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Übersicht Archiv "Politik und Gesellschaft"

THEMA:   Reaktion und reaktionär

 19 Antwort(en).

Ziesemann begann die Diskussion am 27.06.04 (15:43) :

Der Begriff "Reaktion" ist historisch-politisch besetzt als Rückschritt, als Zurückkehren in Ordnungen, welche durch die Entwicklung längst überholt und irreversibel sind.
In der Weimarer Republik wurde der Begriff gerade von der Linken durchaus auch pejorativ benutzt.
In diesem Sinne sind einige Gewerkschaften, an der Spitze die IGM, tief reaktionär. Sie operieren mit Klassenkampfparolen aus der Grablege des 19. Jahrhunderts, wehren sich ebenso verzweifelt wie vergeblich gegen Mehrarbeit ohne Lohnausgleich, obwohl Geburtenarmut in Deutschland und die globale Konkurrenz dazu gar keine Alternative lassen. Funktionärsinteressen und Verbandsmacht bestimmen ihre Politik, nicht aber die Interessen der Arbeitsplatzsuchenden und letztlich nicht einmal der um ihren Arbeitsplatz fürchtenden, weil auch sie ihn verlieren, wenn nicht endlich begriffen wird, dass diese vergreisende Gesellschaft - die Nutzung des Begriffs "Volk" ist ja schon fast ein Verstoß gegen die political correctness - sich nicht länger weltweit die kürzesten Arbeitszeiten, den längsten Urlaub, die meisten Feiertage und nicht zuletzt die ältesten Studenten und jüngsten Rentner leisten kann.


navallo antwortete am 27.06.04 (19:34):

Kannst Du erklären, wie für die "Interessen der Arbeitsplatzsuchenden" durch "Mehrarbeit ohne Lohnausgleich" neue Arbeitsplätze geschaffen werden könnten?


hugo1 antwortete am 27.06.04 (20:48):

hallo navallo,,,ich verstehe das so:
Durch Mehrarbeit werden die Arbeitsplatzsuchenden doch ungeheuer gestärkt. Zwar nicht in Ihren Hoffnungen auf Arbeit bzw Arbeitsplätze sondern zahlenmäßig.
Unser Spargelbauer beschäftigt 80 Leute ca 8Stunden am Tag
wenn die nun 16 Stunden arbeiten würden bei gleicher Stundenleistung na dann würde der doch glatt noch mal 10 Arbeiter einstellen ??? das ist sehr ulkig.
neeee wer solche Märchen auftischt ,,,lange nicht so gelacht,,,
Der Bauer würde sofort mit dem Ausdruck größten Bedauerns (heimlich aber frohlockend) 40 Leute entlassen...
und,,da fallen mir noch dutzende Beispiele ein, die noch weit verrücktere Ergebnisse zur Folge hätten..leider kommt jetzt Fussball und das ist ergebnisorientierter,,*g*


ricardo antwortete am 27.06.04 (22:53):

Den Begriff Reaktion haben nicht nur die linken Extremisten benutzt.
Im Horst Wessellied der Nazis hieß es:

"Kameraden die Rotfront und Reaktion erschossen,
marschiern im Geist in unsern Reihen mit!"

Jede Seite benannte die jeweils "Rückständigen" als Reaktionäre.
.


BarbaraH antwortete am 27.06.04 (23:07):

Dein Beispiel ist gut gewählt, ricardo,

denn wären damals mehr Menschen "reaktionär" gewesen, wäre wohl so manchem viel Leid erspart geblieben.

Auch heute wäre es gut, so manche "Reform" einmal zu hinterfragen. Vielleicht würde in einigen Fällen das Reaktionäre zu einem besseren Ergebnis führen.

Webtipp:
Prof. Dr. Rudolf Hickel, Publikationen
https://www.iaw.uni-bremen.de/rhickel/publikationen.html

Internet-Tipp: https://www.iaw.uni-bremen.de/rhickel/publikationen.html


seewolf antwortete am 28.06.04 (01:11):

Hugo1 -

"ergebnisorientiert" - hihihi

dann würde Dein Bauer ganz schnell auf dem Weltmarkt nach geeigneten Methoden - vielleicht Maschinen? - gucken, um 80 Hände zu ersetzen ...

Vorsicht Leute...


schorsch antwortete am 28.06.04 (11:25):

Als Reaktion auf oben Geschriebenes:

Immer wieder mal hören wir hier das Klagelied von ausgebeuteten Unternehmern, die von den Gewerkschaften an den Rand des Ruins getrieben werden durch so masslose Forderungen wie z.B. menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Von Verantwortung ist oft zu lesen, die die Unternehmer auf ihren leidgebeugten Rücken zu tragen haben.

Ist es aber denn nicht so, dass diese "Last der Verantwortung" nur so lange getragen wird, als dass innert kürzester Zeit die Unternehmer sich ein Vermögen erschaffen können auf dem Buckel der Arbeitnehmer, die in Wirklichkeit die "Last der Verantwortung" tragen, weil sie es nämlich sind, die auf der Strasse stehen, wenn es dem Herrn gefällt, seine Fabriktore zu schliessen - weil er es sich leisten kann, abzutreten?


ricardo antwortete am 28.06.04 (14:00):

Also gut
Dann werden die Arbeitnehmer von jetzt an alles alleine machen und auf die Geber verzichten!
Na da bin ich mal gespannt :-)))))


schorsch antwortete am 28.06.04 (19:26):

Es braucht beide. Aber die "Geber" sind nun mal am längeren Hebel. für sie brauche ich mich also nicht stark zu machen.....


Ziesemann antwortete am 28.06.04 (19:43):

An ricardo
Eben! Ich kenne das Lied, hab's sogar noch als Pimpf gesungen. Die Nazis nutzten den Begriff im beleidigenden (pejorativen Sinne; aber er ist älter und stammt aus dem 19. Jahrhundert und wurde von den Demokraten z.B. gegen Metternichs Politik gebraucht.
Zu navallo
Das Gewerkschaftsrezept - Arbeitszeitverkürzung bei vollem oder teilweisen Lohnausgleich - ist nachweisbar nicht wirksam, konnte es nicht sein, weil dies eine Erhöhung der Arbeitskosten (die nicht gleich Lohnhöhe zu setzen ist!)bedeutet, auf die Unternehmen - sie haben nur zwei Aktionsparameter - mit Preiserhöhungen oder Entlassungen reagieren. Alles, aber auch alles was die Arbeitskosten drückt, schließlich ist das auch die Politik Schröders, die von einigen Gewerkschaften heftig attackiert wird, schafft Freiräume für Einstellungen statt Rationalisierungen um Personalkosten zu sparen.
IGM und Ver.di sind so reaktionär, dass sie inzwischen sogar diese Regierung beschuldigen, eine unternehmerfreundliche Politik zu betreiben, obwohl sie erst die Ansätze einer Reformpolitik zeigt. Wer sich gegen Reformen wendet, die von praktisch allen Sachverständigen, wie den "Fünf Weisen", der EZB, der Bundesbank, der OECD, der Weltbank als unwausweichlich betrachtet werden, der darf, nein der muss so bezeichnet werden, was er ist: Ein Reaktionär.


mart antwortete am 28.06.04 (20:22):

Die Gewerkschaften sind leider ideologisch verknöchert, in Deutschland angeblich noch mehr als in Österreich - und vor allem Besitzstandwahrer für das alte Klientel geworden.



Die neuen Arten von Beschäftigungen (die es zumindest in Österreich seit kurzem gibt)und die von ihnen offensichtlich noch gar nicht in den Auswirkungen registriert worden sind und ihre Unfähigkeit zuzugeben, daß dann gearbeitet werden muß, wenn es in einem Betrieb Arbeit gibt und nicht dann, wenn das Schema es vorgibt, sind nur zwei Beispiele für deren Unflexibilität.

So können einfach die Herausforderungen heute nicht mehr bestanden werden.


hugo1 antwortete am 28.06.04 (21:04):

,,und da sich die Arbeit-Geber gegenseitig selber an den Hals gehen und hemmungslos in die Taschen greifen, sind sie bei ansonnsten drohendem wirtschaftlichem Selbstmord natürlich verpflichtet, dem Kleinen Mann, dem Lieschen Müller, dem Hungerleider usw einen gewinnorientierten (aber den Konkurrenten Tränen in die Augen treibenden )Preis für die Ware abzuverlangen und vor allem dem eigenem Mitarbeiter den abgespecktesten aller möglichen Löhne zu zahlen.
Beispiel Aldi: Seine Einkäufer müssen reinste Blutsaugermentalität besitzen um bei den Zulieferern den Preis- wenns sein muss auch mit der 4.ten Stelle nach dem Komma- auszuhandeln, ach was heißt aushandeln, der wird diktiert, wenns mehrere mögliche Produzenten gibt.
,,und Zulieferer für die mächtigen Discounter gibts zig Tausende. Diese Tausende beschäftigen Millionen Lohnempfänger und diese sind die letzten in der Reihe und werden als Erste und am meistens vom Hund (vom Finanzamt, vom Staat vom Arbeitgeber usw.) gebissen.
,,und falls mal tatsächlich einer der Zulieferer so richtig absahnt (auch sowas gibts )wie z.B Aldi-Zulieferer Medion der seinen Gewinn 2002 innerhalb von drei Quartalen um ein Drittel steigern konnte, wird der wohl kaum die Löhne seiner Mitarbeiter drastisch anheben.
und da gegenwärtig die meisten Menschen bei uns die Situation (Einkommensentwicklung, Rentensicherheit, soziale Absicherung usw. ) als unsicher einschätzen, häufen alle die es können ihre paar Kröten in Sparguthaben u.ä. an und verhindern durch starke Kaufzurückhaltung den steilen Konjunkturanstieg.
(anstatt mal ein wunderbares Viergängemenü in einer der besten Gaststätten der Stadt zu geniessen, schiebt man den riesigen Aldiwagen gutgefüllt zur Heckklappe seines relativ neuen Kombis und meckert über Gott und die Welt und die Regierung, die Gewerkschaften, die miesen Investoren usw.)
,,und das Schlimmste , ich bin dabei, fühl mich reaktionär, altertümlich, unmodern, pingelig, geizig, also schuldig und weiss nicht mal wer mir diese "Unschuld" nahm.*g*


schorsch antwortete am 29.06.04 (08:36):

Siemens hat eine Arbeitszeitverlängerung ausgehandelt und reibt sich nun die Hände, da ihr dies für kurze Zeit "Luft" verschafft. Aber dieser Vorteil reicht nur so lange, als bis die Konkurrenz die gleichen Zeiten aushandelt. Ab dann beginnt der Count Down mit Entlassungen. Denn wo mehr Stunden gearbeitet wird, da wird mehr produziert. Und wenn mehr produziert wird, dann gibts einen Überhang an Angeboten. Und wenn es einen Überhang an Angeboten gibt, dann bleiben Produkte als unverkäuflich liegen. Und wenn Produkte nicht mehr verkauft werden können, dann werden Arbeitskräfte abgebaut. So einfach ist das......


Ziesemann antwortete am 29.06.04 (20:03):

Zu mart
Kann nur voll zustimmen.

Zu Hugo1
Habe ein wenig Schwierigkeiten, den Text inhaltlich trotz seiner stilistischen Brillanz intellektuell zu verarbeiten; kann deshalb nur soviel dazu sagen:
Nicht unternehmerische Willkür, nicht Bosheit, nicht der Wunsch, den kleinen Mann zu benachteiligen, drückt die Einkaufspreise bei ALDI und anderswo, sondern der gobale Wettbewerb im System der Marktwirtschaft, das sich als das effizienteste Wirtschaftssystem der Welt erwiesen hat und - nur so nebenbei - verfassungsmäßigen Rang in der EU hat. Wollten wir diesen Wettbewerb nicht, müssten wir die EU verlassen, aber die Folgen eines solchen Schrittes braucht man doch wohl nicht auszumalen.

Zu Schorsch
Lieber Schorsch, entschuldige bitte, aber ganz so einfach lässt sich Volkswirtschaft nicht interpretieren. Es gilt das sog. Say'sche Theorem. Jedes Angebot sucht sich seine Nachfrage und jede Nachfrage findet ihr Angebot. In the long run gibt es in einem Marktwirtschaftssystem insgesamt keinen Angebotsüberhang. Dass einzelne Branchen Absatzprobleme haben während andere reüssieren gehört zum (gewollten!) Prozess wirtschaftlicher Dynamik, der als "schöpferische Zerstörung" (Schumpeter) betrachtet wird.


seewolf antwortete am 29.06.04 (21:15):

Ziesemann -

was der bundesdeutsche Durchschnittsverbraucher aber leider überhaupt nicht zu kapieren scheint, ist die Tatsache, daß er selbst in erheblicher Weise "schöpferische Zerstörung" betreibt, wenn er - zB - sich selbst mit Hilfe von bei ALDI billig erworbenen Geräten aus China die Haare schneidet, aber für seine Tochter beim örtlichen Friseur eine Lehrstelle haben möchte und am Ende nicht mehr bekommen KANN - weil der Friseur nichts mehr zu tun hat...


Tobias antwortete am 30.06.04 (09:50):

@ Seewolf.

Wenn es mit den in China hergestellten Geräten so leicht ist die Haare zu schneiden, ist der Friseur - Beruf ein Auslaufmodell wie so viele Berufe. Warum also noch lernen ?


ricardo antwortete am 30.06.04 (11:56):

Ein alter Chinese ging zu seinem Friseur.
Der meinte: " Sie haben nur noch drei Haare auf dem Kopf, aber mit meiner Kunst kann ich daraus noch einen Zopf flechten!"
Wochen Später:
" Es sind nr noch zwei Haare, aber keine Sorge es reicht noch für einen einfachen Zopf!"
Aber schließlich die Hiobspost::" heute haben sie nur noch ein Haar!"

Da sagte der alte Chinese: " Nun denn, ich werde von heute an mein Haar offen tragen!"


mart antwortete am 30.06.04 (12:15):

Und damit war der Zopf ab und die neuen Zeiten konnten beginnen.

:-)


Ziesemann antwortete am 30.06.04 (14:36):

Zu Seewolf
Richtig, der Konsument gerät in die sog. Rationalitätsfalle; aber darin steckt er ständig. Jedesmal, wenn er ein ausl. Produkt kauft - und das geschieht fortlaufend oft ohne dass es es merkt - handelt er, folgt man den Worten Schröders von Arbeitsplatzverlagerungen, "unpatriotisch", denn damit schafft er Arbeitsplätze im Ausland. Freilich wird die dort geschaffene Kaufkraft auch genutzt, um deutsche Waren zu kaufen, nicht zuletzt deshalb sind wir Exportweltmeister.

Zu Tobias
Stimme völlig zu. Als ich jung war, hatten Friseure noch viel zu tun durch Nassrasuren (kostete 0,30 DM!). Mit dem Aufkommen der Elektrorasierer starb diese Beschäftigung.

Im Übrigen sind wir vom Thema "Reaktion und reaktionär" etwas abgekommen, woran ich selbst nicht ganz unschuldig bin.


Ziesemann antwortete am 07.07.04 (11:35):

Ich denke, die streitigen Auseinandersetzungen zwischen DGB und SPD in der letzten Woche haben meine These voll bestätigt. IGM und Verdi sind in ihren Rollen und Vorstellungen "von gestern" - wie die FAZ schreibt - und damit genau das, was als "reaktionär" zu bezeichnen ist.

Nach meinem Eindruck, lieber Karl, scheint diese Thematik abgeschlossen zu sein; du kannst also von mir aus löschen, zumal so viele andere Themen auf den Gesprächsmarkt drängen.