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THEMA:   Kriegs-Weihnachten 1914

 14 Antwort(en).

iustitia begann die Diskussion am 19.12.03 (21:45) mit folgendem Beitrag:

Eine Buchbesprechung aus "DIE ZEIT". 2/2003:

F r i e d e a n d e r W e s t f r o n t:
Und Friede auf Erden. Weihnachtswunder 1914: Michael Jürgs erzählt von der großen, einmaligen Verbrüderung an der Westfront
Von Volker Ullrich

Am Abend des 24. Dezember 1914 reißt die Wolkendecke über Flanderns Schlachtfeldern auf. Der Himmel wird sternenklar, und der Vollmond hüllt die Kraterlandschaft zwischen den Schützengräben in ein mildes Licht. Plötzlich – die britischen Soldaten wollen ihren Augen nicht trauen – flackern auf den Brüstungen der gegenüberliegenden Gräben Lichter, brennende Kerzen auf kleinen Tannenbäumen. Wieder einmal eine perfide Kriegslist der verhassten „Hunnen“? Doch dann setzt Gesang ein. Stille Nacht, Heilige Nacht, tönt es aus rauen Männerkehlen und: Es ist ein Ros’ entsprungen. „Well done, Fritzens“, rufen die verblüfften Zuhörer und verlangen eine Zugabe. Und von drüben schallt es zurück: „Merry Christmas, Englishmen“ – „We not shoot, you not shoot“.

Tatsächlich schweigen an diesem Heiligen Abend des Jahres 1914 fast überall an der Westfront die Waffen. Zunächst vereinzelt, bald in immer größeren Gruppen steigen deutsche Soldaten aus ihren Gräben, und nach anfänglichem Zögern tun es ihnen die Briten gleich. Man trifft sich im Niemandsland zwischen den Schützenlinien, tauscht Geschenke aus und vereinbart eine Waffenruhe für den nächsten Tag. Ein Wunder, so scheint es, ist geschehen: Dieselben Männer, die noch wenige Tage zuvor nichts unversucht gelassen haben, sich gegenseitig umzubringen, stehen nun zusammen, lachen, schwatzen, rauchen und prosten sich zu. „Wir fühlten uns dabei glücklich wie Kinder“, notiert ein sächsischer Offizier in sein Tagebuch.

Michael Jürgs’ emphatischer, hinreißender Bericht über das Wunder an der Westfront 1914 klingt wie ein modernes Märchen, wie eine schöne Utopie in Zeiten des Krieges. Doch was der Autor erzählt, ist nicht erfunden, sondern hat sich wirklich so zugetragen. für einen kurzen, magischen Moment schien sich die Weihnachtsbotschaft zu erfüllen: „Und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.“ (...)
*
Das Buch:
Michael Jürgs: Der kleine Frieden im Großen Krieg. Westfront 1914: Als Deutsche, Franzosen und Briten gemeinsam Weihnachten feierten; C. Bertelsmann Verlag, München 2003; 351 S., 22,90 ä (c) DIE ZEIT 17.12.2003 Nr. 52


Karl antwortete am 20.12.03 (17:47):

Dieser Bericht berührt mich. Das war mir nicht bekannt, Karl


schorsch antwortete am 20.12.03 (18:07):

Die aber, die diesen Krieg befohlen hatten, sassen mit ihren Familien daheim bei Kerzenschein, Cheminéfeuer und Braten und dachten mit keinem Atemzug an die Soldaten, die sie als Kanonenfutter aufs Schlachtfeld geschickt hatten.....


mart antwortete am 20.12.03 (18:22):

Schon mal Karl Kraus "Die letzten Tage der Menschheit" gelesen, oder in einer der großartigen Lesungen (z.B. von Qualtinger) oder in verkürzter Form im Theater gesehen.

Erschütternd, gigantisch, großartig!


Sofia204 antwortete am 20.12.03 (18:23):

auch mein Großvater,
gefallen in Flandern 35jährig,
hätte vielleicht dabei sein können ...

danke Antonius für die Geschichte

:-)


mart antwortete am 20.12.03 (19:24):

Danke dem Webmaster für die Löschung meines undisqualifizierten Beitrags.


iustitia antwortete am 20.12.03 (19:44):

Wer noch einige Seiten aus Michael Jürgs Buch lesen will -
es gibt da einen Adventskalender, auf den ich aufmerksam machen möchte.
(Dort auf der fünften Seite ist der Text enthalten...)

https://www.abi-gaesdonck.de/phpBB2/viewtopic.php?t=171&postdays=0&postorder=asc&start=0

Internet-Tipp: https://www.abi-gaesdonck.de/phpBB2/viewtopic.php?t=171&postdays=0&postorder=asc&start=0


uul antwortete am 21.12.03 (01:44):

Mein Vater hat das selbst miterlebt und Jahrzehnte danach noch mit Tränen in den Augen davon erzählt.


mart antwortete am 21.12.03 (02:15):

"Gestern war Weihnachten.
Heute ist Krieg.
Vorgestern war auch Krieg.
Nur gestern nicht:
Da war Weihnachten

Heute schießen sie wieder.
Wir auch.
Heute sterben sie wieder.
Wir auch.

Gestern schossen wir nicht.
Gestern sangen wir.
Viele weinten.
Ich auch.

Heute schießen wir wieder.
Die auch.
Heute sterben wir wieder.
Die auch.

Gestern weinten wir.
Da war Friede.
Heute sterben wir.
Da ist Krieg.
Nur gestern war Weihnachten."

(Erstveröffentlichung: Durwen in »Die Horen« Nr. 96, 1974)

Internet-Tipp: https://www.ureda.de/php/lexikon/704.html


iustitia antwortete am 21.12.03 (10:48):

@ uul
Dank Dir für den persönlichen Bericht.
Ich hatte noch nie von dieser Kriegsweihnacht gehört - und lese noch immer mit ungläubigen Augen, aber frohem Herzen in dem Buch - es ist mit vielen Bildern und Berichten ausgestattet, die in England erscheinen konnten.


iustitia antwortete am 21.12.03 (21:02):

Texte und Bilder zu "Kriegsweihnachten 1914":

Internet-Tipp: https://www.randomhouse.de/specials/michaeljuergs_derkleinefrieden/#text3


iustitia antwortete am 22.12.03 (08:21):

Zu der Nachfrage - was kann man mit Offizieren oder Befehelshabern machen, die einfach weiter befehlen: "Angriff! Kämpfen! Schießen!" - zitiere ich noch mal aus Michael Jürgs' Buch: "Der kleine Frieden im Großen Krieg".

"In Deutschland waren im nationalen Taumel ganze Schul-klassen kurz vor dem Abitur, angeführt von ihren Lehrern, zur Musterung angetreten. Statt der üblichen Sommerferien gab es halt das Abenteuer Krieg. Im Herbst wollten sie zurück sein, doch im Herbst waren viele schon tot. Von den Jahrgängen 1892 bis 1895, den jungen Männern, die beim Ausbruch des Krieges erst achtzehn, höchstens zweiundzwanzig Jahre jung waren, fielen in Deutschland insgesamt siebenunddreißig Prozent.
Die vom Verlust ihrer Männer, Väter, Söhne Betroffenen, die Frauen, die Kinder, die Eltern, sie weinten in Deutschland ebenso wie in England. In Frankreich wie in Belgien. In Russ-land wie in Österreich. Die hohlen Beileidsworte derer, die sie in den Tod abkommandiert hatten, an deren Händen Blut klebte, von ledernen Generalhandschuhen verdeckt, sind überall gleich trostlos. Ein junger Soldat aus dem Rheingau, Carl Zuckmayer, dichtete in vorausahnender Erkenntnis bereits vier Wochen vor Kriegsbeginn, im Juli 1914:

Einmal, wenn alles vorbei ist,
Werden Mütter weinen und Bräute klagen,
Und man wird unterm Bild des Herrn Jesus Christ
Wieder die frommen Kreuze schlagen.
Und man wird sagen: Es ist doch vorbei!
Lasst die Toten ihre Toten beklagen!
Uns aber, uns brach es das Herz entzwei,
Und wir müssen unser Lebtag die Scherben tragen.

Der Schock über eine verlorene Generation hatte in England eine andere Wirkung. Die ging tiefer als in Deutschland und hatte andere Folgen. Neville Chamberlains verzweifelter Ver-such, 1938 den deutschen »Führer« durch Appeasement zu beruhigen, um zwanzig Jahre nach dem Ende des verlust-reichen Krieges einen weiteren zu verhindern, ist auch durch das frühere Erleben massenhaften Sterbens erklärbar. Im Ersten Weltkrieg mussten britische Familien mehr Verluste als im schrecklicheren Zweiten erdulden. Deshalb ist der Erste der eigentliche, der Große Krieg und lebt als Great War, als die tat-sächliche Urkatastrophe des 2o. Jahrhunderts, die alle anderen auslöste, bis heute im kollektiven Unterbewusstsein fort.
Ganz anders bei den Deutschen. Sie liebten die Hingabe für einen großen Tod wie das eigene kleinbürgerliche Leben. So zu denken, daran zu glauben war ihnen eingebläut worden in den Familien, in den Schulen, in den Kirchen, in den Universitäten und beim Militär erst recht. Als kaum zwanzigjährige Studen-ten von ihren Offizieren bei Langemark in den Tod getrieben wurden, beuteten deutschnationale Dichter deren sinnloses Sterben aus für den Mythos von Langemark. für die Legende, derzufolge es süß und ehrenvoll sei, fürs Vaterland zu fallen. Die völkische Neigung, den Horror einer blutigen Schlacht zum heroischen Gottesdienst zu stilisieren, eine Niederlage zur Dolchstoßlegende umzulügen, wird den braunen Verbrechern ihr Geschäft erleichtern. Von allen guten Geistern verlassene Kleinbürger sahen in den Nazis dann ihr letztes Hell.
Man fasst es heute nicht, aber noch im Sommer und im Herbst 1914 galt im Vereinigten Königreich trotz der Proteste von Pazifisten allgemein die Parole, Krieg sei Abenteuer. Den ernst gemeinten Vorschlag von George Bernard Shaw im sozi-alistischen Wochenblatt »New Statesman«, veröffentlicht am 14. August, hielt man für einen gut formulierten joke. Premiermister Asquith wollte den Dichter am liebsten vor ein Militärgericht stellen und wegen Hochverrats anklagen lassen. Dabei hätte Shaws einfache Idee vielen das Leben gerettet: Die Soldaten aller Armeen, schrieb er, sollten ihre Offiziere erschießen und anschließend nach Hause gehen. (...)"


schorsch antwortete am 22.12.03 (10:03):

Friede auf Erden.....



Millionen Tränen fliessen Tag und Nacht
auf unsere nackte, wundgebrannte Erde.
Und tausend Kriege werden neu entfacht,
von uns, der ignoranten Menschenherde.


Millionen Kinder finden nicht ihr Täglich Brot.
Unschuldig müssen sie für Sünden zahlen.
Ohnmächtig schliessen wir die Augen ob der Not.
Denn keiner will sie sehen, ihre Qualen.


Millionen Frauen werden totgequält,
in gottverdammten Männerkriegen.
Der Teufel hat sich aus dem Ei geschält
und ruft: "Seid Männer, ihr müsst siegen"!


Ich frage euch, wie soll das weitergehn?
Was die hier tun, ist doch der bare Graus.
Warum lässt dies der Alte Gott geschehn?
Wir rotten uns ja selber aus.



März 1993 Schorsch


dingo antwortete am 23.12.03 (05:43):

Gesternabend war hier war ein TV film über das Weihnachtsfest. nach dem enlischen film, ist der krieg nicht wieder richtig in gang gekommen bis mitte februar 1915. viele befehle vom generalstab, von beidenseiten, zum weiterführen des krieges wurden nicht befolgt.

Mit "hier" meine ich Australien.


iustitia antwortete am 25.12.03 (19:59):

Als ich vom Frieden an der Westfront las - Weihnachten und Silvester 1914 - fiel mir ein Gedicht von Paul Zech wieder ein, das ich bisher nicht verstanden hatte. Ich hatte es für eine Fiktion, ja, fast für etwas komisch, vielleicht gar lächerlich gehalten: Frieden, wie er es in seinem Gedicht "Weihnacht über den Gräben", das Frieden an der Front" beschrieb...? Ja, es ist genauso wahr wie seine andere Gedichte über das Schlachten und und die Schlachtenfelder, z.B. "Verdun".
Zech, der im westpreußischen Briesen geboren wurde verbrachte seine Jugend im Rheinland. 1944 - natürlich - musste er sich vor den Nazis in Sicherheit bringen, floh über Prag und Paris nach Südamerika. Er verstarb dort in Buenos Aires am 7. September 1946.

Paul ZECH: Weihnacht über den Gräben

Aufbricht das Blau des Tags wie aller Tage
silberbehauchte Frühe im Gelände ...
Doch hinter eines schwarzen Waldes Wände
gewaltiges Licht brennt auf mit einem Schlage.

Vorhang des Rauchs, des Sturms wird aufgezogen.
Landschaft der Gräben, Gruben und Verhaue
wird weit in eine nebel-ungenaue
Provinz der anderen Welt zurückgebogen.

Heißer Alarme Gong singt Bruder-Lieder,
aus Höhlen stürzen Heere breit nach oben
aufatmend, aufgelöst sich zu umarmen.

Auf aller Lippen kniet christ-selig nieder
der Psalm »Einander« ... Engelchöre toben,
Gott selber heult herab und heult: Erbarmen!
*
(Zuerst 1916 gedruckt in "Die Schaubühne". Jg. 12. Bd. 2. S. 589. Aus: P.Z.: Gedichte. Aachen 1999. S. 118)