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THEMA:   Mehr Mut zur Gerechtigkeit

 17 Antwort(en).

BarbaraH begann die Diskussion am 03.11.03 (01:15) mit folgendem Beitrag:

Damit hatte kaum jemand gerechnet: mehr als 100 000 Bürger folgten dem Aufruf von Attac und demonstrierten am Sonntag in Berlin gegen den Sozialabbau der rot-grünen Regierung. Dabei ist die grundsätzliche Einsicht zum Verzicht bei den Bürgern durchaus vorhanden. Vermisst wird ein Gefühl von Gerechtigkeit.

>>Sie haben das Gefühl, dass der SPD der Mut zur Gerechtigkeit abhanden gekommen, an dessen Stelle der Mut zur Anpassung an den neoliberalen Zeitgeist getreten und dabei die Glaubwürdigkeit der Reformpolitik auf der Strecke geblieben ist.

Das Gefühl ist nicht unberechtigt. Das Gleichgewicht zwischen der Wirtschaft und dem Sozialen ist gestört; der historische Dreiklang des Grundgesetzes, das ja Rechtsstaatsidee, Demokratieprinzip und Sozialstaatsgebot vereint, wird dissonant. Der Mut der Bundesregierung ist beschränkt, weil sie die „Zumutungen“ – ohne die es nicht geht – einseitig verteilt. Bisher ist nicht sichtbar, so klagt der scheidende EKD-Ratsvorsitzende Manfred Kock, „dass auch die Starken in die Pflicht genommen werden“

......... Welchen Reformbeitrag also leisten Industrie und Spitzenverdiener? Sie finanzieren die vielen Kampagnen – vom „Bürgerkonvent“ bis zur „Initiative soziale Marktwirtschaft“ –, die für den Rückbau des Sozialstaates werben.<<

Internet-Tipp:
Artikel in der Süddeutschen Zeitung von Heribert Prantl
Mehr Mut zur Gerechtigkeit
https://www.sueddeutsche.de/sz/meinungsseite/red-artikel12/

Die Frankfurter Rundschau berichtet:

>>Bei der Abschlusskundgebung hatte eine Sprecherin der globalisierungskritischen Organisation Attac unter anderem kritisiert, dass vor allem Arme, Alte und Kranke zur Kasse gebeten würden. Rot-Grün sei verantwortlich "für das gigantischste Verarmungsprogramm, das dieses Land je gesehen hat".<<

https://www.frankfurter-rundschau.de/ressorts/nachrichten
_und_politik/deutschland/?cnt=332520

Gelingt es Schröder nicht, den Bürgern ein Gefühl von Gerechtigkeit zu vermitteln, kann das das Ende der Sozialdemokraten bedeuten. Attac jedenfalls wies darauf hin, dass diese Demo erst der Anfang einer Reihe von landesweiten Protestaktionen war.

Haben die Sozialdemokraten noch eine Chance?

Internet-Tipp: https://www.sueddeutsche.de/sz/meinungsseite/red-artikel12/


Wolfgang antwortete am 03.11.03 (08:51):

Da ist auf einmal der (auch hier in den Foren) vielbeschworene Protest... Ich denke, niemand, am allerwenigsten die Regierenden, haben geglaubt, dass er mit dieser Wucht hervorkommt. BuergerInnen in Berlin sollen den DemonstrantInnen von den Fenstern aus und am Strassenrand Beifall geklatscht haben. Spontan sollen sich PassantInnen der Demo angeschlossen haben.

Das Problem der Protestler: Sie koennen sich zu keiner der etablierten Parteien fluechten - denn rot, gruen, schwarz oder gelb unterscheiden sich nur noch dem Namen nach, aber nicht mehr, was ihre Politik betrifft. Und die heisst: Abbauen sozialer Leistungen und senken der Loehne bzw. Renten.


schorsch antwortete am 03.11.03 (10:00):

Frage an die Kritiker/Gegner der heutigen Regierung: Wollt ihr dereinst lieber ein Staatsgefüge mit sanierter Haushaltskasse übernehmen, oder ein überschuldetes?


Wolfgang antwortete am 03.11.03 (10:40):

So aehnlich, schorsch, fragen unsere PolitikerInnen auch ihre WaehlerInnen... Es ist dieses (wirklich ganz vorsichtig ausgedrueckt) schlichte Denken, das die Leute aufbringt. Denn dafuer, was passiert, wenn durch Sparen ein Land in die Deflation (das Gegenteil von Inflation) geraet, gibt es historische Beispiele. In Deutschland hatten wir schon einmal solche Sparaktionen... Etwa ab dem Jahr 1930 ging es los mit solch einer Politik.

BRUENING hiess der damalige 'Schroeder'... Eine Politik des Sparens begann. Die Folgen waren verheerend: Lohn- und Rentenkuerzungen, Kaufzurueckhaltung, Insolvenzen, Massenarbeitslosigkeit... Wasser auf die Muehlen der Nationalsozialisten. Die ernteten dann, was HEINRICH BRUENING gesaet hatte.


BarbaraH antwortete am 03.11.03 (13:16):

Wir sind Export-Weltmeister, der Containerumschlag im Hamburger Hafen boomt.... Unsere Wirtschaft krankt an der mangelnden Binnennachfrage.

Täglich hören wir, dass wir bald weniger Geld im Portemonnaie haben werden... dass wir in Zukunft mehr für die Gesundheitsversorgung ausgeben müssen... dass wir für eine ausreichende Rente selber zu sorgen haben... dass wir über unsere Verhältnisse leben. Kann es unter diesen Umständen verwundern, wenn die Deutschen sparen wie verrückt? Gleichzeitig wird auf Konsum verzichtet. Das Verhalten der Deutschen ist für mich logisch... für unsere Wirtschaft verhängnisvoll....


Wolfgang antwortete am 03.11.03 (13:46):

Ich moechte die Schriften des Oekonomen HEINER FLASSBECK empfehlen - ein Kritiker der Sparpolitik (vgl. https://www.flassbeck.com/ ).

Insbesondere sein kurzer Aufsatz "Schulden und Schuld" ist lesenswert (vgl. Link). Ein Zitat daraus:

"Fakt ist nun, dass die deutschen Haushalte sparen. Sie sparen sogar mehr als in den letzten Jahren, weil sie unsicher sind und - unter anderen - die Regierung ihnen staendig sagt, nur ueber mehr Sparen koennten sie ihre Zukunft sichern. [...] Bleiben die Unternehmen. Die sind derzeit aber auch unsicher, sparen ebenfalls, investieren weniger und wollen sich gerade nicht zusaetzlich verschulden, weil die Welt voll ist mit ueberschuldeten Unternehmen. Was passiert in dieser Situation, wenn auch der Staat spart? Diese Frage muss beantworten, wer in Ernst zu nehmender Weise ueber staatliche Schulden sprechen will."

So weit das Zitat. Meine Antwort... Was passieren kann ist das: Die staatliche Sparpolitik loest eine Lawine von Sparern aus. Zum Schluss geht die Lawine zu Tal. Die Wirtschaft und die daran haengenden Sozialsysteme kollabieren. Wir haben uns dann totgespart.

https://www.flassbeck.com/pdf/18.1.03/SCHULDEN.pdf

Internet-Tipp: https://www.flassbeck.com/pdf/18.1.03/SCHULDEN.pdf


Mechtild antwortete am 03.11.03 (14:46):

Gibt es unter den Wirtschaftswissenschaftlern Nur noch Kenianer? Wo sind die alternativen Wirtschaftswissenschaftler? Dass Sparen kein Gewinn bringt, müsste doch jeder aus dem Privatbereich kennen.


Irina antwortete am 03.11.03 (15:11):

Ist Deutschland noch eine Demokratie?


Medea. antwortete am 03.11.03 (15:35):

Trotz alledem: ja
- Wo gibts noch bessere? -


seewolf antwortete am 03.11.03 (17:40):

"Angst essen Seele auf"


iustitia antwortete am 03.11.03 (19:08):

Vertrauen wir der FDP: F-iele D-eppen p-lappern....
(Möllemanns Absturzstelle liegt 1,5 km Fußweg von meinem Arbeitszimmer; die Gedenkreste waren eine Woche nach der letalen Demonstration des Steuersparfuzzis und des Spaßdemokraten weggeräumt. Der "Landeplatz" RE-Loemühle soll mit zwei Start- und Landebahnen und mit einer Verlängerung um 1 km - auf Kosten der Steuerzahler und Anwohner - ausgebaut werden. für die Lusthoppser, die ab Freitagmittag angerauscht kommen.)
Also, Daumen drücken, dass Westerwölle durchhält. Er textete (ließ texten): "PRIVAT" vor Staat...!
Freiheit vor Gerechtigkeit...


Wolfgang antwortete am 03.11.03 (19:33):

Die meisten OekonomInnen, Mechtild, sind, wenn sie die Universitaet verlassen, AnhaengerInnen der Ideen von JOHN MAYNARD KEYNES. Schnell merken sie allerdings, dass dessen Ideen bei den Reichen (die alle guten Jobs zu vergeben haben) derzeit nicht gerade hoch im Kurs stehen.

So wechseln viele quasi ueber Nacht zu anderen Denkschulen... Denkschulen, die z. B. sagen, dass man die Reichen immer noch etwas reicher machen muss, damit die Armen irgendwann einmal auch etwas davon abkriegen.

Fakt ist aber, dass KEYNES damals Recht behielt. Ungluecklicherweise war es ADOLF HITLER, der die daniederliegende private Nachfrage per staatlicher Schuldenpolitik (in diesem Fall per Aufruestung und Krieg) anfachte und so die 'Pferde wieder zum Saufen brachte'.

Traurig, aber wahr: Als die sozialdemokratischen und buergerlichen Sparkommissare (die damals schon miteinander kooperierten) abgewirtschaftet hatten und die Republik zu Tode gespart und Millionen Menschen um ihr Einkommen gebracht hatten, schlug die Stunde der Nazis.


schorsch antwortete am 04.11.03 (08:49):

Nun kooperieren sie wieder, die Sozis und die Sparkommissare. Und wieder steht einer auf ohne Furcht und Tadel. Nein, nicht Adolf selig natürlich, sondern Wolfgang (;--))))


Tobias antwortete am 04.11.03 (11:25):

Hallo Wolfgang, wir könnten es ja wieder so machen wie Hitler. Die Arbeitslosen wurden zur Arbeit gezwungen bekamen dafür aber nur ihr zustehendes Arbeitslosengeld. Diese Arbeit nannte man Arbeitsdienst, hatte aber mit den später gegründeten Arbeitsdienst nichts zu tun. Wer nicht willig war wurde mit Gewalt gezwungen dies zu tun. Nein dies war nicht der richtige Weg.

Ja sie haben sich zu Tode gespart,aber nur wegen den hohen Reperationskosten die ihnen von den Siegermächten 14 / 18 abverlangt wurden. Der Diktator Hitler hat sich über alles hinweggesetzt und damit war schon der nächste Krieg programmiert. Nein dies war kein Aufschwung, 1945 bekamen wir dafür die Quittung.


Wolfgang antwortete am 04.11.03 (12:41):

Es war damals ein wirtschaftlicher Aufschwung, ohne Frage, wenn auch nur zu einem schlechten Zweck: Zum Kriegfuehren. Du siehst, Tobias, ich widerspreche Dir da nicht.

Wichtig ist aber m. E., dass alle erkennen, warum es HITLER gelang, binnen ein paar Jahren zum in Deutschland allseits geachteten und verehrten 'Fuehrer' aufzusteigen. Bis dann, in der Tat, die Rechnung praesentiert wurde und der Krieg begann.

Der politische Niedergang der Weimarer Republik (und ihrer HaupttraegerInnen, die sozialdemokratischen und buergerlich-konservativen PolitikerInnen) begann als vom Staat induzierter wirtschaftlicher Niedergang. Damals, ab etwa 1930, setzten die Maechtigen auf die Politik des Sparens. Innerhalb von zwei, drei Jahren hatten sie die Republik totgespart. Die Arbeitslosigkeit stieg stark an. Die 'kleinen' Leute - Facharbeiter, Angestellte, Beamte, Ladenbesitzer und Handwerker, Rentner, Arbeitslose - mussten sich schwer einschraenken oder verarmten sogar. Die WaehlerInnen liefen in Scharen davon. Das Ansehen der etablierten Weimarer PolitikerInnen und ihrer Parteien ging gegen Null.

Ich frage Dich, Tobias: Siehst Du nicht auch (trotz aller Unterschiede, die ich ja nicht bestreite) verblueffende Aehnlichkeiten mit der heutigen Situation ?

Oder, anders gefragt: Muessen wir eigentlich das schon einmal gescheiterte Experiment des Totsparens einer ganzen Volkswirtschaft wiederholen, nur um zu beweisen, dass es mit dem Meucheln der jetzt zweiten Republik genauso klappt ?


Tobias antwortete am 04.11.03 (18:18):

Nein Wolfgang nicht die geringste Ähnlichkeit zu der Weimarer Republik. Wir alle haben in den letzten beiden Jahrzehnten über unsere Verhältnisse gelebt und müssen dafür jetzt zahlen. Schweden hat diese Ochsentour bereits hinter sich und wir schaffen es auch.

Das Fundament der jetzigen Gesellschaft war noch nie so stabil wie jetzt. Wenn hier in Deutschland Menschen von Armut reden wissen diese Menschen nicht wie wirkliche Armut ist. Es mag soziale Härtefälle geben aber im Verhältnis immer noch kein Vergleich zu früheren Zeiten.

Aus einer Familienchronik ---Wietzel---- die mein Onkel zusammengetragen hat, finde ich folgende Daten aus dem Jahr 1900. Die genauen Marktpreise am 18.12. 1900 sind dort wieder gegeben.
Korn 1 Zentner 7 Mark 50 Pfennig
Kartoffel 1 Zentner 3,00 Mark
1 Liter Milch 15 Pfennig
Käse 3 Stück 18 Pfennig
Butter 1 Pfund 1 Mark
Eier 4 Stück 28 Pfennig
Bier 1/ 2 Liter 10 Pfennig
Der Wochenlohn eines Arbeiters betrug bei 60 Wochenstunden bei 8 – 10 Mark eine Arbeiterin verdiente bei gleicher Arbeitszeit 3 – 6 Mark.
Die Verhältnisse waren laut Aussage meine Schwiegermutter ( jetzt 95 Jahre) Anfang der 30er Jahre vergleichbar.
Es ging uns in Deutschland noch nie so gut und wir sollten alles daran setzen, dass dies so bleibt, wenn auch einige Abstriche gemacht werden müssen.


Wolfgang antwortete am 05.11.03 (00:48):

@Tobias... Abstriche wird es reichlich geben. Besonders ja auch bei den RentnerInnen (was ich in diesem speziellen Fall sogar begruesse, weil sonst die Zahlungsunfaehigkeit der staatlichen Rentenversicherer droht). Das Sparen haben die derzeit Regierenden (und die ihnen moeglicherweise schon bald Folgenden) ja nicht nur angekuendigt, sondern bringen eine Sparmassnahme nach der anderen auf den Weg.

Die Auswirkungen werden nicht lange auf sich warten lassen.

Schau'n wir mal, wer recht behaelt. ;-)


BarbaraH antwortete am 17.11.03 (01:24):

Professor Hermann Adrian, Physiker mit dem Nebenfach Demographie an der Universität Mainz, sieht die Ursache für den Rückgang der Geburtenrate in den negativen Anreizen der deutschen Sozialversicherung:

>>„Die Kosten für die Erziehung von Kindern haben nur die Familien zu tragen, die Vorteile – vor allem für die umlagefinanzierte Rentenversicherung – werden sozialisiert. In dieser Situation ist es kein Wunder, dass sich immer mehr junge Menschen gegen Kinder entscheiden“, sagte der Wissenschaftler. Eine Berücksichtigung der Leistungen von Familien in der Sozialversicherung sei nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch für höhere Geburtenraten nötig......

„Das zur Zeit existierende Rentensystem ist ungerecht, da die heutigen Kinder dazu gezwungen werden, den Kinderlosen eine Rente zu schenken.“

Das Problem werde dadurch verschärft, dass Kinderlose eine höhere Rente erhalten als viele Eltern, da sie aufgrund fehlender Erziehungszeiten ein höheres Erwerbseinkommen hätten, an das die Renten geknüpft sind: „Es ist ein Skandal, dass Kinderlose, weil sie eine durchgehende Erwerbstätigkeit haben, heute eine höhere Rente. Erziehungs- und Betreuungszeiten von Eltern müssen viel stärker anerkannt werden.“
.......
Gegenwärtig könne man nur dem ehemaligen Verfassungsrichter Paul Kirchhof zustimmen: „Den größten Nutzen von Kindern hat man, wenn man keine hat.“<<

https://www.sueddeutsche.de/sz/wirtschaft/red-artikel73/

Internet-Tipp: https://www.sueddeutsche.de/sz/wirtschaft/red-artikel73/