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THEMA: Wertlose Titel?
27 Antwort(en).
ecelle
begann die Diskussion am 29.05.04 (10:13) :
In den sechziger Jahren wurde eine Patientin von einem Klinikarzt nach ihrem Hausarzt gefragt. „Das ist der Doktor sowieso.“ Und nach einer Pause: „Beziehungsweise, das ist ja gar kein Arzt.“ Und auf Nachfrage: „Der ist doch kein Doktor.“
Damals waren Titel (nicht nur für Ärzte) noch notwendig. Im Beispiel: ein Arzt war nur dann ein Arzt, wenn er "Doktor" war. Heute schert sich niemand mehr darum, ob also ein Arzt einen Doktor-Titel hat oder nicht, man redet ihn sowieso nicht mehr mit dem Titel an. Ein paar Ausnahmen sind Menschen aus der 1930-plus/minus-Generation. Heute ist Herr Professor xyz „Herr xyz“, Graf abc ist „Herr abc“. Auch in den TV-Interviews hört man noch selten Anreden mit dem Titel, mit dem der Moderator den Interviewten eben erst vorgestellt hatte.
Wie kommt das? (Wobei hier die Notwendigkeit oder Wichtigkeit von Titeln keine Rolle spielen soll.)
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Karl
antwortete am 29.05.04 (11:03):
Titel sollten Nachweise beruflicher Befähigung sein, mehr nicht. Bei Ärzten ist das Examen eindeutig schwieriger zu bestehen als den Doktorgrad zu erlangen. Das Examen befähigt bei Ärzten zum Beruf, nicht der teilweise in 3 Monaten erlangte Doktorgrad. Meine generelle Haltung zum Gebrauch von Titeln: Wichtig ist nicht was drauf steht, sondern was drin ist im Menschen.
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ecelle
antwortete am 29.05.04 (12:21):
Das ist richtig. Wobei der Schweregrad einer Dissertation bei Medizinern noch abhängt davon, ob es eine experimentelle oder eine statistische Arbeit ist. Danach richten sich auch die Benotungen.
Aber wie begründet es sich, daß Titelträger - egal welcher Art - heutzutage nicht mehr mit ihren Titeln angeredet werden?
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ecelle
antwortete am 29.05.04 (13:15):
Ich erinnere mich an einen Freund meiner Großmutter: Jurist ohne Dr.jur. Die Leute sprachen ihn mit "Herr Justizrat" an.
Was mich halt interessiert: war die damalige Gesellschaft titelsüchtig? oder: woher kommt der derzeitige Nihilismus in diesem Punkt?
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Beardy
antwortete am 29.05.04 (20:50):
Ich darf doch wohl davon ausgehen, dass Ihr alle für Deutschland sprecht? Hier in Österreich, speziell in Ostösterreich, hat der Titel nach wie vor seinen festen Platz sowohl in der Anrede wie auch bei der Angabe des Namens. Oft wird in unserer Gesellschaft jemand zum Doktor gemacht, die/der gar keine/r ist. Genau so gibt es den verliehenen Professor-Titel (="Alterserscheinung"; kann, genau genommen, jeder Trottel kriegen), und in der Folge wird der eigentliche Name bei der Anrede fast unhörbar, weil der Titel "Professor" dermaßen betont wird, und des Angesprochenen Brust schwillt an und die Nase erklimmt luftige Höhen. Um die berühmt-berüchtigte (ost-)österreichische Titelsucht der Gegenwart zu dokumentieren, lasst mich eine selbst erlebte Episode erzählen: In einer der Tagesgruppen unseres Behindertenvereins hatten wir vor mehreren Jahren einen Betreuer, der, glaube ich, Betriebswirtschaft oder Betriebspsychologie studiert und den Titel "Magister" erreicht hatte. Hab' bis daher absolut nichts dagegen einzuwenden. Nun begab es sich, dass besagter Betreuer einmal vom Telefon in unserem Gruppenraum seinen Baustoffhändler in einem winzigen Dorf in Niederösterreich anruffen wollte/sollte/musste. Glatt meldete er sich deutlich hörbar mit: "MAGISTER xxx mein Name, ...". Ist der "Magister" für den Baustoffhändler denn sooo relevant?
"O du mein Österreich ..."
Liebe Grüße
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navallo
antwortete am 30.05.04 (03:00):
Ob jemand von ererbten, verliehenen oder erarbeiteten Titeln in der Öffentlichkeit groß Gebrauch macht, mag zu einem guten Teil von seinem Geltungsbedürfnis und den jeweiligen gesellschaftlichen Gepflogenheiten abhängen. Es existieren allerdings einige Positionen, für die man ohne Titel wenig Chancen hätte, ob nun als Lehrstuhlanwärter an Hochschulen, als Chefarzt eines Klinikums oder als potentiell einheiratender Erbe eines Adelshauses. Da fordern Entscheidungsträger uverzichtbare Zugangs-Rituale - ähnlich der Beschneidung der einen oder der Taufe der anderen.
Manche benutzen bereits die Mitgliedschaft in irgend einem Verein (Fellowship), eine Tätigkeit (Buchautor), eine Preisverleihung oder selbsterfundene Titel (Ehrenakademiker) um der eigenen Eitelkeit Futter zu geben. Ich kannte eine Frau, die fuchsteufelswild wurde, weil Sie ein schon recht alter Herr mit "Frau Chefarzt" statt "Frau Chefärztin" angeredet hatte. Vielleicht kommt mal der Tag, wo sich eine Frau Baumann ihren Familiennamen in Baufrau ändern läßt?:)
Etwas anderes ist es, wenn jemand von anderen mit einem Titel angesprochen wird. Darauf hat der Betroffene ja wenig Einfluß. Er wird aber registrieren, ob und wie er gegrüßt wird. Es hinterläßt nun mal einen zumeist günstigeren Eindruck, wenn Kids bei einem Vorstellungsgespräch ihrem künftigen Boss nicht allzu distanzlos entgegentreten.
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jo
antwortete am 30.05.04 (08:19):
Bei führenden Unternehmen - Börsenjargon: Blue Chips - wie z.B. Siemens ist eine gehobenere Position ohne Dr.-Titel fast nicht erreichbar. Zumindest zu meiner Zeit war das so gewesen.
Ich vermute, daß es dabei nicht um eine höhere fachliche Qualifikation, sondern um das Aushängeschild geht. Wenn der Dr.-Titel aber tatsächlich der Ausweis einer weiter geführten fachlichen Qualifizierung ist - manchmal bekommt man nichts geschenkt -, dann finde ich gegen diesen nichts einzuwenden.
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juergen1
antwortete am 30.05.04 (08:41):
Erinnere mich an einen Kunden, der 3 abgebrochene Studiengänge hinter sich hatte und im Grunde "garnichts" war. Was er aber wohl war, ein ausgesprochener "Schaumschläger".
Besorgte sich für damals 1.500 Mark einen Professorentitel in Südamerika, schrieb pausenlos nichtssagende Bücher ( höre ihn noch sagen: grosse Buchstaben und dickes Papier sind schon das halbe Buch ) und wurde von einer TV-Show zur nächsten gereicht.
"Der heisse Stuhl" bei RTL war seine Glanzrolle. Frau Schreinemakers empfing ihn um ihn sofort und unmittelbar mit den Worten: "So, Herr Professor XXX, nun sind sie auchmal bei mir gewesen" nach draussen zu geleiten. :-)
Das war der "Brüller" !
Sein Einkommen stieg in schwindelde Höhen - als sooo bekannter Mensch :-))
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Medea.
antwortete am 30.05.04 (11:08):
Es kommt immer auf die Situation an, meine ich mal ...
Auf dem politischen Parkett und im Gerichtssaal ist es schon weiterhin üblich, "Herr Bundeskanzler" oder "Frau Gerichtspräsidentin" zu sagen.
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ecelle
antwortete am 30.05.04 (12:33):
Nach Weglassen des Titels, z.B. eines Studenten bei seinem Professor, kommt als nächstes die Duz-Brüderschaft.
Die Jungen fühlen sich heute über das Alter erhaben <--- das ist m e i n e Begründung für das Weglassen eines Titels in der Anrede.
Natürlich gibt es auch noch Beflissene. Aber die reden einen Adligen mit "Herr Graf" an.
Medea, meinst Du, wenn der Arzt einen weißen Kittel trägt (in der Praxis), redet man ihn mit "Doktor" an; trägt er aber "Zivilkleidung" (bei Hausbesuchen) läßt man den Titel weg?
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Medea.
antwortete am 30.05.04 (13:39):
Ich muß gestehen, daß ich darüber eigentlich noch gar nicht nachgedacht habe - außerhalb der Praxis treffe ich meinen Arzt eher seltener ... :-))
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carla
antwortete am 30.05.04 (18:37):
Ich erlebe es beim Arzt andersherum: meiner hat keinen Dr.-Titel, wird aber immer mit Herr Doktor angeredet. Am Anfang hat er noch dagegen protestiert; inzwischen hat er den Protest aufgegeben, weil es sowieso nichts nützt... :-)
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jo
antwortete am 30.05.04 (18:55):
Beim Arzt hat sich wohl das Wort Doktor von seiner Bedeutung als Titel weitgehend gelöst. Wenn ich zum "Doktor" gehe, dann lasse ich an mir herumdoktern und nicht herumarzten!
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ecelle
antwortete am 31.05.04 (07:26):
... Du läßt Dich aber "v e r arzten" :-))
Also dann: "Guten Tag, Herr Arzt"?? :-))
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jo
antwortete am 31.05.04 (09:08):
Ach ja, das fiel mir anschließend auch ein - also nochmal: ich gehe zum Doktor, damit er an mir herumdoktert und mich anschließend verarztet.
Noch eine etwas ernsthaftere Bemerkung. Der Dr. ist Namensbestandteil. Bei einer Heirat kann die Frau den Namen des Mannes annehmen - so war es zumindest die Regel -, so daß eine Ehefrau Frau Doktor wird, ohne womöglich je eine Uni von innen gesehen zu haben.
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Gudrun_D
antwortete am 31.05.04 (09:21):
Hier irrt Jo!
Der Doktortitel ist ebenso wenig auf die Ehefrau übertragbar,wie z.B. Pastor oder Pfarrer!
Ausnahme: sie hat den gleichen Titel durch Studium erworben.
Fälschlicherweise hat "das Volk" die Frau Doktor u.a. so tituliert.
Im Übrigen bin ich der Meinung,mir bricht kein Zacken aus der Krone,wenn ich einen Menschen mit dem zu Recht erworbenen Titel anspreche.
Ich sage -wenn ich denn hin muss- gerne : Guten Morgen,Herr Doktor und wenn es mir ganz mies geht und ich sage nur kleinlaut:hallo Doc
dann weiss er schon,ich hab den "Kopf unterm Arm" aber,um ihn so anzureden,muss man sich schon sehr gut kennen-oder miteinander gearbeitet haben.
ecelle wo du deine -mir unbekannten-Behauptungen -erlebst- wüsste ich gerne! sollte mal ein Famulus wagen:Herr Sowieso zu seinem Prof zu sagen------- heidenei,in dessen Haut möchte ich nicht stecken!
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juergenschmidb
antwortete am 31.05.04 (10:22):
Vielleicht noch ein paar Bemerkungen zm Thema: Bei manchen Leuten ist eine unerklärliche Unterwerfung spürbar, wenn sie über einen Doktor oder gar Professor erzählen, was er alles getan hat, und im Detail, was er, speziell gerade zu ihnen gesagt hat. Da muss ich immer in mich hineinschmunzeln, obwohl ich schon, in der Regel beachte, dass ein Gstudierter eben in einem Fachgebiet, enorm viel lernen musste, viel weiss. Auf der anderen Seite passiert es mir schon mal, dass jemand, der meint, er kenne mich nun gut genug, mich mit Hallo Herr Doktor, begrüsst, natürlcih meint er es entweder witzig, oder er will mein Alter, mein Aussehen "ehren". Da kommt es chon mal vor, dass ich erwidere, guten Tag, Herr Patient, weil ich die ungerechtfertigte Anrede Herr Doktor, manchmal auch Herr Direktor blöd finde. Bin ich humorlos?
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mart
antwortete am 31.05.04 (10:37):
Ich liebe die Anreden mit einem Titel, denn da muß ich mir die Namen nicht merken - das ist das schwächste Segment meines Gehirns.
:-)
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Felix
antwortete am 31.05.04 (21:04):
Seit an der Uni Basel in den 60er Jahren die Anrede mit Titeln fallengelassen wurde, habe ich selber keine solchen Bezeichnungen mehr gebraucht. Auch Aerzte, Dozenten, Adelige oder kirchliche Würdenträger werden, wenn ich ihren Namen kenne, mit diesem angesprochen. Ausnahme war, wenn ich im Militär in Uniform den Grad des Angesprochenen voranstellen musste. Das war so vorgeschrieben. In Zivil lasse ich den Grad auch weg! Mit einem Papst habe ich bisher noch nie gesprochen.
In der Schweiz hat die Titelsucht sogar etwas Anrüchiges!
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mart
antwortete am 01.06.04 (07:03):
Trotz dem offenbar "Anrüchigen" von Titeln und Titelsucht, gibt es für die, die sich ohne Leistung doch mit einem Titel schmücken und erhöhen wollen auf "Willkommen auf academy-online.info" eine Auflistung von Möglichkeiten, diese "legal" zu erwerben.
"Wir haben Ihnen hier die aktuellsten Webseiten
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zusammengestellt und halten hier _die neueste Broschuere mit weiteren Informationen,
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Internet-Tipp: https://www.academy-online.info/
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jeanny
antwortete am 01.06.04 (08:20):
im ländchen wird jeder (ausser der grossherzoglichen familie)mit seinem familienname angeredet.
ob staatsminister,minister,arzt,doktor professor etc.
es ist eher die ausnahme wenn jemand mit seinem titel angeredet wird.
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Medea.
antwortete am 01.06.04 (13:16):
Hallo ecelle:
wenn mich jemand "verarztet" so klingt das doch immerhin vertrauensvoller als wenn jemand an mir "herumdoktert" ... ;-))
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ecelle
antwortete am 01.06.04 (14:21):
Na, recht hast Du, Medea. Statt zu einem Herumdoktorer würde ich lieber zu einem Schamanen im Busch gehen. Der ist auch billiger. Meine Tochter mußte einmal in Gambia sieben blaue Kerzen "bezahlen". Und auf meine Nachfrage: in Gambia gab es tatsächlich b l a u e Kerzen zu kaufen.
Liebe Gudrun_D, was ich sage, sind keine "Behauptungen", sondern Erfahrungen. Zum Beispiel bleibt mir unvergessen, daß Hans Meiser in den Nachrichten sagte: "zugeschaltet ist uns jetzt Herr Professor F. von der ...-klinik", sich umdrehte und zu dem zugeschalteten Professor sagte: Herr F., schämen Sie sich nicht ... ".
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Gudrun_D
antwortete am 01.06.04 (14:34):
ecelle
nun wüsste ich doch gar zu gerne,weshalb der Herr Prof-ach ne,der HerrF sich schämen sollte;-)
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utelo
antwortete am 01.06.04 (15:59):
Es gibt immer noch Personen, die sich aus irgendwelchen Gründen Titel kaufen. Sie schaffen offensichtlich nicht, auf ordentlichem Wege ihren z.B. "Professor" zu machen. Eine ganze Zeit lang wurden Titel im Ausland für gutes Geld verkauft. Das war bekannt und es wurde sich ziemlich lustig darüber gemacht. Jetzt wird diese Manie nur noch selten bekannt. Traurig aber wahr.
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ecelle
antwortete am 01.06.04 (16:09):
*lach* Gudrun_D,
es war nach der Zeit des Mauerfalls. Die Klinik des sich schämen sollenden Professors - wie auch viele andere Kliniken - hatte Schwestern-Mangel und fragte Schwestern der ehemaligen DDR, ob sie hier im Westen arbeiten wollten. Danach erfolgte eine ziemliche Flut von Krankenhauspersonal von dort nach hier - wegen der Wohnmöglichkeiten und besseren Bezahlung. Kritiker bezeichneten diesen Vorgang als Abwerbung. Und daher dieses "schämen Sie sich eigentlich nicht?" Wahrscheinlich berechtigt, weil ja dann die "drüben" über Personalmangel klagten.
PS: ich bitte vielmals um Entschuldigung, vom Ariadnes Weg abgewichen zu sein
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Medea.
antwortete am 01.06.04 (17:03):
So lange der rote Faden immer wiedergefunden wird, ist das kein Problem - hier wird doch ständig - auch vom Pfade der Tugend :-)) - abgewichen - LOL
Gab es nicht einen Konsul Weyer, bei dem die tollsten Titel bis hinauf zu Grafen und Prinzen zu erwerben waren?
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schorsch
antwortete am 02.06.04 (10:37):
Da gabs doch jenen Zeitgenossen, der sich bei Konsul Weyer einen Adelstitel kaufte und sich dann die Pulsadern aufschlitzte, nur um zu sehen, ob da nun wirklich blaues Blut fliesse (;--)))
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