Übersicht Archiv "Politik und Gesellschaft"
THEMA: Fahrenheit 9/11
11 Antwort(en).
Karl
begann die Diskussion am 08.08.04 (00:06) :
Ich möchte darauf hinweisen, dass ich unter "Ferienzeit - Kinozeit" im Forum "Kunst und Literatur" eine ausführliche Rezension von Michael Moores Fahrenheit 9/11 geschrieben habe. Hier wurde schon des öfteren über diesen Film von Leuten geschrieben, die ihn nicht gesehen haben. Ich war deshalb heute Abend selbst im Film und möchte hier nur sagen, er hat meinen Erwartungen nicht entsprochen. Ich war tief beeindruckt.
Internet-Tipp: /seniorentreff/de/diskussion/threads4/thread917.php
|
schorsch
antwortete am 08.08.04 (10:39):
Karl: "....er hat meinen Erwartungen nicht entsprochen. Ich war tief beeindruckt...."
Warst du tief beeindruckt, eben weil er deinen Erwartungen nicht entsprochen hat?
|
Karl
antwortete am 08.08.04 (12:50):
Lieber Schorsch,
ich hatte auf meine Rezension verwiesen. Diese gebe ich hier noch einmal in gekürzter Form wieder: ... Zu Beginn des Films ... wurde viel gelacht, aber diese Spassigkeit ging zunehmend verloren. Nicht nur, aber natürlich auch wegen der Ereignisse am 11. September. Gut das Moore hier darauf verzichtet die Flugzeuge und das Einstürzen der Türme noch einmal zu zeigen. Stattdessen bleibt die Leinwand schwarz und man hört nur die Schreie des Entsetzens. Dieser 11. September ist ein Wendepunkt in der Präsidentschaft von George W. Bush, der vorher über 40% seiner Amtszeit im Urlaub verbracht hatte. Dieser 11. September lieferte der Administration die Argumente, die sie zu benötigen glaubte, um ihre Herrschaft zu festigen und um den privaten Gewinn zu mehren (so Moore). Dieses Fahrwasser hatte ich erwartet und das war für einen alten Bushbasher wie mich nichts Neues *g*.
Warum aber herrschte im Kino am Ende Totenstille, warum waren nicht nur ich und meine Frau tief betroffen und warum wurde unter den Besuchern selbst noch beim Verlassen des Kinos kaum geredet?
Der Film hat überhaupt nicht meinen Erwartungen entsprochen und ich habe ihn auch ausgehend von den gelesenen Kommentaren, nach denen er eine reine Agitprop-Veranstaltung sein sollte, nicht wiedererkannt. Dieser Film ist primär nicht eine nur auf den jetzigen Wahlkampft bezogene Meisterleistung, sondern noch bevor er als Anti-Bush, was er natürlich auch ist, eingestuft werden muss, ist er eine beeindruckende Anklage gegen den modernen Krieg überhaupt. Eine Meisterleistung wird er nicht dadurch, dass er die geschäftlichen Verbindungen der Bush- und Bin Laden-Familien aufzeigt, sondern vor allem dadurch, dass er einerseits die begeisterten jungen Rekruten erzählen lässt, wie sie sich mit der richtigen Popmusik im Ohr zum geilen Töten animieren lassen und andereseits die Getöteten und das Leid ihrer Angehörigen zeigt. Eine Meisterleistung ist auch die Verschränkung von Redeauszügen von Verteidigungsminister Rumsfeld, in denen er die Präzision und die Menschlichkeit der modernen Kriegsführung lobt, mit den ungeschminkten Wirkungen seiner Bomben.
M. E. am wichtigsten ist jedoch die Sequenz fast am Ende des Films, in der Moore zeigt, woher die amerikanischen Menschen kommen, die die Army rekrutiert. Es sind die besonders armen Gebiete der USA, wo die Rekrutierungsbüros den meisten Zulauf haben. Es sind die ärmsten der Armen, die sich bei der Army Ausbildung und Lebensunterhalt versprechen. Diese Menschen werden in den Krieg geschickt, getötet oder verstümmelt oder psychisch zerstört. Auf der anderen Seite feiern die Bosse ihre Gewinne im Irak. Bush begrüßt bei einer Gala "die Reichen und die Superreichen, manche nennen Euch die Elite, ich nenne Euch meine Basis". Applaus.
Der Krieg dient vor allem der Aufrechterhaltung der Hierarchie im eigenen Land, so die Botschaft von Moore, Die Reichen werden reicher, die Armen bleiben arm dran, auch mit Arm ab. Diese "Message" des Films ist zeitlos und wird den Wahlkampf überdauern.
Internet-Tipp: /seniorentreff/de/diskussion/threads4/thread917.php
|
Karl
antwortete am 08.08.04 (13:12):
Ich übernehme auch noch einen Folgekommentar von mir:
Die Leistung des Moore-Films sehe ich weniger in seiner Polemik gegen Bush, sondern vor allem in der Aufdeckung der Strukturen, die den Krieg für die einen zum lohnenden Geschäft machen (die live mitgedrehten Wirtschaftsvertreter sind auf ihrer Konferenz zum Thema Wiederaufbau im Irak - zu Beginn des Krieges - völlig aus dem Häuschen über die zu erwartenden Gewinne) und für die anderen zum Friedhof. Die einen leben anschließend noch mehr in Saus und Braus und die anderen humpeln für immer gezeichnet durchs Leben - und diese anderen, dass sind nicht nur die "Feinde", sondern auch die eigenen Mitbürger aus den Vororten, wo sich keiner der Reichen, deren Söhne statt in der Armee in Havard studieren, je hin verlaufen würde.
|
Felix
antwortete am 08.08.04 (15:59):
Lieber Karl,
du hast mich überzeugt ... ich werde mir den Streifen ansehen.
Also bis nachher!
|
schorsch
antwortete am 08.08.04 (19:08):
Karl, mich verwirrt nur, dass du begeistert vom Film erzählst und andererseits sagst du: "...er hat meinen Erwartungen nicht entsprochen. Ich war tief beeindruckt..." Diese beiden Sätze irritieren mich, weil sie für mein Verständnis gegensätzlich scheinen.
|
Karl
antwortete am 08.08.04 (19:40):
@ schorsch,
Erwartungen können niedrig oder hoch sein. Die meinen waren eher niedrig, da ich vor allem einen Propagandafilm erwartet hatte. Er war aber mehr als das. Die Anaylse des Geschehens um den Irakkrieg reichte tiefer als erwartet.
|
lia1
antwortete am 09.08.04 (15:09):
Ich habe den Film am Samstag auch gesehen. Mehr oder weniger aus Versehen.Eine Nachbarin wollte sich ihn ansehen und da es so heiß war, und im Kino schön kühl, bin ich mit.Ohne mich zu orientieren.Ich war sehr beeindruckt und teilweise auch geschockt.Die ganzen Hintergründe und Drahtziehereien, es hat mich schon erschreckt.Ich wußte schon einiges davon, aber in dem Maße hab ich es nicht für möglich gehalten.Auch bei uns sind die Leute ganz still rausgegangen. Und ich war sehr nachdenklich.Ich kann den Film nur empfehlen. Ich bin schon so alt, daß ich den Weltkrieg noch bewußt miterlebt habe, und es kamen so einige Erinnerungen hoch.Die Menschen werden wohl nie vernünftig, aber mit Blut und Tränen können einige wohl immer reich und mächtig werden.
|
abdu
antwortete am 13.08.04 (20:43):
demnach ist MM ein tuechtiger kuenstler..ich muss diesen film sehen..aber wann?der streifen wird hier wahrscheinlich erst gezeigt,wenn ein neuer fahrenheitsgrad gezeigt wird..was ich fuerchte, ist was kommt..was ich noch nicht ahne.
|
mart
antwortete am 13.08.04 (21:14):
abdu,
Guter Rat, aus dem Internet herunterladen!
|
Felix
antwortete am 20.08.04 (02:02):
Heute Abend habe ich mir diesen eindrücklichen Film im Kino angeschaut. Ich war erschüttert, wie kaum jemals. Ich brauchte nach dem Film Stunden, um meine innere Ruhe wieder zu finden. Ich frage mich, ob die Amerikaner diese Version sehen können. Es würde mich natürlich sehr wundernehmen, was unsere Amerikafreunde und Bushbefürworter/innen zu sagen haben, falls sie überhaupt dazu kommen, den Streifen unzensiert zu sehen.
Rein filmtechnisch beurteilt müsste man das Ganze straffen. Ich fand diese lange Seelentortur an der Grenze des Zumutbaren. Ich bin auch kein Freund von langen verzitterten unscharfen Sequenzen und Schwenks ... nur um die Authentizität zu dokumentieren. Auch die Technik der subjektiven Kameraführung kam zu oft vor.
Auf den Inhalt werde ich vielleicht später zu sprechen kommen ... Ich brauch etwas Abstand.
Ich kann die Amerikaner immer weniger begreifen, dass sie sich von solchen Personen und Machenschaften blenden lassen!
Wer hat den Film auch schon gesehen? Julchen oder ricardo vielleicht?
|
Felix
antwortete am 21.08.04 (00:42):
Ein Tag später:
Einige markante Stellen im Film:
- Die vergeblichen Vorstösse der farbigen Parlamentarier/innen, nach den manipulierten Wahlen Bushs. - Ein Präsident, der lieber wie ein kleiner Knabe Cowboy und Golf spielt ... statt sich den Staatsgeschäften zu widmen. - Die vielen vergleichenden Aufnahmen bei denen, die dümmliche Mimik aus nächster Nähe zu beobachten ist. Mit der Körpersprache lässt sich nicht so leicht lügen, wie mit Worten und Sprüchen. - Die ständig im Brustton der Überzeugung wiederholten und variierten Lügen, die in rascher Folge hintereinander geschnitten sind. - Eindrücklich ist diese 7 min anhaltende fatale Hilflosigkeit und die beinahe pathologische Mimik Bushs, als er bei einem Schulbesuch von den Angriffen am 11.9.01 in Kenntnis gesetzt wird. Dies ist schon eher peinlich! - unschöne Kriegsszenen beim Angriff auf Bagdad und andern Orten im Irak. Lateralschäden bei der Bevölkerung. - Die theatrale Inszenenierung auf dem Flugzeugträger, wo Bush die Mär vom Sieg und Kriegsende lauthals verkündet .... unterbrochen von einer gewaltigen Detonation bei einem Anschlag im besiegten Land! - Klagen der betroffenen Zivilbevölkerung, die Angehörige verloren haben. Hasstiraden .. Schrei nach Vergeltung! - Die bitteren Vorwürfe einer Soldatenmutter, die ihren Sohn beweint. - Und immerwieder die Hintergründe dieses Aggressionskrieges mit den feinen Herren mit ihren verlogenen Mafiagesichtern, dem Oelimperium, den Waffengeschäften. - Moors Versuch die feinen Parlamentarier darauf anzusprechen, weshalb sie keine Söhne im Irak haben. - Die Rekrutierung der armen arbeitslosen Teufel die herumlungern und die man mit schönen Versprechungen anheuert. Die beiden Rekrutierungsoffiziere waren echte Kotzbrocken. Bei einem Spielfilm hätte man diese Gestalten und ihr ekelhaftes Benehmen als chargiert (übertrieben) empfunden.
Als Beispiele soll dies vorerst genügen ... es geschieht Vieles in langen zwei Stunden.
Habt ihr den Film gesehen? Vielleicht wollen ihn viele gar nicht sehen! Was sagt eigentlich das amerikanische Publikum dazu?
|
|