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THEMA:   Schweizer Direktdemokratie - Ein Alptraum?

 27 Antwort(en).

Johannes Michalowsky begann die Diskussion am 07.11.02 (20:59) mit folgendem Beitrag:

Folgende Bemerkung von Felix Schweizer im Thema über die Frage, ob die Mehrheit immer recht habe, hat mir zu denken gegeben:

"Jede Person ist kompetent genug, um die Entscheidung selbständig zu fällen."

Dies lässt mich die Einleitung eines Artikels im NZZ Folio, einem Zusatzangebot zur Neuen Zürcher Zeitung, zitieren und die Frage stellen:

Wer ist in all diesen Fragen kompetent, wie kann das funktionieren, ist es nicht eher eine alptraumartige Vorstellung, sich mit Fragen dieser Art so intensiv beschäftigen zu müssen, daß man zu einer eigenen sachlichen, unvoreingenommenen und emotionsfreien Entscheidung kommen kann?

Hier der Textauszug (vollständig unter der unten angegebenen URL nachzulesen, lesenswert, da sehr humorig und gekonnt formuliert), Autor Thomas Häberling, Redakteur der NZZ, erschienen im NZZ Folio Nr. 10, Oktober 1998:

"Seit über 28 Jahren bin ich das, was man bei uns einen aktiven Stimmbürger nennt. In dieser Zeit habe ich Ständeräte, Nationalräte, Regierungsräte, Kantonsräte, Stadträte, Gemeinderäte, Bezirksräte, Statthalter, Schulpfleger, Bezirksanwälte, Bezirksrichter, Notare und Volksschullehrer, Kirchenpfleger und Pfarrer gewählt. Ich habe getreulich abgestimmt über Waffenplätze und Kampfflugzeuge, Waffenausfuhrverbote, die Armee an sich, über Brotgetreide, Atomkraftwerke, Finanzordnungen, Autobahnen, Lastwagenbreiten, Arbeitszeitbeschränkungen, Mehrwertsteuern, Sonntagsfahr- und Sonntagsarbeitsverbote, Gen- und Tierschutz, den Europäischen Wirtschaftsraum, Hochmoore, Tempolimiten, Einbürgerungen, über die Gleichstellung der Frauen und über Direktzahlungen an Bauern.

Und ich habe meine Stimme abgegeben zu Flughafen- und Zooerweiterungen, Gefängnissen und Universitäten, Strassenerweiterungen und -sperrungen, Kinderzulagen, Arbeitslosenunterstützungen, Steuer-, Heimatschutz- und Wahlgesetzen, zu Unterrichtsgesetzen und Subventionsgesetzen, zu Tunnels durch die Stadt und Tunnels durch die Alpen, zum Trottoir (Entschuldigung: zum Bürgersteig) im Chrüzacherquartier und zur Renovation des Saals im «Hirschen».

Nicht zu reden vom Opernhaus, vom Seewasserwerk, vom Heizkraftwerk, von der Gebäudeversicherung und der S-Bahn; aber es sind ja ohnehin viel mehr Vorlagen gewesen, ein paar hundert dürften im Lauf der Zeit schon zusammengekommen sein."

Internet-Tipp: https://www-x.nzz.ch/folio/archiv/1998/10/articles/haeberling.html


Karl antwortete am 07.11.02 (21:24):

Danke für dieses Thema, Jo. Ich bin ein überzeugter Verfechter der repräsentativen Demokratie. Ich halte mich nicht für kompetent, über jede Spezialität abzustimmen. Ich halte unsere Verfassung für weise, die Volksabstimmungen auf überschaubaren regionalen Ebenen zuläßt, aber Plebiszite auf Bundesebene ausschließt.

Andererseits, auch die Schweiz ist mit ihrem System bisher nicht schlecht gefahren. Wie immer in solchen Fällen fehlt das Kontrollexperiment ;-)


Mit freundlichen Grüßen

Karl


mechtild antwortete am 07.11.02 (21:33):

Demokratie ist ein schwieriges Geschäft, aber kennst Du eine besseres Staatsform als die Demokratie? Vielleicht eine Demokratie mit guten Politikern und Politikerinnen und ein gutes Volk? :-))


Johannes Michalowsky antwortete am 07.11.02 (21:40):

@Mechtild

Die Demokratie als solche ist hier von mir überhaupt nicht zur Diskussion gestellt worden, sondern nur eine mögliche Vollzugsform.


mechtild antwortete am 07.11.02 (22:08):

@ Jo
hatte ich auch nicht so verstanden. Aber ich denke jede Praxis der Demokratie hat ihre Schwierigkeiten. Die Schweitzer kämpfen und motzen über die direkte Demokratie und wir über die repräsentative Demokratie. Solange die Demokratie funktioniert ist es für mich okay und Gesetzesänderungen gehören zur Demokratie dazu.
Natürlich möchte ich nicht mehrmals im Jahr zur Wahl gehen und ständig über Sachfragen entscheiden, von denen ich keine Ahnung habe. Aber ich würde mich dann mit Themen beschäftigen, über die ich heute noch nie was gehört habe, oder nicht zur Wahl gehen. Wenn die Parlamentarier entscheiden kann ich wenigstens nach der Entscheidung motzen. Das ist doch auch ganz schön. :-))


Felix antwortete am 07.11.02 (22:49):

Wir haben unsere verschiedenen Meinungen über eure und unsere Demokratieform früher schon diskutiert.
Ich gebe zu ... die schweizerische Lösung ist anspruchsvoller für den einzelnen Bürger und überfordert auch einen Teil der Stimmbürger. Aber ich persönlich und viele meiner Freunde und Bekannten möchten uns dieses Recht bei wichtigen Entscheidungen in der Gemeinde, im Kanton und auf Bundesebene mitreden zu können nicht wegnehmen lassen.
Das Argument des grösseren Staatswesens lasse ich nicht gelten. Auch in Deutschland gäbe es praktikable Lösungen für Initiativen, Referenden und Abstimmungen. Man denke nur ans Internet oder an die briefliche Stimmabgabe!
für den Bürger ist es doch nicht das Gleiche, ob er nur die aufgestellten Repräsentanten wählen darf, die dank ihren Wahlversprechungen mehr oder weniger seinem politischen Denken zu entsprechen scheinen oder... dass er direkt gefragt wird, ob er mit einem Sachgeschäft einverstanden ist oder nicht.
Es gibt so viele Fälle, wo ein bestimmter Vertreter einer Partei nicht so entscheidet wie die Parteidoktrin will. Wir haben auch Bundesräte, die gegen ihre Partei auftreten dürfen.
Ich glaube nicht, dass ihr Deutschen und Österreicher weniger Sachkompetenz erlangen könnt als wir.
Wenn Mechtild zu bequem ist .. mehrmals im Jahr an die Urne gerufen zu werden ... weiss ich nicht ob sie repäsentativ ist. Demokratie ist ein Recht und hat auch seine Pflichten.
Da bin ich gespannt ... was euch zu einer direkten Demokratie fehlen soll?


Felix antwortete am 07.11.02 (23:04):

Nachtrag:

Durch ein aus dem Zusammenhang herausgelöstet Zitat wird meine Aussage ins Lächerliche und Unwahre gebracht:

Jo schreibt:

Folgende Bemerkung von Felix Schweizer im Thema über die Frage, ob die Mehrheit immer recht habe, hat mir zu denken gegeben:

"Jede Person ist kompetent genug, um die Entscheidung selbständig zu fällen."

Lässt aber aus, dass dies keine Tatsache sondern der Idealfall wär ... also eitwas Erwünschtes ... nicht mehr!

"Zu einer demokratischen Entscheidung müssten im Idealfall folgende Voraussetzungen erfüllt sein:...."

Ja ... ja ...lieber Jo ... die gute Semantik im Zusammenhang mit dem Kontext!


Johannes Michalowsky antwortete am 07.11.02 (23:33):

Stimmt, hatte ich auch gemerkt, aber den Kontext kann man sich ja durch einfaches Hinschauen herstellen.

Eine Täuschung der Leser hier war nicht beabsichtigt.


juttam antwortete am 08.11.02 (03:09):

Wer's gesagt hat weiss ich (mal wieder) nicht mehr:

Demokratie ist ein sehr fehlerhaftes Regierungsformat,
aber das Beste von Allem im Moment was zu haben ist.

...oder in diesem Sinne.


Nienenueteli antwortete am 08.11.02 (06:59):

Ein kleines Problem, das die Schweiz hat (vielleicht auch andere) ist, dass wir Milizpolitiker haben, die in der Hauptsache noch einem Job nachgehen. Siehe Fall G. Bührer, der als Verwaltungsrat der Rentenanstalt nach dem Skandal jetzt als Parteipräsident zurücktreten musste.

Werden Regierungsräte gewählt (auch Bundesrat), werden die Departemente (Bau, Finanzen uä) verteilt. Manch einer ist dann Chef einer Sache, von der er vorher noch nie etwas gehört - und vor allem keine entsprechende Ausbildung hat. Er ist also auf seine Mitarbeiter und Berater angewiesen.

Ist jemand gut ausgebildet und gut drauf, so wird er in der Wirtschaft genügend zu tun haben und hat keine Zeit, sich noch politisch zu engagieren.

Ein politisches Engagement bringt auch sehr wenig Geld im Vergleich. Bis man nur in den Kantonsrat gewählt wird - das ist eine Heidenarbeit und sehr zeitaufwändig, an jeder Hundsverlochete dabei sein müssen und viele "Wähler aus der Basis" kennenzulernen.

Dazu wäre es auch gut, wenn man Sponsoren hat. Vor allem eine Nationalratswähl ist z.B. nicht billig. Diese wünschen dann natürlich eine Gegenleistung. Dazu hat man die Lobbyisten in Bern, welche nachhaltige Ueberzeugungsarbeit bei Politikern betreiben. Gewählt wird meist auch jemand, der eben handfeste Interessen (aus der Wirtschaft, z.B. Transportwesen) vertritt.

Das grösste Problem sehe ich inzwischen in unserer (noch) Demokratie darin, dass sich der Bundesrat mit unseren Steuergeldern ein Heer von Kommunikationsprofis hält, über 400 Personen, die einzig für Abstimmungen (Texte in Broschüren, Politikerauftritte) zuständig sind und die Bevölkerung mit Millionen-Steuergelder-Verbrauch auf die Linie des Bundesrates einlenken wollen.
Der Bundesrat scheut sich nicht, für seine Anliegen mit Steuergeldern Millionenschwere Propaganda zu drucken, aber nicht für die Gegenseite - kein einziges Flugblatt.

Im letzten Fall der Abstimmung über die Liberalisierung des Strommarktes hat es knapp nicht funktioniert. Das Volk hat es "trotzdem" abgelehnt. Dabei ist bereits eine Firma "Axpo" geschaffen mit über 1000 Arbeitsplätzen, welche nichts anderes macht, als die Liberalisierung zu koordinieren!!! Eigentlich wäre die Firma nun ja hinfällig. Aber man arbeitet einfach bereits an der nächsten Abstimmung in ein paar Jahren...

Sollte sich das Volk besonders widerspenstig zeigen, kann man immer noch mit dringlichem Bundesbeschluss Ordnung schaffen. So geschehen im Abstimmungsrecht für Frauen im Kt. Appenzell. Niemand wollte dort das Frauenstimmrecht (die Frauen durften sich dazu übrigens auch an der Urne äussern). Also wurde es nach der x-ten Abstimmung hat der Bund es dann halt einfach trotzdem eingeführt - und nicht zuletzt eine wunderschöne Tradition zerstört.

Mein Fazit: Wer bessere Möglichkeiten hat - der wird sicher nicht Politiker :-)


Nienenueteli antwortete am 08.11.02 (10:33):

Und wie die demokratische Meinung z.B. an einer Parteiversammlung zustande kommt:

Die Parteileitung bereitet die Geschäfte, z.B. Abstimmungsthemen vor. Dann lässt sie einen Pro und Contra Referenten reden. Die Meinung der Parteileitung geht als Schlusswort an die Delegierten als "Empfehlung" und wird somit eindringlich empfohlen. Da die Delegierten keine Zeit haben (und oft auch nicht können, wollen oder verstehen) ist man um diese Empfehlung dankbar - muss man sich schon selber nicht damit beschäftigen. Simmt ab und ist ein "gutes" Parteimitglied, weil man ja die "richtige" Meinung vertritt. Daher kommen auch die Resultate "mit 300 zu 2 Stimmen angenommen".

Selberdenker oder Kritiker sind da ganz sicher nicht gefragt. Dem sagt man dann aber Demokratie, und die Parteien fassen an den Delegiertenversammlungen "einstimmig" ihre Parolen.

Hier vielleicht im kleineren Rahmen und nicht so offensichtlich "wer nicht mit uns ist, ist gegen uns".

Wer in einer Partei ist, möchte ja schon daher einer Gruppe angehören und konform sein. Eine Gruppe ist halt am Schönsten, wenn alle gleich denken oder zumindest ähnliche Interessen vertreten.
Mitten drin, statt nur dabei...

Und ehrlich gesagt, die grosse Masse ist mit Brötchen verdienen beschäftigt genug und hat tatsächlich keine Zeit, sich um anderes zu kümmern - lesen? Sie ist direkt dankbar für die Manipulationen derer, die es ja schliesslich besser wissen.

Die Medien rieseln uns mit negativen Schlagzeilen zu.
z.B. Rentenanstalt. Aber an die Kasse und zur Verantwortung gezogen werden die VR und Mänädscher nicht. Niemand schreit auf - man lässt sich von den Nachrichten sagen, wie es jetzt halt ist - und die Masse ist wie gelähmt.

Niemand reklamiert so laut in der Schweiz über die Senkung des Renten Mindestzinssatzes von 4 auf 3.25 %, als dass etwas geschehen würde.
So können "Sie" tun und lassen, was sie wollen.

Aber eines muss ich doch sagen. Seit ich den Spiegel.de lese, fällt mir auf, dass wir es in der Schweiz verglichen mit der EU noch viel viel besser haben, obwohl es bei uns in dieselbe Richtung geht - und wir schon längst EU-kompatibel wären.


schorsch antwortete am 08.11.02 (11:27):

Trotzdem ich seit 1961 Mitglied einer Partei bin, und trotzdem ich fast 50 Jahre Gewerkschafter war, habe ich nie die vorgekaute Meinung der einen oder der anderen einfach geschluckt oder so gestimmt, wie meine Genossen dies gerne gehabt hätten. Ob das wohl der Grund war, dass ich nie Politiker wurde?
Dass ich an der Urne direkt mitbestimmen darf und nicht nur einem "Vertreter" meine Stimme geben, (die dieser dann nach dem Säuhäfeli/Säudeckeli-Prinzip ((miss-))brauchen kann), schätze ich sehr. Das hat etwas mit direkter Demokratie zu tun. Aber diese fängt schon in der Familie an - wenn nämlich Vater, Mutter und die Kinder gemeinsam Beschlüsse fassen.


Nienenueteli antwortete am 08.11.02 (16:32):

Unten ein aktueller Bericht vom "Tages-Anzeiger" zum Thema.

Hallo Schorsch
Ich bin natürlich auch sehr froh, dass wir in einem der demokratischsten Länder leben. Darum sehe ich den direkten und indirekten Abbau von Rechten und Freiheiten nicht so gern - wie sie allenorten auf der Welt im Eiltempo eingeführt werden.

Auf eine andere Weise ist die Demokratie in der Familie vor allem im Kt. Appenzell gepflegt worden, wo man die Politik am Tisch besprochen hat und einen gemeinsamen Nenner gefunden hat, welchen die Männer im Ring vertreten haben (meistens heiraten ja auch ähnlich gesinnte...).

Internet-Tipp: https://www.tages-anzeiger.ch/ta/taOnlineNewstickerArtikel?ArtId=86112&rubrikid=181


Rosmarie (Ruzenka) antwortete am 08.11.02 (17:14):

Als Schweizerin finde ich k e i n e Demokratie ein Alptraum.
Zum Alptraum werden mir nur Demokraten, die glauben, zu allem, aber auch allem ihren Senf dazugeben zu müssen, obwohl sie eigentlich nur meckern können.

Eine Demokratie braucht starke und selbstbewusste Bürger und keine Miesepeter. Bürger die sehr wohl freiwillige Aufgaben übernehmen und froh darüber sind in einer Demokratie leben zu dürfen!
leben zu dürfen


Felix antwortete am 09.11.02 (01:48):

Jo ... ich fragte dich bis jetzt noch nicht, weshalb du ausgerechnet den fingierten Briefwechsel von Thomas Häberling als Einstieg für das Thema direkte Demokratie gewählt hast?
Du hast sicher die Selbstironie und den Schalk herausgespürt. Ich bin auf Argumente erpicht, die gegen unsere schweizerische Lösung sprechen. Von einem Alptraum kann selbstverständlich keine Rede sein. Ich würde mich in meinen politischen Rechten bevormundet und eingeschränkt fühlen, wenn mein einziges Recht darin besteht einen Politiker zu wählen, von dem ich lediglich weiss zu welcher Partei er gehört, wie alt er ist, welche Ausbildung er vielleicht noch hat ... und das Restliche sind die Wahlversprechungen, die er bisher herausgelassen hat! Nein ... das genügt mir nicht!
Leider gibt es auch bei uns Leute, die ihre Stimmabstinenz mit faulen Ausreden begründen:

- Die da oben ... machen sowieso was sie wollen!
- Ich werde immer überstimmt ... ich gehe gar nicht mehr hin!
- Meine Frau stimmt das Gegenteil von mit ... Also hebt sich das auf. Wir gehen deshalb gar nicht abstimmen!
- Ich war dieses Jahr schon zweimal an der Urne ... ich habe meine Pflicht erfüllt.
- Ich habe die Stimmunterlagen gar nicht bekommen ... oder nicht beachtet.
- Wenn ich abstimme ... dann nur nein ... aus Protest!
- Ich komme sowieso nicht drauss, was man dazu sagen soll.
etc.

Zu jeder Abstimmungsvorlage bekommt man genügend Infomaterial mitgeliefert. Wem das nicht genügt findet in den Medien reichlch Entscheidungshilfen.
Wer parteitreu sein will stimmt so ab wie seine Partei empfiehlt.
Warum soll das in andern zivilisierten Staaten nicht auch möglich sein?


Johannes Michalowsky antwortete am 09.11.02 (14:12):

@Felix

Ich weiß nicht, warum Du die Vokabel "ausgerechnet" verwendest - habe ich etwa ein mir nicht bekanntes innerschweizerisches Tabu verletzt?

Meine Antwort:

1. Die Frage der Sachkompetenz einer Bevölkerungsmehrheit, die zur Abstimmung über mehr oder wenig diffizile politische Fragen aufgerufen wird, beschäftigt mich schon länger. Die Schweiz liefert dafür sicherlich einen guten Anschauungsunterricht.

2. Deine von mir - pardon: unvollständig - zitierte in diese Richtung zielende Bemerkung gab mir den Anstoß, das Thema mal zu starten.

3. Der fingierte Briefwechsel - warum nicht? - hatte mir seinerzeit sehr gut gefallen. Die NZZ ist für mich die beste deutschsprachige Zeitung, und vor den Formulierungskünsten ihrer Journalisten habe ich Respekt, eben gerade wegen der Ironie, die auch sonst oft genug aus den redaktionellen Beiträgen hervorscheint.

4. Kleiner Nebeneffekt: Hier wurde einmal Klage darüber geführt, daß keine Schweizer Themen diskutiert werden. Ich meine zwar, das müßten die Schweizer selbst in Gang setzen, immerhin sah ich hier mal eine Gelegenheit dazu.

Der Beitrag von mir war keineswegs als eine Einmischung in Eure inneren Angelegenheiten oder Negativ-Kritik zu verstehen - so muß man leider die Retourkutsche "Deutsche Demokratie - Ein noch grösserer Albtraum?" verstehen. Allerdings beteiligt Ihr Euch auch durchaus an den unser Land betreffenden Diskussionen, was ich, um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, begrüße.

Zu den politischen Mängeln und Defiziten in unserem Lande habe ich eine klare Meinung, das wäre aber ein anderes Thema, da würden wir abschweifen.


Wolfgang antwortete am 09.11.02 (14:34):

Ich beneide die SchweizerInnen um die Möglichkeiten, ihren Willen kundzutun und politisch durchzusetzen. Bei uns gibt es das leider nicht... Nur auf kleinster regionaler Ebene und nur für kleinste Themen, wobei sich die BürgerInnen auch noch mittels aufwendiger Verfahren anstrengen müssen, um überhaupt einen BürgerInnenentscheid von oben genehmigt (!) zu bekommen.

Alle vier Jahre werden in Deutschland zwei Kreuzchen gemacht und dann ist die Macht abgegeben und es wird gehofft, dass die Politik so ausschauen möge, wie man sich das vorgestellt hat. Natürlich sind viele schnell enttäuscht und ernüchtert. Bei der nächsten Wahl sind sie wieder dabei und machen genau dasselbe Spiel und freuen sich, wenn die Wahlbeteiligung hoch war.

Diesen vierjährigen kollektiven politischen Schlaf unterbrochen von einem einzigen Wahltag nennen sie 'Demokratie'. Ich werde wohl nie dahinter kommen, warum ein so grosses Wort für eine so mickrige Veranstaltung verwendet wird. :-)


mechtild antwortete am 09.11.02 (15:18):

@ Wolfgang,
ganz so einfach ist es nicht, sie Du es darstellst.
BürgerInnen haben auch in der parlamentarischen Demokratie viele Möglichkeiten Einfluss auf die Politik zu nehmen, durch Mitarbeit in Bürgerinitiativen, als Sachkundiger BürgerIn in Ausschüssen usw.. Nur vielen fehlt die Bildung oder die Zeit ihre demokratischen Rechte wohrzunehmen. Die meisten Menschen müssen hart arbeiten um leben zu können und haben daneben kaum noch Kraft für Politik.
Ich denke das Problem ist etwas komplizierter als Du es beschreibst. Auch wenn die BürgerInnen öfter abstimmen dürften, wäre die Regierung nicht automatisch demokratischer. Es gibt in unserem Staat sehr viel unterschiedliche Interessen. Es lässt sich sehr schwer einen Konsens herzustellen. Bürgerentscheide sind eine Möglichkeit mehr Demokratie umzusetzen. Aber es recht nicht aus. Die großen sozialen Unterschiede in unserer Gesellschaft und auf der ganzen Welt sehe ich als Hauptproblem dafür, dass Demokratie nur halbherzig praktiziert wird.


Wolfgang antwortete am 09.11.02 (16:09):

Das Eine schliesst das Andere doch nicht aus, Mechtild... Ausserparlamentarische Initiativen gibt es viele in Deutschland. Aber gerade sie zeigen am deutlichsten den Mangel an direkter Demokratie. Denn die meisten Initiativen sind ja entstanden dadurch, dass sich BürgerInnen nicht mehr ausreichend repräsentiert sahen durch die gewählten PolitikerInnen.

Mittlerweile ist eine ganze ausser- und gegenparlamentarische Kultur gewachsen und wächst weiter (was ich begrüsse). Dort wird direkte Demokratie praktiziert. Aber dort ist nicht die politische Macht. Die ist abgeschottet in den Parlamenten, wo man sinniger- und richtigerweise oft die Worte hören kann: "Die Menschen draussen im Lande...".

Zwischen "drinnen" und "draussen", zwischen PolitikerInnen und BürgerInnen ist eine Kluft entstanden, die, so empfinde ich das, immer grösser wird. BürgerInnenentscheide auf Bundesebene bei wichtigen Fragen könnten diese Kluft kleiner machen.


Wolfgang antwortete am 09.11.02 (16:19):

Noch was, Mechtild... Was die sozialen Unterschiede in unserer Gesellschaft betrifft, hast Du sicher Recht... Wir wissen aus vielen Untersuchungen dass die politische Beteiligung schichtspezifisch ist. Grob gesagt: Je wohlhabender und gebildeter jemand ist, desto eher befasst er sich mit politischen Themen oder engagiert sich sogar in Parteien.

Die Zusammensetzung unserer Parlamente spricht Bände. Dort ist kaum noch ein Arbeiter oder eine Arbeiterin anzutreffen, dafür um so mehr AkademikerInnen. Das bekommt der Demokratie nicht gut. :-(


mechtild antwortete am 09.11.02 (21:06):

@ Wolfgang
ohne eine akademische Bildung ist es denke ich recht schwierig Politik zu machen. Politik ist ein sehr komplexer Bereich und ohne eine gute Bildung kommt man da sicher nicht weiter. Ich glaube auch nicht, dass die akademische Bildung das Problem in unseren Parlamenten ist, sondern dass die VolksvertreterInnen sich und ihre Gruppe vertreten und keinen Kontakt außerhalb ihrer Gruppe haben und vor allem keinen Idealismus haben. Ich meine mit Idealismus nicht das Helfersyndrom, sondern mehr die Vision von einer besseren Welt. Doch ein Politiker, der sein Klientel nicht befriedigt wird abgewählt Die WählerInnen wollen doch Politiker, die ihre Bedürfnisse befriedigt und keine PolitikerInnen mit Visionen und inhaltlichen Ansprüchen.
Ich sehe das Problem nicht nur bei den Politikern, sondern auch beim Wähler. Die, die sich was von den Politikern versprechen gehen zur Wahl und die, die glauben für mich ändert sich eh nichts ziehen sich frustriert zurück.
Leider ist es aber tatsächlich so, dass die Politik für einen großen Teil der Bevölkerung außer sie zur Kasse bitten nichts tut.


schorsch antwortete am 10.11.02 (09:21):

Ich meldete mich mit 28 Jahren bei einer politischen Partei - weil da alles Arbeiter drin waren. Langsam kamen Gschtudierte dazu, die das Zepter zu führen begannen.
In den Siebzigerjahren, als die erste grosse Rezession begann und bald Hunderttausende arbeitslos wurden, hatten wir wieder mal eine Versammlung. Einige fluchten über die faulen Büezer, die sich zu gut fänden, eine schlechter bezahlte Arbeit anzunehmen. Ich guckte in die Runde, dann erhob ich mich und sagte: Ihr alle hier seid entweder Bundes- Kantons- oder Gemeindeangestellte. Keiner von euch wird je in die Lage kommen, arbeitslos zu werden. Ihr solltet euch schämen, so über jene zu reden, für die unsere Partei eigentlich dasein sollte!
Betretenes Schweigen - ich merkte, dass ich in meiner eigenen Partei zu einem Aussenseiter wurde!


Felix antwortete am 10.11.02 (15:36):

Lieber Schorsch,
die politische Landschaft auch in der Schweiz ist in ständigem Wandel begriffen. Das ist auch gut so. z.T. wurden auch die Namen der Parteien der neuen Situation angepass.
Weisst du noch die "Katholisch-konservative Volkspartei" wurde zur "Christlich-demokratischen Volkspartei" (CVP).
Die "Bauern-Gewerbe und Bürgerpartei" und die "Demokratische Partei" nennt sich heute (SVP) "Schweizerische Volkspartei" mit gegensätzlichen Flügeln.
Aus der NA "Natiomale Aktion gegen Überfremdung von Volk und Heimat" mauserte sich nach Abspaltung der auch fremdenfeindlichen "Republikanischen Bewegung" (Schwarzenbach) die SD, die "Schweizer Demokraten", die noch die gleichen populistisch - nationalistischen Ziele verfolgen.
Im linken Spektrum wurde nach dem Verbot der KP, der "Kommunistischen Partei", die PdA "Partei der Arbeit" und die SAP "Sozialistische Arbeiterpartei" heute praktisch von der SP "Sozialdemakratischen Partei" aufgesogen.
Aus linken Grupierungen wie die POCH "Progressive Organisationen Schweiz" und AKW-Gegnern entstand das "Grüne Bündnis" und die "Grüne Liste".
Die Arbeitsgeber und Geldsäcke sind in der FDP "Freisinnig Demokratischen Partei" tätig.
Rechts aussen ist die "Freiheitspartei" (FPS) die vorher bezeichnenderweise "Autopartei" hiess. Ein Sprachrohr für fremdenfeindliche Eidgenossen, mit simpler Nabelschau. Sie plädieren für freie Mobilät und sind gegen staatliche Regelungen.
Einige Parteien sind verschwunden wie z.B. der "Landesring der Unabhängigen" (LdU) stark liiert mit dem Gründer der MIGROS Genossenschaft.

Schorsch, ich bin in keiner Partei, obwohl ich durchaus Vorstösse von einigen tatkräftig unterstütze.
Eine Partei nach meinem Geschmack müsste zuerst noch ins Leben gerufen werden.
Ich kann hier einige Grundsätze nur kurz skizzieren:

- Jeder Entscheid ist nach eingehender Analyse neu zu treffen. (Also nicht nach festgelegter Parteidoktrin)
- Folgende Grundwerte sind jederzeit zu berücksichtigen und einzuhalten:
Die Wahrung der Menschenrechte gemäss ... etc.. die Schonung der gesamten Biosphäre, der sparsame Umgang mit den Ressourcen, eine gerechtere Verteilung der Lebensqualität ist anzustreben, Staatsgewalt ist auf ein Minimum zu beschränken etc.
- Die Mitgliedschaft hilft die Ziele der Partei zu verwirklichen bedeutet aber nicht die blinde Gefolgschaft. Wir streben eine Durchmischung der sozio-kulturellen Herkunft der Parteiangehörigen an.
- Unsre Devise ist überzeugen und nicht indoktrinieren!

... oder so ähnlich ... da könnte ich voll mitmachen .... .und ihr?


Johannes Michalowsky antwortete am 10.11.02 (15:43):

@Felix


"Die Wahrung der Menschenrechte gemäss ... etc.. die Schonung der gesamten Biosphäre, der sparsame Umgang mit den Ressourcen, eine gerechtere Verteilung der Lebensqualität ist anzustreben, Staatsgewalt ist auf ein Minimum zu beschränken etc."

Da sehe ich einen Widerspruch: Wie willst Du so hehre Ziele ohne Staatsgewalt durchsetzen?


Felix antwortete am 10.11.02 (16:23):

Hallo Jo ...
klar geht es nicht ohne Staatsgewalt ... Ich verlange ja nur eine Optimierung .."... mit einem Minimum an Staatsgewalt"!


schorsch antwortete am 10.11.02 (17:12):

Da sind wir also schon einige, die eine neue Partei gründen könnten (;--))))

Aber ich bin der Meinung, dass man am besten agieren kann, wenn man sich nicht sektiererisch betätigt, sondern versucht, in einer möglichst grossen Partei möglichst viel für das "Volk" zu erreichen.


Felix antwortete am 10.11.02 (17:47):

Schorsch ... da käme für uns doch nur die SP in Frage ... oder?


mechtild antwortete am 10.11.02 (18:15):

@ schorsch
das sehe ich auch so, wenn ich mich sektiererisch verhalte, kann ich gleich meine eigene Partei gründen, dann brauche ich mit keinem mehr zu diskutieren.
Eine Optimierung der Staatsgewalt, und auch die anderen Ziele, die Felix nennt sind okay.
Bei der Umsetzung entstehen die Probleme. Bei den Fernzielen ist man sich in der eigenen Partei meist einig. Erst bei der Umsetzung entstehen die Probleme, da beginnen die Diskussionen und am Ende die Kampfabstimmungen.
Das ist doch das Schwierige an der Demokratie.
Wenn ich gekämpft habe, kann ich aber mit einer verlorenen Abstimmung meist leben und weiter kämpfen für das nächste Ziel.