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Übersicht Archiv "Politik und Gesellschaft"

THEMA:   Die Bedeutung der Empfehlung von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei

 43 Antwort(en).

Karl begann die Diskussion am 06.10.04 (19:12) :

Die EU-Kommission hat heute den Staats- und Regierungschefs der EU empfohlen auf ihrem Gipfel am 17. Dezember der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zuzustimmen. Es gilt als relativ sicher, dass dies im Dezember auch geschehen wird. Damit hat die Türkei auf ihrem langen Weg nach Europa ein wichtiges Zwischenziel erreicht. Seit Jahren schon hat die Aussicht auf EU-Mitgliedschaft sehr viel in der Türkei bewegt und es ist klar, dass auch weiterhin viel getan werden muss, um die heutige Türkei so zu transformieren, dass sie vielleicht im Jahr 2020 - nach erfolgreichen Verhandlungen - der EU beitreten kann.

Die westlich orientierten Türken sehen dies als eine enorme Chance, um ihr Land weiter zu einem modernen Staat zu entwickeln. Den religiösen Fundamentalisten ist diese Entwicklung ein Dorn im Auge, aber sie werden sich gegen die jetzt entstehende Dynamik nicht stemmen können. Bereits die Aussicht auf die EU-Aufnahme wird einen Wirtschaftsboom in der Türkei auslösen (das wage ich einmal als Prognose) und auch Firmen aus der EU werden versuchen, sich rechtzeitig zu positionieren.

für die "alte" EU (mit vielen neuen Mitgliedern) wird bereits die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht ohne Folgen sein. Bereits in dieser Zeit der Verhandlungen (die Beipiele der Vergangenheit lehren es) wird der wirtschaftliche und kulturelle Austausch mit der Türkei zunehmen. Dies ist nicht unbedeutend, denn die Türkei ist bevölkerungsmässig und geografisch ein großes Land. Ich bin auch der Auffassung, dass sich nach der heutigen Empfehlung in Brüssel und der zu erwartenden Entscheidung im Dezember auch die Integration der bei uns lebenden Türken besser entwickeln kann als wenn die EU der Türkei gegenüber wortbrüchig geworden wäre und die Verhandlungen über einen Beitritt abgelehnt hätte.

Wir sollten den Türken eine echte Chance geben, aber auch nicht vergessen, den Druck zu machen, der nötig ist, damit sich die heutige Türkei beitrittsfähig macht. Enorme Anstrengungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen werden hier noch von der Türkei erwartet.

Findet diese Transformation der Türkei statt und kommen die Verhandlungen zu einem erfolgreichen Ende, dann können alle Bürger Europas davon profitieren. Ich persönlich hoffe sehr, dass diese Chancen der Entwicklung begriffen werden und die tatsächlich einsetzenden Veränderungen langfristig auch zu einem Umdenken in den Bevölkerungen der bisherigen EU-Staaten führen, die mehrheitlich den Beitritt der heutigen Türkei ablehnen würden. Dieser Tatbestand, das ist jedoch zu befürchten, wird von politischen Rattenfängern ausgenutzt werden, um auf der Welle von anti-türkischen Ressentiments Wahlen zu gewinnen. Dies möge nicht gelingen!


jo antwortete am 06.10.04 (19:46):

"die mehrheitlich den Beitritt der heutigen Türkei ablehnen würden"

Das ist aber interessant von Dir zu lesen - Du bist doch ein Befürworter der direkten Demokratie und von Volksabstimmungen wie in der Schweiz? Räumst Du mithin von vorneherein ein, daß ein Beitritt der Türkei zur Europäischen Union (EU) - die Türkei ist kein europäisches Land - keine Chance hätte, von der Bevölkerung der bestehenden EU angenommen zu werden?


York65 antwortete am 06.10.04 (21:21):

@jo
dann müßte natürlich die "EU" auch umgetauft werden,wie auch die neue "Europäische Verfassung".Aber sei wie es sei,wir werden wieder nicht gefragt,wie es bei anderen politischen Grundsatzfragen in der Vergangenheit auch schon geschehen ist.


Karl antwortete am 06.10.04 (21:26):

@ Jo,

erstens, ich bin mir nicht bewusst, jemals die direkte Demokratie auf Bundesebene verfochten zu haben. Ich bin da eher skeptisch und denke, dass die repräsentative Demokratie in Staaten wie der Bundesrepublik schon ok ist. Auf kommunaler Ebene sollte die direkte Demokratie aber gestärkt werden.

Zweitens, ich bin von dem ungenauen Lesen meines Textes enttäuscht. Ich schrieb. "Findet diese Transformation der Türkei statt und kommen die Verhandlungen zu einem erfolgreichen Ende, dann können alle Bürger Europas davon profitieren. Ich persönlich hoffe sehr, dass diese Chancen der Entwicklung begriffen werden und die tatsächlich einsetzenden Veränderungen langfristig auch zu einem Umdenken in den Bevölkerungen der bisherigen EU-Staaten führen, die mehrheitlich den Beitritt der heutigen Türkei ablehnen würden."

D. h., ich bin der Auffassung, dass die Entwicklung der Türkei über die 15 Jahre der Beitrittsverhandlungen die Chance beinhaltet, dass sich die Meinung in den Bevölkerungen dreht. Heute 3 jährige Kinder werden dann Wahlrecht haben. Es ist sehr gut möglich, dass zu diesem Zeitpunkt Volksabstimmungen zum Beitritt in einigen Ländern stattfinden werden. Es liegt auch in den Händen der Türkei, den Ausgang dieser Abstimmungen zu beeinflussen.

Über die bevorstehende Aufnahme der Beitrittsverhandlungen bin ich richtig glücklich, den ich sehe eine große Gefahr abgewendet und bin zuversichtlich, dass nun die Türkei weiterhin ihre positive politische Entwicklung fortsetzt.


schorschie2 antwortete am 06.10.04 (22:41):

Ich hoffe,dass letzlich der Beitritt der Türkei in die EU scheitert.Erdogan hat Kreide gefressen und es geht einzig und allein um die fetten EU-Subventionen.Die Türkei ist für mich nicht Europa und sie wird ihre immensen kulturellen Unterschiede der EU nicht anpassen.Nachwievor Ehrenmorde an der Tagesordnung,Zwangsverheiratung, Gewalt in den Familien usw.All dies wird rechtlich bis heute kaum geahndet,was wollen wir mit so einem Partner,die Mehrheit der Bevölkerung lehnt schon lange diesen Beitritt ab und ich hoffe,dass es bei Wahlen auf die Tagesordnung kommt,dann werden die Befürworter sehr schnell eine Minderheit sein.


guenter antwortete am 06.10.04 (22:55):

Hallo Freunde,
man muß in der Türkei, die westlich orientierten Städte, wie Istanbul, Ankara und die Urlaubsgebiete am Mittelmeer und das tiefste Anatolien, wo es im Umkreis von 50 Kilometern kein Rolle Toilettenpapier gibt, unterscheiden. Während es auf der einen Seite hochgebildete und ausgebildete Türkinnen gibt, können die anderen kaum lesen und schreiben. Und genau diese, im Grunde bedauernswerten Menschen streben nach Europa. Immer im Glauben die Deutschen sind und waren unsere Freunde. Immerhin waren die Türken im ersten Weltkrieg außer Österreich, die den Krieg begannen, unsere einzigen Verbündeten und die Legendäre Bagdad-Bahn wurde von Deutschen geplant. Übrigens die Türkei hat nach dem ersten Weltkrieg fast 80% ihres Staatsgebietes auf drängen des Vereinten Königreichs (England) verloren, darunter heutige Länder wie Saudi Arabien, Irak, Syrien, Libanon, Israel und die vereinigten arabischen Emirate. Das Militär in der Türkei, auf Kemal Atatürk eingeschworen, war ein Stabilisator im Lande, ob eine nach westlichen Muster orientierte Demokratie im Stande ist den konservativen Islam aufzuhalten bezweifele ich.
Gruß Günter


Medea. antwortete am 06.10.04 (23:04):

Sehr eigenartig:

wieso kann die Türkei nicht auch aus eigenem Anlaß, d.h. eben nicht nur vor dem Hintergrund einer evtl. EU-Aufnahme,
eine positive politische und gesellschaftliche Entwicklung
durchlaufen?

Sind denn die überfälligen Reformen nur dann interessant, wenn es dafür etwas einzuheimsen gibt?
Erinnert fatal an das Feilschen auf einem orientalen Basar.


Karl antwortete am 06.10.04 (23:04):

Ich freue mich, dass auch Richard von Weizsäcker meine Meinung teilt. Ich habe in ihm immer einen integren Politiker mit Weitblick gesehen.

Internet-Tipp: https://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,321626,00.html


mart antwortete am 07.10.04 (00:56):

Zitiert aus R.v.Weizsäckers Statement:

<<Europa ist von 1,5 Milliarden Muslime umgeben. Im Umgang mit ihnen brauchen wir eine rechtsstaatliche demokratische Türkei<<

Klingt in meinen Augen etwas seltsam.


Ja auf der Welt leben ca. 1,5 Milliarden Muslime, davon einige Millionen auch in Europa und 300 Mill.in den arabischen Staaten.

Wird die Türkei tatsächlich von den arabischen Staaten und von ihrer Bevölkerung als gleichwertiger Partner anerkannt?


Felix antwortete am 07.10.04 (00:58):

Wer wird wohl zuerst in der EU sein? ... Die Türkei mit ihren wirtschaftlichen Interessen .... oder die Schweiz mit ihren Sonderwünschen?
Bei uns läuft nichts ohne Volksabstimmung. Die Ablehnung der direkten Demokratie bei so einschneidenden Entscheiden, kann ich einfach nicht verstehen! Es sei denn ... man habe Angst vor der Meinung des eigenen Volkes!
Sehr demokratisch wäre das allerdings nicht!

Also ... es lebe die Parteiaristokratie oder der Politfeudalismus.


greisi antwortete am 07.10.04 (01:14):

Ich hätte mal ein paar (zugegeben bewusst) blöde Fragen:

1) Wieso gehört die Türkei nicht zu Europa?
2) Inwiefern unterscheidet sich die gesellschaftliche Rückständigkeit von Teilen der türkischen Gesellschaft von der selbigen in -sagen wir mal- Sizilien, Appenzell oder dem nächsten Fussballvereinslokal abends nach 22 Uhr?
3) Inwieweit unterscheidet sich das Expansionsbestreben der EU von den selbigen historischer, aufsteigender Imperien (ausser dass sie nicht kriegerisch erfolgt)?
4) Welche Teile der Förderinvestitionen der EU fliesst nicht wieder zurück in die Taschen jener, die dann dorthin Technologie, Infrastruktur oder know-how liefern?

Freue mich auf erhellende Antworten...


jo antwortete am 07.10.04 (10:20):

1. Die Türkei heißt gelegentlich auch Klein-Asien, niemals aber Klein-Europa.

2. Keine Ahnung, in den nicht zuletzt von Deutschen frequentierten Urlaubsgebieten mag da kein Unterschied bestehen.

Ich hoffe, daß in Appenzell Folter und Frauendiskriminierung nicht mehr vorkommt.

3. Die EU expandiert nicht, sondern nimmt neue Mitglieder auf. Die nächsten werden übrigens Rumänien und Bulgarien sein, noch vor der Türkei.

4. Die Fördermitel werden wohl zunächst einmal, wie üblich, in großem Umfang in die, wie man hört, rückständige Landwirtschaft dort fließen. Die Gefahr, daß sich mit einem Rückfluß hier jemand die Taschen füllt, besteht damit nicht.

Zur als Thema gestellten Frage:

Die Bedeutung der inzwischen angenommenen Empfehlung ist, daß damit über den Beitritt zumindest eine Vorentscheidung getroffen ist; in meinen Augen ist es eine Entscheidung, allen Beteuerungen ergebnis-offener Verhandlungen zum Trotz.

Man wird nicht mehr zurück können - es wäre das erste Mal, daß am Ende von Beitrittsverhandlungen nicht der Beitritt gestanden hätte, ein Ereignis, das der Münchener Merkur eine "historische Tragödie" genannt hat (weiteres Zitat: Nach dem von Schröder und Chirac systematisch betriebenen Beitritt der Türkei wird die Europäische Union keine christlich-abendländische Schicksalsgemeinschaft mehr sein, sondern nur noch eine x-beliebige Freihandelszone), hier die URL, Titel: Schröder's Verrat an Europa.

Internet-Tipp: https://www.merkur-online.de/nachrichten/politik/meinung/87,329275.html


Medea. antwortete am 07.10.04 (10:29):

Wieso gehört Singapur nicht zu Europa? könnte fast genauso gut gefragt werden.

Weil es dort nun einmal geografisch nicht liegt .....

- auch wenn die Geschäftsbeziehungen gut florieren. :-))


Medea. antwortete am 07.10.04 (10:36):

Felix -

ja, ich fürchte, die meisten Politiker haben Angst vor der ehrlichen Meinung ihres Volkes -

das scheint leider nicht nur in den sogenannten Entwicklungsländern zu sein .....

Volksbefragungen, also echte Basisdemokratie, wird wenig
forciert -

eine Änderung des Grundgesetzes wäre schon möglich, aber ....siehe oben ...

Ich bleibe dabei: wo ein Wille ist, wäre auch ein Weg ....


greisi antwortete am 07.10.04 (11:11):

@jo,

danke für die Antworten:
zu 1) hab ich verstanden, was zumindest die Geographie betrifft.
zu 2) also in Appenzell gibt es vermutlich keine Folter, sicher aber Frauendiskriminierung.
zu 3) hm, aber das Ergebnis ist ein politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich verbundener Block, der doch viele Eigenschaften von einem Imperium hat.
zu 4) Also wenn sie in die Landwirtschaft fliessen, dann doch in Infrastrukturmassnamen, die in Westeuropa eingekauft werden.

Zum Münchner Merkur muss ich nur sagen, dass diese Typen wohl vergessen haben woher das Christentum kam. Soweit ich weiss nicht aus Europa. Ist ja auch schon so lange her, dass selbst diese ewig gestrigen keine Ahnung mehr haben.


greisi antwortete am 07.10.04 (11:13):

@medea

Also Singapur gehört geographisch nicht zu Europa. Verstanden. Aber warum gehört dann Gujana zu Frankreich obwohl es auf der anderen Seite des Planeten liegt?


BarbaraH antwortete am 07.10.04 (11:23):

Habt ihr euch schon einmal gefragt, was die Alternative hätte bewirken können?

Nach vierzig Jahren der Hoffnung und einer gerade in jüngster Zeit rasanten Entwicklung hin zu Europa wäre die Tür geschlossen worden. Die Türkei würde sich in eine andere Richtung orientieren.

Wäre das den Kritikern lieber?

Internet-Tipp:
Frankfurter Rundschau vom 07.10.04
Auf dem Weg der Vernunft
https://www.frankfurter-rundschau.de/ressorts/nachrichten_und_politik/die_seite_3/?cnt=519417
VON MARTIN WINTER

Internet-Tipp: https://www.frankfurter-rundschau.de/ressorts/nachrichten_und_politik/die_seite_3/?cnt=519417


mart antwortete am 07.10.04 (11:41):

Ich finde, daß dieses Argument "Die Türkei würde sich sonst in eine andere Richtung entwickeln" als schwächstes Pro-Argument.

Es ist in der Tat eher ein Contra-Argument.

Ich stelle mir lebhaftest die Reaktion von türkischer Seite vor, wenn analog wie über Österreich einmal Sanktionen von Seiten der EU Staaten verhängt werden.


Vor allem, wenn ich mir vorstelle, daß die Türkei nach der neu zu beschließenden EU-verfassung dann jede Entscheidung blockieren kann.


Tobias antwortete am 07.10.04 (12:55):

Die meisten Beiträge behandeln das Thema, als ob der Eintrittstermin der Türkei in die EU vor der Tür steht.
Erst in 10 - 13 Jahren wird ein Beitritt möglich sein und bis dahin kann sich viel verändern. Da könnte man doch die Frage stellen, will die Türkei überhaupt zu diesem späten Zeitpunkt noch in die EU ?

Ich wäre für den Beitritt, da aber diese lange Zeitspanne vorgegeben ist, mach ich mir darüber keinen heißen Kopf.


jo antwortete am 07.10.04 (12:56):

@"Greisi"

Es gibt das sogenannte France Outremer, das sind überseeische Gebiete, die politisch zu Frankreich gehören, deswegen aber noch längst kein europäisches Territorium sind.

Dem von mir zitierten Kommentar stimme ich zu, und da stehe ich bestimmt nicht alleine. Das Christentum kann hergekommen sein woher es will - das hat doch mit dem aktuellen Problem wahrhaftig nichts zu tun.


BarbaraH antwortete am 07.10.04 (13:46):

Da ein möglicher Beitritt in derart weiter Ferne liegt, kann man hier doch sagen:

der Weg ist das Ziel....
oder noch deutlicher: der Weg ist wichtiger als das Ziel

Wer die "christlich-abendländischen" Werte in Gefahr sieht, sollte einmal überlegen, ob dazu nicht auch die Toleranz gehören sollte.


mart antwortete am 07.10.04 (14:06):

Zur Toleranz gehört auch, Menschen, die einen Zeithorizont von ca. 14 Jahren nicht als "in derartig weiter Ferne" bezeichnen und Menschen, die sich mit christlich-abendländischen Werten verbunden fühlen, ebenfalls zu akzeptieren.


In der heutigen taz wagt DILEK ZAPTÇIOGLU auf der Meinungsseite einen kritischen Blick - von der anderen Seite - auf den "Weg", den die Türkei in der Vergangenheit durch das "Freihandelsabkommen" eingeschlagen hat.

(Dilek Zaptçioglu studierte Geschichte und Politik in Istanbul und Göttingen. Heute lebt und arbeitet die EU-Bürgerin als Journalistin und Schriftstellerin in der Türkei. Vor zwei Jahren erschien ihr Buch "Die Geschichte des Islam" bei Campus)




"...Aus dieser Lage muss die Türkei Schlüsse ziehen. Sie muss lernen, Demokratie und Menschenrechte endlich aus eigener Kraft voranzutreiben - und nicht aus Angst vor europäischen Prügeln. Sie muss ihre Beziehungen zur EU auf eine wirklich gleichberechtigte Basis stellen und ihre Wirtschaft wieder selbst in die Hand nehmen, um die materiellen Grundlage für eine eigenständige Entwicklung zu schaffen. Die Zollunion mit der EU muss so weit revidiert werden, dass die Türkei ihre eigene Produktion ankurbeln und sich gezielt vor der hemmungslosen Einfuhr von europäischen Waren schützen kann. Der türkische Staat muss sich mit dem Weltwährungsfonds und der Weltbank an den Tisch setzen und seine Schulden neu ordnen, damit er nicht mehr wie heute 60 Prozent seines Etats allein für Zinsen aufwenden muss.

Eine gute Sozialpolitik und eine sanierte Wirtschaft werden die Grundlagen besserer Beziehungen innerhalb der türkischen pluralistischen Gesellschaft und zu Europa darstellen. Die Alternative ist, "Verhandlungen" zu den fragwürdigen Bedingungen Brüssels aufzunehmen, deren erfolgreicher Abschluss von der EU nicht einmal versprochen wird. Die "Einmischung" der EU wird dann von den wirklichen Nationalisten in der Türkei täglich bekämpft werden, sodass die Demokratisierung erst recht gefährdet ist. Die Bevölkerung ist jetzt schon verunsichert, ob der eingeschlagene Weg der richtige sei. Kein Investor kommt in die Türkei, wenn ihr EU-Beitritt nicht gesichert ist. Jeder vernünftige EU-Bürger sollte heute gegen die Aufnahme von heuchlerischen Verhandlungen und für eine wirkliche eigenständige Entwicklung der Republik Türkei eintreten - denn nur so kann diese wirklich zum gleichberechtigten Partner werden."

Internet-Tipp: https://www.taz.de/pt/2004/10/07/a0211.nf/text


Tobias antwortete am 07.10.04 (14:30):

Sicher mart, man kann sich die Sache hinbiegen wie man will.
Aber auch du hättest 1974, im kalten Krieg, nicht den Zeithorizont gehabt, dass eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaaten 1990 möglich gewesen wäre. Mit Toleranz hat dies meiner Ansicht nach überhaupt nichts zu tun, oder weisst du ob in 4 -6 Jahren diese EU als etziges Gebilde überhaupt noch existiert ? Wie sich die Türkei und auch die EU in den nächsten Jahren entwickelt, ist doch nicht vorhersehbar.

Ich hoffe auf eine gute Zukunft, auch mit der Türkei in der EU.


Medea. antwortete am 07.10.04 (14:38):

Nun greisi -
so simpel wie Deine Fragen bist Du ja gar nicht ... :-))

Kaffee und die Kartoffel kommen auch nicht aus Europa, sind dort aber im Laufe der Jahrhunderte geradezu
'europaisiert' worden. - lach

Dagegen ist wohl eine europäische Türkei schlecht vorstellbar - der Umkehrschluß dürfte eher angestrebt werden ....


Medea. antwortete am 07.10.04 (14:47):

Lieber Tobias,

Du machst Dir heute keinen heißen Kopf darüber, wie die Situation in Europa in 10 bis 12 Jahren aussehen wird - nun, die Frage ist, ob Du oder ich dann noch auf dieser Erde weilen ....

Den heißen Kopf aber werden spätestens unsere Enkel bekommen, die dann auszubaden haben, was ihre Großväter und Großmütter und ihre Eltern da so kurzsichtig angestellt haben .....


Felix antwortete am 07.10.04 (15:52):

@ greisi

Ich weiss ja nicht in welchem hochkultivierten Teil Europas D U aufgewachsen bist und zur Zeit lebst?
Dein Beispiel mit Appenzell, du müsstest noch präzisieren welches von beiden du meinst, zeugt nicht von besonderer Bildung sondern eher von arroganter Ignoranz.

"...Inwiefern unterscheidet sich die gesellschaftliche Rückständigkeit von Teilen der türkischen Gesellschaft von der selbigen in -sagen wir mal- Sizilien, Appenzell oder dem nächsten Fussballvereinslokal abends nach 22 Uhr?.."

oder weiter unten:

"...also in Appenzell gibt es vermutlich keine Folter, sicher aber Frauendiskriminierung."

Vermutlich spielst du auf den Umstand an, dass der Kanton Appenzell i.R. das Frauenstimmrecht als letzten in der Schweiz eingeführt hat.
Als einer der letzten Orte auf der Welt gibt es hier noch eine Landsgemeinde, wo jeder Stimmberechtigte mitreden kann. Abstimmungen werden durch Handzeichen entschieden. Die Frage des Frauenstimmrechtes war also nicht einfach eine Diskriminierung der Frau, sondern auch eine praktische traditionelle Angelegenheit.
Eine der jüngsten Ministerinnen Europas, die Bundesrätin Ruth Metzler, stammte auch aus diesem "frauenfeindlichen" Kanton.
Viele Deutsche Politiker/innen könnten sich in Sachen Aufgeschlossenheit eine Scheibe abschneiden!

Wer Appenzell Innenrrhoden kennen lernen will, statt darüber dumm zu schnöden, sehe sich in der HP etwas um!

Internet-Tipp: https://www.ai.ch/de/


schorschie2 antwortete am 08.10.04 (12:07):

Es sollte auch nicht vergessen werden,dass die Ehefrau von Erdogan,das Kopftuch trägt,wie im Iran die Fundamentalisten.Es scheinen sich auch wenige mit der Vergangenheit von Erdogan befaßt zu haben,der plötzlich über Nacht zum Demokraten wird, dann würde man begreifen,er geht in die Institutionen,um den Islamismus Europaweit zu verbreiten.Dieser Mann ist ein Wolf im Schafspelz äußerst rafiniert,wie er die deutschen Polit-Versager am Nasenring durch die Arena führt.Es reicht nicht aus,dass Rot/grün den Staat von innen bereits ruiniert hat,jetzt muß die Außenpolitik auch noch herhalten.


Medea. antwortete am 08.10.04 (12:30):

Sehr interessant und spannend war die gestrige Spätsendung im ZDF zur Frage der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei.
Herr Verheugens Töne waren schon viel moderater in der Diskussion u.a. mit Herrn Schäuble, Alice Schwarzer, einem Historiker und einer türkischen Rechtsanwältin.
"Ja zur Freundschaft, nein zum Beitritt" war die Botschaft von Alice Schwarzer, denn "Menschenrechte und Frauenrechte müssen ja erst in die Mentalitäten und die Köpfe der dortigen Bevölkerung gehen".
Von der Beitrittsreife ist die Türkei noch weit entfernt, die türkische Demokratie müsse erst richtig gefestigt werden, was aber absolut nicht sicher sei. Bisher war, so abstrus das klingt, es ja gerade das Militär, das über die Demokratie wachte im Sinne von Ata Türk.
Das sei auch keine türkeifeindliche Einstellung - allerdings müßten die Verhandlungen optionsoffen geführt werden, da schon der Eindruck in der Öffentlichkeit entstanden sei, daß der Beitritt bereits beschlossene Sache ist.
Erdogan ist umstritten, er war Islamist und soll sich nun plötzlich innerhalb von zwei Jahren derart gewandelt haben?
Schwer zu glauben, zumal seine Frau und Töchter das islamistische Kopftuch tragen und sein Sohn gerade eine sechzehnjährige geheiratet habe.
So recht paßt das alles nicht zueinander.
Zweifel sind schon angebracht.

Wie gesagt, eine hochinteressante Diskussion.


mart antwortete am 08.10.04 (13:38):

Bei uns war Scholl-Latour bei einer Diskussion, wo er das, was er schon vor längerer Zeit geschrieben hatte, bekräftigte: ein Wahnsinn!


mart antwortete am 08.10.04 (17:21):

Auf die Frage, ob die Türkei in die EU soll, antwortete im März 2004 Peter Scholl-Latour:

„Nein. Ich schätze Regierungschef Erdogan. Ich habe große Hochachtung vor den Türken. Aber am Ende steht eine islamische Republik. Sie hat heute 70 Mio. Einwohner. Bald wäre sie die größte Nation der EU. 10 Mio. Türken würden nach Deutschland zuwandern. Es gäbe keine deutsche Nation mehr - und kein Europa, wie wir es kennen. Es käme zum Kulturschock - und zur Gewalt.“


Medea. antwortete am 08.10.04 (17:49):

Leider ist das auch meine düstere Vision ....

Sollten "wir" das wirklich wollen?


jeanny antwortete am 08.10.04 (18:03):

jacques chirac,sagte am 1.oktober in strassburg,

dass er eine änderung des französischen grungesetzes
in erwägung zieht,und den franzosen so die möglichkeit
gegeben wird durch ein referendum zu entscheiden
ob die türkei in die eu.aufgenommen werden soll.

erdogan war gar nicht begeistert von dieser idée.


jo antwortete am 08.10.04 (20:23):

Das wäre sicherlich die beste Lösung, Volksreferenden durchzuführen bzw. zunächst natürlich erst einmal zu ermöglichen. Dann erledigt sich die Frage mit Sicherheit.

Allerdings wäre es zu erwarten, daß die vom Volk gewählte politische Führung die Interessen ihres Landes und der Menschen darin wahrt - darauf sind sie schließlich vereidigt.


greisi antwortete am 09.10.04 (02:04):

@Appenzeller :-)
Also tut mir leid, wenn ich den Kanton Appenzell, den ich tatsächlich nur aus meinen Vorurteilen heraus kenne ungerechtfertigt beleidigt habe.

Immerhin kam von Felix ein Hinweis für eine Erklärung auf die immerhin erstaunlich späte Einführung des Wahlrechtes für Frauen: "Praktische Tradition".
Nun, auf die Türkei bezogen sollte man ja evtl. auch daran denken, dass viele der türkischen Eigenarten die uns in Westeuropa zurecht sauer aufstossen, lediglich aus praktischer -bzw. nicht hinterfragter- Tradition bestehen. Eine neue Generation, die Aufgrund der stärkeren Annäherung in den nächsten Jahrzehnten, stark europäisch orientiert ist, können diese vielleicht problemlos über Bord werfen. Denn vieles was von uns und von Teilen der Türken als islamisch bzw. sonstwie religiös begründet wird, hat bei genauem Hinsehen mit dem Islam nichts zu tun.
Appropos Kopftuch. Meine Grossmutter pflegte noch meine Mutter damit zu nerven, dass sie ein Kopftuch tragen musste wenn sie das Haus verlässt, nicht weil es kalt draussen war, sondern einfach weil sich das so gehört.

Ich glaube die türkische Gesellschaft ist im Prinzip schon in der Lage sich in Richtung der europäischen Grundprinzipien und Werte zu entwickeln. Und wenn ich das richtig verstehe ist das ja auch die Vorraussetzung für eine Aufnahme in die EU. Tut sie es nicht, dominieren womöglich sogenannte islamistische Tendenzen, dann gibt es eben keine Aufnahme.

Insgesamt halte ich es für unnötig die Grenzen von Europa geographisch zu definieren. Ich halte es für völligen Unsinn die europäischen Werte als christlich zu bezeichnen. Das Christentum hatte einen Einfluss auf unsere Gesellschaft, aber es ist nur einer von vielen.

Türkische und arabische kultureinflüsse haben längst unseren Alltag in den letzten Jahrzehnten unübersehbar umgeformt. Aber wer weiss, vielleicht geht es uns allen ja genau deshalb so schlecht :-)


Karl antwortete am 09.10.04 (09:22):

@ greisi,

ich stimme dir zu, dass das geografische Argument gegen die Türkei schwach ist, ich meine sogar "lächerlich".

Ich stimme Dir aber nicht zu, wenn Du schreibst "Türkische und arabische Kultureinflüsse haben längst unseren Alltag in den letzten Jahrzehnten unübersehbar umgeformt.", falls dies implizieren soll, dass solche Einflüsse nicht schon früher da waren.

Die Türken und die Araber waren schon immer ein Faktor in der Europäischen Geschichte. Die Türken standen schon einmal vor Wien. Die Mauren beherrschten Spanien. Große Teile des Kulturguts der Griechen, z. B. die Schriften der antiken Philosophen, sind zu uns über die arabische Welt gelangt. Unsere Zahlen heißen sogar "arabische Zahlen" - und wer liebt nicht das Schachspiel?

Die Sprache ist überhaupt verräterisch. Viele Lehnwörter stammen aus dem Arabischen, z. B. Algebra, Ziffer, Scheck, Zucker, Kümmel, Karaffe, Kittel, Jacke etc., etc.

Das heißt, die türkischen und arabischen Einflüsse gehen weit über Döner und Kebab hinaus.


mart antwortete am 09.10.04 (14:19):

Abgesehen von der Ethymologie der Wörter (Zucker stammt aus dem Sanskrit, das Zuckerrohr aus Indien, das Schachspiel sehr wahrscheinlich auch aus Indien) und den Weg, den kulturellen Errungenschaften in der Vergangenheit hatten, ist eigentlich die Zukunftsperspektive das Wesentliche.

Bassam Tibi hat, ähnlich wie Peter Scholl-Latour, einen ausgesprochen kritischen und skeptischen Blick auf die zukünftige Entwicklung der EU+Türkei.
Näheres unter folgendem Link:

Internet-Tipp: https://www.ftd.de/pw/de/1092171045977.html?nv=cpm


Medea. antwortete am 09.10.04 (14:51):

Ein Höllen-Szenario
ist die Einschätzung von Prof. Bassam Tibi innerhalb der nächsten zehn Jahre, der ja wie wenig andere die Mentalität seiner muslimischen Landsleute kennt.


jeanny antwortete am 09.10.04 (16:28):

recht bedenklich und beängstigend,dieser text.

der kopftuchstreit ist in den französischen medien fast
komplett verschwunden.die allermeisten mädchen ziehen ihr kopftuch aus bevor sie die schule betreten.
es gibt nur einige wenige ausnahmen.

schon cicero sagte:

wehret den anfängen!

....diejenigen aber, welche die vorkämpfer des staates sein wollen,bleiben sich nicht treu,wenn sie zu leichtfertig sind;wenn sie zu ängstlich sind,lassen sie den staat von vornherein im stich:nur diejenigen halten durch und nehmen alles um des staates willen hin,die von der art sind,von der dein vater ,marcus scaurus,war,der allen aufrührernvon gaius gracchus bis hin zu quintus varius widerstand leistete,
den niemals irgendeine gewalthandlung,irgendwelche drohungen,irgendeine anfeindung ins wanken brachte.


jeanny antwortete am 09.10.04 (16:34):

PS.
kein land der welt,sollte sich von irgendeiner religion,

oder ideologie erpressen lassen.


greisi antwortete am 10.10.04 (00:54):

Das was Leute wie Basam Tibi und Peter Scholl-Latour sagen sollte sicher ernst genommen werden und trifft sicher für einen ganz grossen Teil der Muslime zu. Es ist in der Tat erschreckend wie wenig ein grosser Teil (aber nicht alle) Türken, die seit vielen Jahrzehnten hier leben, integriert sind. Als Gegenbeispiel führe ich aus eigner Anschauung gerne Menschen aus Ostasien an, die sich meist bereits in der 1. Generation vollständig in die westliche Gesellschaft integrieren, die 2. Generation ist von Kindheit bereits nicht mehr zu unterscheiden von den "Eingeborenen". Die Integration findet hier lediglich seine Grenze an der von Basam Tibi angesprochen deutschen Integrationsunfähigkeit.

Dennoch macht ja gerade Tibi klar, dass die daraus wahrscheinlich resultierenden Probleme unabhängig von einem Beitritt der Türkei vehement angegangen werden müssen. Es darf auf keinen Fall passieren, dass sich Fanatiker, denen z.B. in der im Prinzip säkularen Türkei durchaus die Grenzen gezeigt werden, dann hier nach Deutschland absetzen um schrittweise einen Ghetto-Gottes-Staat aufzubauen.

Wie gesagt. Europa steht für mich für eine Reihe von säkularen Werten. Wer hier lebt, oder zu Europa gehören will muss diese nicht nur tolerieren, sondern umsetzten.

An vielen Beiträgen hier stört mich durchaus der "ich habe Angst" - Unterton. Unsere Europäischen Verfassungsmässigen Rechte und Freiheiten wurden sauer erkämpft. Man wird sie auch gegen einen reaktionären Islamismus durchsetzten müssen. Ob die Türkei nun EU Mitglied ist oder nicht. Gerade im Gegenteil es wäre eine Probe aufs Exempel.


rolf antwortete am 10.10.04 (10:03):

Ein türkisches Ehepaar in unserem Wohnblock:
Er trägt den Müll zum Container, sie, mit Kopftuch, geht direkt zum Auto.
Kopftuch ein Zeichen der Unterdrückung?


jo antwortete am 10.10.04 (10:29):

Also, ich finde es etwas merkwürdig, die Frage des Beitritts der Türkei zur EU an einer müllentsorgenden und ein Auto besteigenden Türkin - vielleicht auf dem Beifahrersitz Platz genommen? - festmachen zu wollen. Einzelbeispiele für Alles und Jedes, was man belegen möchte, finden sich bestimmt immer.

Wenn hier aber mal 10.000.000 Türken hereinfluten werden, dann werden deren Frauen sicherlich nicht gleich alle ein Auto besteigen.

Angst davor brauchen übrigens w i r nicht mehr zu haben. Die anstehenden Entscheidungen - die wahrscheinlich de facto schon gefallen sind - wirken weit in die Zukunft.


BarbaraH antwortete am 10.10.04 (11:08):

>>Wenn hier aber mal 10.000.000 Türken hereinfluten werden...<<

Da wird schon wieder kräftig Angst geschürt... hatte ich doch gehofft, die Debatte vom vollen Boot hätten wir hinter uns.

Meine türkischstämmigen Bekannten sind Deutschland und der EU gegenüber aufgeschlossen, intelligent und ausgesprochen fleißig. Unserem schrumpfenden Volk können sie nur gut tun.

Also: cool bleiben und die Türkei über die Jahre auf ihrem Weg hin zu Europa unterstützen.


jo antwortete am 10.10.04 (11:48):

Das ist doch kein Schüren von Angst, sondern lediglich ein Wiederholen dessen, was ja von nun wirklich kompetenter Seite dazu gesagt wurde - die ihre politische Beurteilung nicht auf eine ihren Müll entsorgenden Türkin stützt!