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THEMA:   Saudischer Kolumnist: Warum immer andere beschuldigen?

 7 Antwort(en).

mart begann die Diskussion am 24.03.04 (21:54) mit folgendem Beitrag:


Es gibt sie doch, die selbstkritischen Stimmen aus dem arabischen Raum:

"Immer wieder werden in der arabischen Presse die USA und der Zionismus für Krisenerscheinungen im Mittleren Osten verantwortlich gemacht. Vor diesem Hintergrund kritisierte der Kolumnist Muhammad Al-Rasheed in der englischsprachigen Arab News aus Saudi-Arabien arabische Stimmen, welche die USA wegen der Terroranschläge auf Schiiten in Kerbela und Bagdad anklagten. (11. März 2004:)

„Über die Neigung, andere verantwortlich zu machen“

„Immer wenn es so aussieht, als hätten wir einen Schritt nach vorne gemacht, passiert etwas, das uns zehn Schritte zurückwirft. Nun ist Opferblut in Kerbela und Bagdad zwar nicht gerade neu, aber die am heiligsten Tag der Schiiten verübte Gräueltat war ein krimineller Akt ungeheuerlichen Ausmaßes. So ein Blutbad hat es in Kerbela [ö] seit über einem Jahrhundert nicht gegeben.

"Die Täter folgen einem Plan, der grausamer ist als es sich Saddam je hätte träumen lassen. Er mordete, um durch brutale Gewalt seine Herrschaft zu sichern. Diese Leute aber morden, um Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufzuhetzen. Und sie morden, um ihren Blutdurst zu stillen, der darauf beruht, dass sie sich als religiöse Elite verstehen. Anders ausgedrückt: In dieser Welt wollen sie siegen und in der nächsten in den Himmel kommen. Ich glaube nicht, dass Saddam so optimistisch war - sonst hätten ihn die Amerikaner wohl nicht lebendig in einem Erdloch aufgefunden.

"Bemerkenswert aber sind die Reaktionen: Das Blut der Opfer war noch nicht trocken als ein paar schiitische Geistliche, unter anderem auch einige Prominente aus dem Libanon, die USA für die Gräueltaten verantwortlich machten. Wieso? Weil sie, so hieß es, ‚keine Sicherheit gewährleisten konnten.’ Nur zur Erinnerung: Es ist Amerika, mit dem die Schiiten gerade verhandeln, um sich zum ersten Mal seit 1400 Jahren selbst regieren zu können. Wenn ich ein irakischer Schiit wäre, würde ich zum Allmächtigen beten, dass die USA solange im Irak bleiben bis das Land wieder stabil ist und auf eigenen Füßen stehen kann. Sonst könnte sich das Massaker in Kerbela lediglich als Auftakt für eine unglaubliche Horrorschow erweisen.

"Mir geht es aber gar nicht um die Rolle Amerikas, sondern um etwas, worüber ich schon oft geschrieben habe: die arabische Neigung, andere zu beschuldigen und die Tatsachen auszublenden. Schiiten und Sunniten wissen sehr wohl, wer die Attentäter sind: Mag sein, dass es ‚ausländische Kämpfer’ sind - aber sowohl die ausländischen als auch die irakischen Mitglieder dieser Gruppen lassen sich unter der Überschrift ‚Araber’ zusammenfassen. Und im Untertitel könnte man sie euphemistisch als ‚religiöse Elite’ subsumieren [ö]. Sollten also die schiitischen Geistlichen nicht lieber die wahren Verantwortlichen beim Namen nennen und mit dem Finger in die richtige Richtung zeigen?

"Wir haben dieses Verhalten [wohl: die Attentate] so satt. Wir haben nun wirklich genug davon erlebt und können uns nicht darüber beklagen, wenn die Welt auf uns schaut und sich fragt, ob wir denn überhaupt noch einen Funken Menschlichkeit besitzen. Überzeugungen, die es rechtfertigen, wenn Betende in Moscheen (oder jedem anderen Ort des Gottesdienstes – inklusive Bürogebäude, weil im Islam auch Arbeit ein Gottesdienst ist1) in die Luft gejagt werden, sollten zum Feind der Menschheit [public enemy of humanity] erklärt werden. Die UNO sollte [über diesen Punkt] öffentlich abstimmen lassen. Und dann sollten wir die Stimmen zählen und ermitteln, wer dagegen ist.“

(1) Al-Rasheed spielt hier wohl auf den Anschlag gegen das World Trade Center an.


ricardo antwortete am 24.03.04 (22:28):

Hallo mart
Ich hoffe, das ist nicht die einsame Stimme eines Rufers in der Wüste.

Wir sollten nicht stets an die eigene Brust klopfen, und mit eigene Brust meine ich die ALLER westlichen Staaten , auch die der USA, die muslimischen Länder trifft sicher eine Mitverantwortung an den schrecklichen Terrorangriffen. Und man muß es einmal sagen:
Eine Mitverantwortung an ihrer Rückständigkeit und an dem Problem ihrer Flüchtlinge.
Sobald sie selbst Hand anlegen, dann wäre die westliche Welt mehr bereit, diese Bemühungen tatkräftig zu untterstützen.


Medea. antwortete am 25.03.04 (07:44):

Al-Rasheed spricht offene Worte, ich bin sicher, sie werden auch bei seinen Landsleuten zum Nachdenken anregen.
...."Mir geht es aber gar nicht um die Rolle Amerikas, sondern um etwas, worüber ich schon oft geschrieben habe: die arabische Neigung, andere zu beschuldigen und die Tatsachen auszublenden." ...

Wer so deutlich ausspricht, was sich abspielt, muß ein sehr mutiger Mann sein. Ich hoffe, noch oft von ihm zu lesen.


jeanny antwortete am 25.03.04 (08:52):

viele couragierte männer wie Al-Rasheed

braucht die welt.

dann hätte auch dieser weinende 12jährige junge(den ich gestern
im fernsehen sah)mit einem sprenggürtel um die taille
eine chance auf eine zukunft.


schorsch antwortete am 25.03.04 (09:09):

Ach gäbe es auf der Welt doch Tausende von Al-Rasheeds......


Medea. antwortete am 25.03.04 (10:18):

Ja jeanny -
es hat mich rasend gemacht, diesen mißbrauchten, behinderten, vor Angst schlotterden Jugen mit seinem
Sprengstoffgürtel zu sehen ....

da kommt Sprachlosigkeit und Trauer auf ..... :-((


mart antwortete am 26.03.04 (09:06):

Unangenehme Fragen eines saudischen Journalisten an seine Landsleute


Jamal Khashoggi ist stellvertretender Chefredakteur der "Arab News", einer englischsprachigen Tageszeitung, die in Jeddah, Saudi-Arabien, publiziert wird.
(Project Syndicate/Übersetzung: Sandra Pontow/DER STANDARD, Printausgabe, 28.9.2002)


Ein Journalist, der kürzlich das Königreich von Saudi-Arabien besuchte, fragte mich, warum fünf von sechs Studenten, die er an der King-Saud-Universität interviewt hat, immer noch glauben, dass Al-Qa'ida nicht für die Angriffe auf das World Trade Center und das Pentagon letztes Jahr in Amerika verantwortlich ist. Es ist für mich zunehmend frustrierend, mich mit dieser Frage zu beschäftigen, weil ich langsam keine plausiblen Erklärungen mehr für dieses Phänomen habe.


Anfangs hatte ich geglaubt, dass die Leugnung einer saudischen Mittäterschaft bei den Angriffen unsere Verzweiflung darüber spiegelt, was an diesem dunklen Tag geschehen war. Und ich hoffte, wir würden eines Tages den Mut aufbringen, die von uns empfundene Demütigung zu überwinden, indem wir tief in unsere nationale Psyche blicken und die große Frage stellen: "Warum haben 15 unserer jungen Männer Amerika auf so brutale Art und Weise angegriffen?"
Bis jetzt sind wir mit der Beantwortung dieser Frage noch nicht weiter, als wir es nach den Angriffen waren, weil wir uns noch nicht einmal trauen, sie zu artikulieren.
Blind stellen?
Die von Osama Bin Laden entführten Flugzeuge haben nicht nur New York und Washington angegriffen, sie haben auch den Islam als Glauben und die von ihm gepredigten Werte der Toleranz und Koexistenz attackiert. Doch trotz des ungeheuren Ausmaßes der Geschehnisse halten wir an der Strategie des Leugnens fest. Wir klammern uns immer noch an Verschwörungstheorien, sogar nachdem Bin Laden und der Kreis seiner Verschwörer mit ihrer großartigen "Leistung" geprahlt haben.

Wir verschließen weiter unsere Augen vor der Tatsache, dass 15 junge muslimische Männer beschlossen, ihre Heimat zu verlassen, sich auf den Weg in das machten, was sie als Djihad bezeichneten, und dabei zu Verbrechern wurden.
So darf es nicht weitergehen: Wir müssen uns endlich eingestehen, dass 15 Saudis bei der Ausübung der Angriffe auf Amerika am 11. September geholfen haben und dass Hunderte anderer Saudis, fern der Heimat in den Bergen und Dörfern Afghanistans, sinnlos ums Leben gekommen sind.
Wir müssen herausfinden, warum das Taliban-Regime in Afghanistan in den Jahren vor dem 11. September auf eine erhebliche Anzahl saudischer Jugendlicher eine derartige Anziehungskraft ausübte.
Afghanistan war schließlich ein Land, in dem Muslime sich gegenseitig umbrachten. Und jeder Muslim weiß, dass es in einem solchen Fall seine Pflicht gewesen wäre, zu versuchen, die Kämpfenden zu versöhnen, nicht sich an der Gewalt zu beteiligen.


mart antwortete am 26.03.04 (09:08):

Fortsetzung:


"Als Mitte der Achtzigerjahre zum ersten Mal Araber, auch Saudis, in Afghanistan kämpften, war ihr Feldzug politisch und religiös korrekt. Afghanische Muslime stellten sich ausländischen Aggressoren entgegen, die ihnen den Sowjet-Kommunismus aufzwingen wollten. Die Mudjahedin standen unter der Aufsicht verantwortungsbewusster Kleriker, die ein leuchtendes Beispiel für die saudische Jugend abgaben. Als die Mudjahedin dann nach Kabul gingen, um an dem bitteren internen Machtkampf teilzunehmen, der zum Aufstieg der Taliban führte, blieben einige dieser jungen Männer in Afghanistan - andere kehrten nach Hause zurück und wurden als Helden willkommen geheißen.
Waren diese jungen Männer, die damals nach Hause zurückkehrten, klüger als die saudische Jugend heute? Was war in den letzten zehn Jahren geschehen, das es Extremisten ermöglichte, eifrige Anhänger unter saudischen Jugendlichen zu finden?


Seit dem 11. September haben wir uns damit beschäftigt, die Amerikaner zu beraten und ihnen zu zeigen, wo sie Fehler gemacht haben. Stattdessen sollten wir unsere eigenen Schwächen beheben und der Frage auf den Grund gehen, die uns von den Amerikanern - zu Recht - unaufhörlich gestellt wird: Warum haben sich junge saudische Männer an den Angriffen beteiligt?
Wir müssen eine Antwort auf diese Frage finden, nicht um der Amerikaner willen, sondern für uns selbst.

Es reicht nicht, zu sagen, dass die Entführer - und auch die vielen Saudis, die in Guantanamo Bay gefangen gehalten werden - nur eine Minderheit hinters Licht geführter Jugendlicher repräsentieren und der Rest der saudischen Jugend anders ist. Das stimmt zwar, aber der Schaden, den diese relativ kleine Gruppe angerichtet hat, ist gigantisch. Viel wichtiger wäre es, ihre Motive zu ergründen.

Bei unseren Versuchen des vergangenen Jahres, uns zu verteidigen und zu rechtfertigen, erfuhren wir Saudis von den Konsequenzen des Extremismus in Waco, Texas und Oklahoma City. Wir berichteten über die Michigan Militia und andere amerikanische radikale Extremisten. Natürlich gibt es Extremismus in Amerika. Doch die Vorfälle in Waco und Oklahoma City wurden bis ins letzte Detail von den Amerikanern untersucht und analysiert, um dafür zu sorgen, dass solche Dinge sich nicht wiederholen. Und genau das haben wir Saudis nicht getan.

Es ist daher unsere vordringlichste Aufgabe, dafür zu sorgen, dass unsere Kinder nie mehr wieder von solchen extremistischen Ideen beeinflusst werden können wie von jenen, die 15 unserer Landsmänner dazu verleiteten, an diesem schönen Septembertag vier Flugzeuge zu entführen und sich - und uns - direkt in das Tor zur Hölle zu fliegen."