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Übersicht Archiv "Politik und Gesellschaft"

THEMA:   Realpolitik

 10 Antwort(en).

jo begann die Diskussion am 27.07.04 (16:48) :

Durch Karl’s Bemerkung, daß der Abzug aus dem Gazastreifen Realpolitik von Scharon sei, fing ich an mir zu überlegen, was denn Realpolitik eigentlich ist. Es klang mir etwas abwertend, etwa nach Opportunismus und Prinzipienlosigkeit oder purer Schlaumeierei.

Bei Recherchen stellte ich zu meiner Überraschung fest, daß Realpolitik im Englischen ein übernommenes deutsches Fremdwort sei. So findet sich bei Wikipedia (URL unten) folgende englische Definition:

Realpolitik (German for "politics of reality") is foreign politics based on practical concerns rather than theory or ethics.

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Realpolitik ( . . . ) ist Außenpolitik, die auf praktischen Überlegungen basiert und nicht auf Theorie oder Moral. (Es gibt bei Wikipedia auch einen deutschsprachigen Eintrag, aber das hier fand ich besonders interessant).

Ideologischer Verengung oder menschheitsbeglückenden Träumereien wird damit eine Absage erteilt. Auch die Moral, man mag es beklagen, ist kein Parameter für eine Politik, die sich an Tatsachen orientiert und das ja wohl auch sollte. Von Bismarck ist die Formulierung von der Politik als der Kunst des Möglichen überliefert. Ich meine allerdings, daß das über Außenpolitik hinausgeht, denn das Mögliche wird immer bestimmt und eingegrenzt durch zahlreiche Sachzwänge innenpolitischer oder wirtschaftspolitischer Art und gilt für Politik schlechthin.

Realpolitik zeigt sich auch in dem überlieferten Ausspruch von Adenauer, dem Fuchs, als er mal seine Ansichten geändert hatte: Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern? Schließlich ändern sich die Realitäten, und zwar laufend, so dass ein Festklammern an ehernen Grundsätzen nur um ihrer selbst willen fehl am Platze ist. Vorwurf der Prinzipienlosigkeit oder eine Abwertung politischen Handelns lässt sich daraus nur ableiten, wenn der Wandel in den Rahmenbedingungen, unter denen Politik gemacht werden muß, nicht zur Kenntnis genommen wird.




Internet-Tipp: https://en.wikipedia.org/wiki/Realpolitik


mart antwortete am 27.07.04 (17:29):

Realpolitik im schlechten Sinn betreibt die EU, indem es die noch gültigen und für manche Entschädigungsfälle noch gerichtlich relevanten Benes-Dekrete als vereinbar mit der Gesinnung der EU hält.

Wieder einmal haben tschechische Politiker EU-Gesinnung bewiesen:

Wie die "Presse" berichtete (19. Juli), hat der tschechische Präsident Václav Klaus demonstrativ in einem Krumauer Hotel übernachtet, dessen jetziger Besitzer Horal eine Benes-Büste neben dem Hoteleingang postiert und zusätzlich mit "einer die Deutschen schmähenden Inschrift" versehen hat. Denn seiner Meinung nach war Benes "unser größter Politiker und die Sudetendeutschen die schlimmsten Henkersknechte der Nazis".

Es fehlt die Aufarbeitung der Verbrechen, die von tschechischer Seite an deutschsprachigen Menschen begangen worden sind.

Es fehlt an Einsicht, daß in der EU jeder Staat sich mit den Leichen im Keller beschäftigen muß, um die EU nicht nur zu einem wirtschaftlichen sondern auch zu einem Projekt zu machen, daß auf gegenseitiger Achtung beruht.

Es ist meiner Meinung nach die miese Realpolitik der EU, die den Tschechen erlaubt ihre Leichen im Keller immer noch anzubeten.


mart antwortete am 27.07.04 (17:32):

Ergänzung:

Auch in Österreich marschierte eine links-grüne Gruppe anlässlich eines Gedenktages für die Opfer der Benes-Dekrete mit dem Slogan: "Benes vor, noch ein Tor".

Auch das ist Meinungsfreiheit.


ricardo antwortete am 27.07.04 (17:50):

Hallo Mart
Da bin ich allerdings anderer Ansicht.
1938 lebte ich mit den Eltern in Dreden und habe ziemlich mitbekommen, auf welche Art die damalige Tschechoslowakei auf übelste Art niedergestreckt wurde. Wir hatten Angst vor einem Krieg, da die tschechischen Geschütze bis in die Gegend Dresden schießen konnten, so nahe war die Grenze.
Dann aber der Verrat der Engländer und Franzosen, die das Sudetenland an das deutsche Reich gaben und damit das Schicksal dieses tapferen Landes besiegelten. Um den Preis eines oberfaulen Friedens! Viele deutsche Juden und Regimegegner waren dorthin geflohen und fanden den Tod.
Wer nennt denn die Zahl der Tschechen, die im Krieg verhungerten oder einfach umgebracht wurden während der Besatzungszeit.
Sie waren rechtlos und konnten ohne Verfahren hingerichtet werden.
Bei Kriegsende war verständlicherweise der Hass auf alles Deutsche groß.

Die Polen (drei Mio ermordete Polen) drohen jetzt, wenn Deutsche "Wiedergutmachung" für die Vertreibung fordern, daß wir die Zerstörung Warschaus bezahlen müssten.
So könnten die Tschechen das auch aufrechnen!

Wir müssen mit dem Status quo zufrieden sein und schaffen uns mit unangebrachten Forderungen keine Freunde.
Wer damals den Krieg und das Nazireich selbst noch erlebt hat und KEIN NAZI war, der denkt nicht an sowas!


jo antwortete am 27.07.04 (18:22):

Ich bedauere, daß mein Anliegen und mein Thema zu einer konkreten Polemik benutzt wird. Ich hatte mich bemüht, die Fragestellung von aktueller oder akuter Problematik freizuhalten - außer dem Anstoß, den Karl mir gegeben hatte.

Wenn Ihr Euch über die Benes-Dekrete unterhalten wollt, dann macht doch bitte ein separates Thema dazu auf!


ricardo antwortete am 27.07.04 (18:33):

Jo
Vielleicht war deine Einleitung zu theoretisch.
Jedenfalls ist das im Forum keinn seltener Vorgang, daß man vom Thema abkommt. In dem Fall auf eine konkrete Situation.

Du könntest ja mal erläutern wie diese Spannungen realpolitisch zu bewerten sind.


Miriam antwortete am 27.07.04 (18:46):

Hallo Jo,

mich persönlich hat das von Dir vorgeschlagene Thema sehr interessiert - aber ich habe nun zwei Stunden verbracht, in denen ich versuche mich "einzulesen". Es geht vielleicht auch anderen so.
Also schliesse nicht aus der vielleicht zögerlich anlaufenden Diskussion, dass das Thema nicht gut gewählt sei. Und wenn nun eine "kollaterale Diskussion " entsteht, ist es sicherlich noch kein Kollateralschaden.


mart antwortete am 27.07.04 (19:32):

Es tut mir leid, jo, ich wollte dein Thema wirklich nicht mißbrauchen.

Ich finde nur, daß ebenso wie die von ricardo angesprochenen Unmenschlichkeiten in Tschechien ebenso die Enteignungen und Todesmärsche der deutschsprachigen Tschechien, die nördlich von Oberösterreich in Böhmen seit Jahrhunderten wohnten, angesprochen werden sollten. Ich denke nicht, daß diese Menschen als Sudetendeutsche bezeichnet werden.

Ich jedenfalls bezeichne es als Realpolitik, daß in einem EU Land diese Benes-dekrete nach wie vor gültig sind.


schorsch antwortete am 28.07.04 (09:52):

Auch schon mal erlebt: Ich befasse mich gedanklich mit einer Sache. Diese führt zur nächsten und diese zur übernächsten. Am Schluss frage ich mich: Wie bin ich überhaupt darauf gekommen, mich gedanklich mit diesem Thema zu befassen? Und dann rolle ich meine Gedankengänge mühsam zurück, bis ich - vielleicht - auf das ursprüngliche Thema komme.
Hier im ST ist es doch genau gleich: Ein Thema gibt uns das Stichwort für ein nächstes. Sollen wir nun jedes Mal, wenn das Thema zu einem neuen führt, ein neues eröffnen? Vielleicht führt ja jemand, der/die das Thema von Anfang an verfolgt hat, uns freundlicherweise wieder zum Urthema zurück?


Wolfgang antwortete am 28.07.04 (10:34):

Realpolitik - dieser Begriff hat fuer mich ein positives Image und stellt fuer mich die einzig erstrebenswerte Politik dar.

Zur Realpolitik gehoert fuer mich, dass unter ALLEN Umstaenden auf Angriffskriege verzichtet wird.

Zur Realpolitik gehoert fuer mich also, dass nicht der 'Krieg der Kulturen' (SAMUEL P. HUNTINGTON) oder gar Kriege um die 'Menschenrechte' (wie die KriegerInnen sich frevelnd ausdruecken) propagiert und gefuehrt werden... Denn nur durch den Verzicht auf Angriffskriege (moegen die Kriegsgruende noch so 'hehr' und 'heilig' daherkommen) wird dem Dialog der Kulturen praktisch eine Chance gegeben.

Zur Realpolitik gehoert fuer mich auch das Streben nach einer multikulturellen Gesellschaft - eine Gesellschaft, in der moeglichst viele Kulturen, Religionen, Lebensstile... ihre Nische, ihren Platz haben und sich, sowohl getrennt als auch zusammen, ausleben koennen.

Jede andere Politik ist fuer mich keine Realpolitik, sondern sind fuer mich aeusserst irreale Politiken. Irreale Politiken sind besonders haeufig zu beobachten. Irreale Politiken jagen einem Traum nach... Dem Traum, dass andere nachhaltig zu ihrem angeblichen 'Glueck' gezwungen werden koennten. Irreale Politiken sind bisher alle gescheitert (manche frueher, manche spaeter). Sie sind gescheitert, weil sie eben keine Realpolitiken waren (obwohl deren VertreterInnen, luegnerisch, wie irreale Politiken zwangslaeufig daherkommen muessen, denen das Etikett immer umgehaengt hatten).


Wolfgang antwortete am 28.07.04 (10:39):

Ein konkretes Beispiel fuer Realpolitik moechte ich noch nennen... Realpolitik, so, wie ich sie verstehe: Realpolitik war die Politik des Herrn GORBATSCHOW und seinen Leuten, die die UDSSR abgewickelt haben, ohne zum Mittel des Angriffskrieges zu greifen (der den Fall der UDSSR bestenfalls auf spaeter verschoben haette, wahrscheinlich aber die Welt mit in den Abgrund gerissen haette).