stark waren. Auch das wurde dann von den anderen akzeptiert.

So sollte auch ein guter Unterricht in der Schule verlaufen. Ein Lehrer sollte sich auf die Argumente seiner Schüler einlassen, auch wenn das Ziel der Stunde dadurch evtl. erst auf Umwegen erreicht werden sollte. Ein stures, "Schlagt die Bücher auf und weiter im Text!", nimmt Entscheidungen ab und fördert die Einstellung, Gehorsam ohne Widerspruch zu leisten.

Eine breite Erörterung von Stücken wie "Biedermann und die Brandstifter", "Andorra", "Nathan der Weise" oder auch dem Buch "Die Welle" können Kindern helfen, zu selbstständig denkenden Menschen zu werden, die ihren Lebensweg stets hinterfragen und nicht treu einem Leithammel folgen.

Um zum Schluss doch noch auf Amerika hinzuweisen:

Vielleicht sollte man dort einmal überdenken, ob in den Schulen das Fach Geschichte in Zukunft nicht mehr z.B. durch Sport abgewählt werden sollte...

Aber auch in Deutschland wäre mir die Erörterung obengen. Literatur wichtiger als das Zählen und "Bewerten" von Fehlern im Diktat. Im Moment sehe ich hier eine große Gefahr, da unsere Wirtschaftsbosse immer lauter nach der Wichtigkeit des Erlernens der "Grundfähigkeiten" rufen. Kinder, die keine fehlerfreien Diktate schreiben können, werden als wertlos aussortiert. In meinen Augen braucht der Mensch andere "Grundfähigkeiten", aber die habe ich bereits oben erläutert.


schorsch antwortete am 18.03.03 (12:59):

Immer wieder - und ganz besonders in wirtschaftlichen Krisensituationen - rufen hilflose Menschen nach "dem Führer". Leider findet sich selten ein verantwortungsbewusster Mensch, dem Rufe des Volkes zu folgen. So wird eben derjenige "der Führer", der am lautesten schreit, am meisten verspricht und die Massen mit Hasstiraden auf Andersartige begeistern kann....


Wolfgang antwortete am 18.03.03 (13:12):

Es ist sicher richtig, dass eine angstfreie und ganzheitliche Erziehung vor allem im Elternhaus nötig ist. Andererseits: Kinder lernen am Vorbild ihrer Eltern; wenn die aber schon versagen, selbst sich als Untertanen fühlen und so handeln, was dann?

Es bleibt die Erziehung in den Schulen... Da wurde viel geleistet in den letzten Jahrzehnten. Der Untertanengeist ist so gut wie raus aus unseren Schulen und nationalistische Tiraden wird man an deutschen Schulen von den Lehrern jedenfalls kaum noch hören (und wenn, würde das schnell unterbunden werden).

Man schaue sich dagegen die amerikanischen Schulen an. Dort werden der Nationalismus und der Militarismus geradezu gezüchtet. Mich wundert, dass immer noch ein erklecklicher Teil der amerikanischen Gesellschaft gegen die chauvinistische Pest unempfindlich ist. Das bestätigt aber wiederum die These, dass nur bestimmte Menschen - schwache Menschen, nicht selbstbewusste Menschen, ängstliche Menschen - überhaupt empfänglich sind für die süssen Melodien der Rattenfänger.


Barbara antwortete am 19.03.03 (18:01):

Allmählich durchschauen immer mehr US-Bürger die Verdummung, der sie ausgesetzt sind.

Die Schriftstellerin Prose in der Vorabmeldung der ZEIT:

"Wir zahlen jetzt den Preis für die...schlechte Ausbildung unserer Bevölkerung während der letzten Jahrzehnte. Wer nie gelernt hat, was in unserer Verfassung steht, wird sich kaum daran stören, wenn die Verfassung verletzt, übersehen und ignoriert wird.“

https://www.zeit.de/2003/13/vorabmeldung_030313

Etwas ausführlicher:

>>Die amerikanische Schriftstellerin Francine Prose wirft den US-Medien eine Manipulation der Öffentlichkeit vor. Die amerikanische Presse würde kaum über die Antikriegsstimmung in den Vereinigten Staaten berichten, schreibt Prose in der ZEIT.

„Selbst bei niedrigsten Erwartungen an die Medien, ist es ein Schock, wenn die öffentliche Darstellung sich so stark von der selbst erlebten Wirklichkeit unterscheidet.“ Bisher habe man geträumt, dass die Presse der Wahrheit stärker verpflichtet sei, als den Firmen, die sie beherr-schen. Nun wache man auf, und das sei vor allem für diejenigen schmerzlich, die an Verfassung, an Pressefreiheit und Demokratie glauben. Francine Prose: „Wir zahlen jetzt den Preis für die unwillentlich oder systematisch schlechte Ausbildung unserer Bevölkerung während der letzten Jahrzehnte. Wer nie gelernt hat, was in unserer Verfassung steht, wird sich kaum daran stören, wenn die Verfassung verletzt, übersehen und ignoriert wird.“

Prose: „Es ist wichtig, dass unsere europäischen Freunde und ‚Verbündeten’ wissen, dass nicht alle Amerikaner die tödliche und zugleich selbstmörderische Politik ihrer Regierung unterstützen ... Wir Amerikaner spüren – wissen –, dass die Irak-Politik unserer Regierung an den Rand einer globalen Katastrophe führt, eines Massensterbens, einer neuen, grauenvollen Form des Weltkrieges.“<<

Internet-Tipp: https://www.zeit.de/2003/13/vorabmeldung_030313


schorsch antwortete am 19.03.03 (21:26):

Ich sah heute ein Bild in der Presse, da haben Amerikaner Wasser der Marke Perrier ausgeleert, weil sie keine Produkte von "Amerika-Feinden" mehr trinken wollen......


Nuxel antwortete am 19.03.03 (22:24):

Diesen Toren wünsche ich,dass sie mal so grossen durst leiden müssen,dass sie von *Feindes Wasser* alpträumen!


Wolfgang antwortete am 20.03.03 (14:52):

@Barbara... Seit heute ist der von Dir erwähnte Essay von FRANCINE PROSE online:

ZEIT 13/2003
Medien im Krieg
Patriotismus auf allen Kanälen. Doch fürchtet die amerikanische Öffentlichkeit eher, dass der Welt in diesen Tagen eine Katastrophe droht
Von FRANCINE PROSE
https://www.zeit.de/2003/13/Amerika_2f_Presse

Was Frau PROSE (wie so viele amerikanische Intellektuelle) beklagt, ist der gemessen an unseren Verhältnissen geradezu unglaubliche Mangel an Bildung in weiten Teilen der amerikanischen Gesellschaft. Einen grossen Teil seiner Informationen bekommt der amerikanische Mensch via TV. Die Nachrichtensendungen dort sind praktisch gleichgeschaltet. Eine üble nationalistische Brühe wird dort rund um die Uhr angerührt. Viele AmerikanerInnen, vielleicht die meisten, glauben allen Ernstes, dass sie der freiesten und wohlhabendsten und stärksten und überhaupt besten Nation der Welt angehören. Ja, sie gehen so weit und sind davon überzeugt, dass sie ihr Gesellschaftsmodell - den 'american way of life' - weltweit verbreiten müssen, wenn nötig, mit Gewalt.

Der 'american way of life' ist ein 'way of war'... Das wissen wir seit langem. Dieser Krieg wird nicht nur ausserhalb der USA geführt und nicht nur aktuell, sondern permanent und sogar am intensivsten im Innern...

Internet-Tipp: https://www.zeit.de/2003/13/Amerika_2f_Presse