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THEMA:   Denkzettel für Nichtwähler

 11 Antwort(en).

kh begann die Diskussion am 23.04.02 (09:34) mit folgendem Beitrag:

Jetzt ist das große Heulen und Zähneknirschen angesagt, weil in Frankreich Le Pen in die Stichwahl kam.
Erinnert Ihr Euch noch an die Diskussionen hier im Forum zur Bundestagswahl und an die Beiträge, die verbissen an der Sinnhaftigkeit des Nichtwählens festgehalten haben? Denen sei dieses Wahlergebnis ins Stammbuch geschrieben! Gezählt werden eben nur die Stimmen derer, die zur Wahl gehen. Wer das nicht tut, verzichtet auf seine Gestaltungsmöglichkeit in der politischen Landschaft, das ist eben die Realität!


Felix Schweizer antwortete am 23.04.02 (09:42):

Hallo kh ...
Leider hast du recht. Soeben wollte ich einen Beitrag über die Wahlen in Frankreich schreiben. In unserer Nachbarregion dem Elsass hat Le Pen sogar die Mehrheit der Stimmen erhalten ... das gibt mir zu denken.
Aber darüber später ... ich muss weg!


Günter Paul antwortete am 23.04.02 (10:38):

Nichtwähler hin, Nichtwähler her. .... Wenn selbst der „Wahlsieger“ weniger als 20% der Wählerstimmen auf sich vereinigt, ist das ein beschämendes Ergebnis. Wenn 14 Kandidaten zur Präsidentenwahl gegeneinander antreten, ist die Gefahr von Zufalls- und Fehlentscheidungen eben sehr groß. - Das hätten die Parteispitzen voraussehen können. .... Aber das müssen die Franzosen unter sich ausmachen.

für uns würde ich die Schlußfolgerung ziehen: Die Chancen eigener Kandidaten gründlich einschätzen und lieber auf eigene Kandidaten verzichten und die einer anderen politischen Gruppierung orientieren, auch wenn diese den eigenen Auffassungen und Ansprüchen nicht entsprechen. - Ist immer besser als die Wähler zu verunsichern und Rechtsextremen Zufallserfolge zu ermöglichen.

Im übrigen habe ich mich zum Nichtwählen schon hinsichtlich der Sachsen-Anhalt-Wahl geäußert. Spaß- und ähnliche Parteien haben dem Wahlergebnis dort auch nicht gut getan.

Günter Paul


Wolfgang antwortete am 23.04.02 (11:12):

Das "große Heulen und Zähneknirschen" kommt mir etwas übertrieben vor... Schon bei der letzten Präsidentenwahl hat Jean-Marie Le Pen - Führer der rassistischen Front National (FN) - um die 15 Prozent eingefahren. Jetzt waren es 2 Prozent mehr als damals, was Le Pen - und das ist neu - die Möglichkeit der Stichwahl gegeben hat. So ganz unerwartet kommt also der Erfolg von Frankreichs Rechtsextremen nicht, wie Marc Zitzmann - der Kommentator der NZZ - meint (siehe Link).

Da sich ein breites Pro-Chirac-Bündnis abzeichnet von extrem links bis rechts, steht Le Pen mit seiner FN alleine da. Der alte Präsident wird wohl auch der neue Präsident sein. :-)

Frankreich über alles
Die Weltanschauung des französischen Front National
Von Marc Zitzmann


Wolfgang antwortete am 23.04.02 (11:53):

Noch eine Analyse der Wahl in Frankreich und eine mögliche Ursache für das schlechte Abschneiden von Lionel Jospin - des sozialistischen Kandidaten für das Präsidentenamt... Zitat:

[...] Der Durchschnittsfranzose hat den Eindruck, Opfer einer privilegierten Kaste zu sein, die sich an ihre Privilegien klammert, gleichgültig wie hoch die Kosten sind und wie groß die Verwirrung ist, in die das Land gestürzt wird. [...] (Michael Tournier, Frankreichs vergessene Krankheit, FAZ v. 23.04.2002)

Ich glaube, wenn Tournier den 'Durchschnittsdeutschen' begutachten würde, müsste er zur gleichen Einschätzung kommen. :-)


Felix Schweizer antwortete am 23.04.02 (13:03):

... würde ich auch annehmen Wolfgang ... auch andere europäische Staaten ... die Schweiz inbegriffen ... schneiden kaum besser ab.
Dass aber ausgerechnet eine erstarkte Gruppe in Frankreich, das unter der Naziherrschaft leiden musste, die gleichen Töne anschlägt, wie die damaligen Rassisten mit ihrer braunen Gesinnung. Die Bewegung "Front National" unterscheidet sich gegenüber den Neonazis nur in Details. z.T. werden in der Propaganda die gleichen Phrasen verwendet.
Im Gefolge von Le Pen findet man durchaus Verehrer des Marschall Pétain, Marionette Nazideutschlands, Judenhasser, ehemalige Angehörige der Waffen SS ... und sonstwie widerliches Pack.
Le Pen verspricht der verunsicherten Bevölkerung mit der aufkommenden Kriminalität entschlossen aufzuräumen. Niemand fragt nach den Nebenwirkungen eines solchen Regimes.
Wie Gegendemonstrationen zeigen ... schämen sich auch viele Franzosen ... vielleicht gehen das nächste Mal wieder mehr an die Urne!


Wolfgang antwortete am 23.04.02 (13:25):

Ich bin mir sicher, Felix, dass bei der Stichwahl die WählerInnen der 'gauche plurielle' - PSF und PCF, MdC, Grüne und radikale Linke - gemeinsam das Ergebnis vom 21. April wieder korrigieren werden.

Chirac wird Präsident bleiben. :-)


kh antwortete am 23.04.02 (18:33):

Desillusionierend, wenn man für die Stichwahl nur mehr die Wahl zwischen einem Rechtsextremen und einem Korruptionär hat, den nur die Immunität vor den Gerichten schützt. Arme Grande Nation!
Außerdem, wenn sich die Linke nicht so verzettelt hätte, wäre alles anders gelaufen. Die Kandidaten der einzelnen linksradikalen bis trotzkistischen Kleinparteien haben zusammen mehr als 20 % der Stimmen erhalten.


schorsch antwortete am 23.04.02 (19:42):

Nicht zu vergessen: In Frankreich wird zentral regiert. Als negatives Ergebnis davon nimmt auch der Einfluss der Menschen auf die zentrale Politik im Verhältnis zu ihrer Distanz zu Paris ab. Darum fühlen sich die Wähler, die weit weg von der Hauptstadt wohnen, nicht ernst genommen und nehmen die Gelegenheit wahr, bei Wahlen den "Machthabern" eins auszuwischen. Sowas könnte natürlich in die Hosen gehen und einen Hasser wie Le Pen an die Macht schwemmen. Es würde zwar nicht lange dauern bis seinen Wählern die Augen aufgehen würden. Aber bis dann könnte Le Pen in Europa ein totales Chaos anrichten.

Schorsch


Wolfgang antwortete am 24.04.02 (10:16):

Ich denke, es ist Zeit, sich einzugestehen, dass Faschisten auf dem Vormarsch sind, nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland und anderswo. Zwar äussert sich hierzulande der erstarkte Faschismus (noch) nicht in Form eines herausragenden politischen Führers... Aber überall in Deutschland ist der Rassismus, die Fremdenfeindlichkeit zu spüren. Und die amtierende politische Kaste, besonders die der CSU/CDU mischen kräftig mit.

Vom Boot, das voll sei, ist die Rede... Von Überfremdung... Von islamischer Gefahr... Von zuviel Ausländern... Vom Aussterben der 'Deutschen'... Von 'deutscher Leitkultur'...

Du hast es in einem anderen Thema schon gesagt, Schorsch... Faschisten konstruieren ihre "Fremden" und bedienen sich je nach Opportunität und Laune bei Arbeitslosen, Türken, Muslimen, Juden... (die Aufzählung ist nicht erschöpfend).

Kern der faschistischen Ideologie ist die Fremdenfeindlichkeit. Das macht diese Ideologie so 'erfolgreich', denn Fremdenfeinde gibt es massenhaft.

Gewalt und Fremde als Erklärungsmuster für die Welt
Die perfide Sprache des Rechtsextremisten Jean-Marie Le Pen und die Struktur seiner Wählerschaft / Von Christine Bauhard
https://www.fr-aktuell.de/fr/160/t160001.htm

Die Front National und Le Pen
Der Front National in Frankreich: Ideologie, Politikverständnis, Wähler einer rechtsextremen Partei / Von Christine Bauhardt
https://www.fr-aktuell.de/fr/160/t160002.htm

(Internet-Tipp: https://www.fr-aktuell.de/fr/160/t160001.htm)


Felix antwortete am 24.04.02 (11:18):

Danke Wolfgang für deine aufschlussreichen Links ... interessante Analysen!


Wolfgang antwortete am 26.04.02 (23:24):

Noch eine Wahlanalyse, von einem sozialistischen Standpunkt aus:

Wer hat Le Pen gewählt? (von PETER SCHWARZ)
https://www.wsws.org/de/2002/apr2002/fran-a26.shtml

P.S.: Ich lese jetzt erst bewusst das Thema... 'Denkzettel für Nichtwähler'... Ich glaube, das war eher ein Denkzettel für die derzeit herrschende politische Kaste und eine unmissverständliche Aufforderung, sich endlich um die Sorgen und Ängste der 'kleinen Leute' zu kümmern.

(Internet-Tipp: https://www.wsws.org/de/2002/apr2002/fran-a26.shtml)