Übersicht Archiv "Politik und Gesellschaft"

THEMA:   Zu Genua

 12 Antwort(en).

Günter Paul begann die Diskussion am 23.07.01 (10:44) mit folgendem Beitrag:

Hallo, ich bin der neue Einmischer. Ich möchte mich an alle wenden, die sich trotz Alters und nachlassender Kräfte nicht aus der Verantwortung für das Geminwohl stehlen wollen.

Was ist das für eine Politik, die Menschen zu sinnlosen Gewaltausbrüchen provoziert?

Was sind das für Politiker, die sich von schwer bewaffneter Polizei und Militär gegen die Menschen abschirmen lassen, über deren Wohlergehen sie angeblich beraten, anstatt ihnen im Ringen um eine gerechtere, erträglichere Welt voranzugehen.

Eines zeigt Genua eindeutig: Es reicht nicht mehr aus, „etwas gegen die Armut in der Welt zu tuen“. Es müssen endlich Bedingungen geschaffen werden, die allen Menschen – in den „armen“ wie in den „reichen“ Ländern - ein sinnvolles, menschenwürdiges Leben ermöglichen. Solche Bedingungen wurden in internationalen Verträgen, die auch die G8-Staaten unterzeichnet haben, schon vor Jahrzehnten umrissen, bisher aber nicht verwirklicht.

Ich wäre an Eurer Meinung sehr interessiert.

Ein Einmischer


M.Threin antwortete am 24.07.01 (22:54):

Ein Toter, rund 500 Verletzte, 200 Festnahmen. Beim G-8 Gipfel-Treffen in Genua demonstriert die Polizei, wie man hunderttausend friedliche Demonstranten und einige Randalefans ohne Unterschied verfolgt. In der Nacht zum Sonntag stürmte die italienische Polizei die Zentrale der G-8-Kritiker. Die Gewalt, die hier von der Polizei ausging macht mir Angst. Ist das Demonstrationsrecht nicht ein Grundrecht der Demokratie, was es zu schützen gilt. Wenn die Polizei sich gegen Demonstranten nicht anders verhalten kann, als mit Gewalt und dabei sogar einen Menschen tötet, finde ich das erschreckend. Man traut sich dann ja nicht mehr auf die Straße um zu demonstrieren aus Angst vor der Polizei, die im Grunde die Demonstration schützen soll.


Heidi antwortete am 25.07.01 (10:31):

>>...die im Grunde die Demonstration schützen soll<<

..sollte!

In diesem Fall sollten wohl im Rahmen einer (fast kriegsähnlichen) Mobilmachung die armen schutzlosen Politiker geschützt werden, die doch angeblich das Vertrauen ihrer Wähler besitzen.

Ein Armutszeugnis! Nicht nur in Italien..


BrigitteS antwortete am 28.07.01 (17:49):

Halli Hallo,
ich frage mich, wer den Ladenbesitzern und sonstigen Eigentümern die Reparaturen bezahlt für die ganzen Schäden an Geschäften und Autos, die von den Randalierern demoliert wurden? Man weiß doch, Gewalt erzeugt Gegengewalt. Jeder der gegen den Polizeieinsatz in Genua schreibt und redet - der würde sich sicher empören, wenn es um die Beschädigung seiner eigenen Sachen gehen würde. Sicher die Polizei hat einen Demonstranten getötet, was nicht zu tolerieren ist. Einem friedlichen, gewaltlosen Demonstranten wäre dies nicht passiert.
Mir ist aufgefallen, als man die Bilder in den Nachrichten gesehen hat, dass die gewaltätigen Demonstranten gar keine Pamphlete, Schilder etc. zeigten, auf denen sie gegen den Gipfel demonstrieren oder ihren Forderungen Ausdruck verleihen wollten. Es sieht eher aus, als ob es gar nicht darum ging, etwas an dem G-8-Gipfel zu kritisieren sondern darum, Krawall zu veranstalten. Soweit man das beobachten konnte, gab es nämlich auch friedliche Demonstranten, die sehr wohl Schilder mit ihren Forderungen an die Politiker zeigten.
Ich weiß, was ich hier schreibe kommt momentan nicht so gut an, aber man sollte immer beide Seiten betrachten. Wenn der Gipfel in Deutschland stattgefunden hätte, hätte unsere Polizei genauso reagiert; insofern sollten unsere Politiker froh sein, auch Herr Ströbel, dass wir diesen Gipfel nicht ausrichten mussten.
BrigitteS


Heidi antwortete am 28.07.01 (22:45):

>Sicher die Polizei hat einen Demonstranten getötet>

Halli, Hallo Brigitte!

Würdest Du obiges auch an den Vater des Jungen schreiben?

Ohne Hallo, Heidi


Günter Paul antwortete am 29.07.01 (11:51):

Liebe Diskussionspartner und Leser dieser Beiträge,

inzwischen hat sich weltweit Empörung über den brutalen Einsatz von Polizei und Militär ausgebreitet. Die Proteste sind innerhalb und außerhalb Italiens so heftig geworden, daß sich auch die Medien und immer mehr Politiker unter die Kritiker mischen. Amnesty international hat sich eingeschaltet. Die Forderung nach öffentlicher Untersuchung der Vorfälle wird in Italien und auch international immer lauter und zwingt selbst einen Berlusconi zur Stellungnahme. Es ist also gelungen, die exzessive staatliche Gewaltanwendung gegen protestierende Demonstranten zumindest in Frage zu stellen.

Über all´dem wurde das eigentliche Anliegen der Protestbewegung in den Hintergrund gedrängt, nämlich die Kritik an der Politik der Globalisierung und ihren Folgen: Zunehmendes Elend in den sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländern bei gleichzeitigem Sozialabbau in den entwickelten kapitalistischen Ländern, damit verbundene Vertiefung der sozialen Verwerfungen und Konflikte in der ganzen Welt, Vergeudung menschlicher Lebensquellen einschließlich der menschlichen Arbeit selbst, Mißbrauch wissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Errungenschaften, Umweltverwüstung und Raubbau und damit verbundene Umweltkatastrophen, Kriege und Bürgerkriege, schließlich Gefährdung der menschlichen Existenz überhaupt. Und das alles für den vergeblichen Versuch, das offenkundige Scheitern profitorientierter kapitalistischen Marktwirtschaft abzuwenden.

Es ist eben nicht möglich, die Kosten niedrig zu halten, um hohe Gewinne zu erzielen, und gleichzeitig eine hohe Kaufkraft zu sichern, die für die Realisierung der Gewinne auf dem Markt erforderlich ist. Schließlich ergibt sich die Kaufkraft vorwiegend aus den Arbeitseinkommen, die wiederum Kostenfaktoren sind. Um das zu begreifen braucht man weder Marx noch Engels, geschweige denn Lenin. Dazu braucht man nur den alten Rechenmeister Adam Ries und die Grundrechenarten. Aber zwischen Begreifen und Handeln schiebt sich bei uns Menschen eben die Anerkennung des Begriffenen, die stark emotional belastet ist und durch die Gewohnheit gebremst wird.

Wenn Interesse herrscht, würde ich die Diskussion gern in dieser Richtung weiter führen. Letztlich sind wir Seniorinnen und Senioren nicht berechtigt, uns der Verantwortung für die Zukunft der Menschheit – darum handelt es sich schließlich – zu entziehen. Ich glaube, gerade wir haben die Pflicht unsere umfangreichen Lebenserfahrungen, unser Wissen und Können in die Diskussion einzubringen und gemeinsam mit allen, die an der Lösung der Entwicklungsprobleme der Menschheit interessiert sind, nach richtigen Wegen zu suchen. Dabei geht es nach meiner Meinung nicht so sehr um „Meinungsstreit“ als vielmehr um gemeinsames Nachdenken darüber, wie die Menschheit aus den selbst gestellten Fallen herauskommt.


Herzliche Grüße

von Günter


Brigitte S antwortete am 31.07.01 (08:25):

Hallo Günter,

diesen Ausführungen ist nichts, absolut nichts hinzuzufügen.

Demonstrationen sind die verbleibende Möglichkeit gegen die gerade herrschende Politik zu protestieren und Druck vom Volk auszuüben.

Der Neo-Liberalismus ("Die freie Füchsin im freien Hühnerstall" - Kenneth Galbraith?),wie er in USA herrscht, wird auch von den europäischen Ländern vollständig übernommen werden. Dazu muß keine Prophetin sein, um dies festzustellen. Nachdem das kommunistische Modell gescheitert ist, gibt es keinen Grund mehr nach neuen, alternativen Wegen zu suchen, die eine real soziale und liberale Wirtschaftsordnung beinhalten müssten.

Liebe Heidi:
Deinen Ausführungen ist natürlich auch nichts hinzuzufügen: Es ist fürchterlich für die Eltern, die ihren Jungen - vor allem so jung - verloren haben.

Gruß Brigitte


Günter Paul antwortete am 01.08.01 (11:05):

Hallo, Brigitte und Ihr Anderen,

trotz der inzwischen hinzgefügten Bemerkungen noch einmal zurück zum ersten Beitrag von Brigitte.

Wer sagt Ihnen eigentlich, Brigitte S., daß diejenigen, die den rücksichtslosen Polizeieinsatz verurteilen, die sinnlosen Gewaltausbrüche, Verwüstungen und Plünderungen durch einen kleinen Teil der Demonstranten billigen? - Aber Sie haben recht. Es ist nicht in Ordnung darüber zu schweigen. Ganz gleich, ob die Randalierer spontan gehandelt haben oder, wie Augenzeugen und auch italienische Massenmedien berichten, durch Provokateure zu ihren Ausschreitungen aufgewiegelt worden sind, sie haben die Falschen getroffen. Die Proteste richteten sich eben nicht gegen kleine Gewerbetreibende und Händler, deren Geschäfte verwüstet worden sind, und auch nicht gegen kleine Angestellte verwüsteter Bankfilialen, die dort arbeiten, um so ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Regierungschefs konnten unbeeindruckt und gut abgeschirmt durch die Sicherheitskräfte seelenruhig (und im Grunde ohne greifbare Ergebnisse) auf einem Schiff ihre Gespräche fortsetzen – weitab vom Geschehen und ihren Kritikern. Und die Bosse der weltweit agierenden Konzerne und der Banken waren sowieso nicht vor Ort.

Es ist endlich an der Zeit, daß sich diejenigen, die die Verhältnisse nicht so hinnehmen wollen, wie sie von den Mächtigen gestaltet und geschützt werden, darüber nachdenken, wie sie ihre Aktionen zielgenauer durchführen können und damit auch wirksamer. Das gilt übrigens auch für die Gewerkschaften. Ich sage das als Mitglied der Ver.di. Ein Streik der Nahverkehrsbetriebe, der die Politiker zur rechtlichen Regelung des europaweiten Wettbewerbs veranlassen soll, aber ausschließlich die Fahrgäste trifft –und das sind bestimmt nicht diese Politiker – ist schlichtweg Unsinn. Reden wir also auch darüber! Ich glaube, wir älteren haben viel dazu zu sagen und sollten uns über das Diskussionsforum hinaus in unseren Vereinigungen Gehör verschaffen. Dann hat unsere Diskussion einen Sinn.

Trotz alledem: Die Sicherheitskräfte sind in Genua undifferenziert und mit großer Rücksichtslosigkeit gegen die Demonstranten vorgegangen. Wenn sie Näheres und Ungefiltertes darüber nachlesen wollen, empfehle ich Ihnen das Forum der Leipziger Volkszeitung (alles andere als ein „linkes“ Blatt). Sie finden es unter https://www.lvz-online.de, wenn sie von der Homepage aus das „Forum“ ab 23.07.2001 aufrufen. Leider sind die Einträge thematisch unsortiert, so daß Sie die Seiten vollständig durchgehen müssen. Ich glaube, daß von den Sicherheitskräften besonneneres, angemesseneres und disziplinierteres Verhalten zu fordern ist, als von randalierenden jungen Leuten. Schließlich sollen sie die Rechtsordnung schützen.

Das meint

Günter Paul

(Internet-Tipp: https://www.lvz-online.de)


Horst Krause antwortete am 04.08.01 (16:05):

Hallo Brigitte,
Deinen Beitrag finde ich gut und sachlich richtig, wird von mir voll unterstützt. Jades Ding hat wirklich 2 Seiten, leider wird oft nur die eine subjektive Sicht herausgestellt.
Horst


Bernhard antwortete am 25.08.01 (00:42):

Wichtig wäre vielleicht noch zu erwähnen, daß der Widerstand gegen die "Herrschaft der Glücksspieler" auch im Internet organisiert wird. Dort können die vielen Kämpferinnen und Kämpfer (noch) nicht zum Schweigen gebracht werden. Deshalb wurde in Genua ein Exempel statuiert... und kaum einer , auch nicht unser Kanzler, hat etwas dagegen gehabt.


Wolfgang antwortete am 25.08.01 (12:53):

Das ist ein wichtiger Hinweis, Bernhard... In Genua haben die derzeit Herrschenden versucht, eine Bewegung, die ihnen nicht passt, niederzuknüppeln und niederzuschiessen. Aber diese Bewegung lebt. Und weil sie - wie ihre Gegner auch - global agiert, lebt sie natürlich auch im Internet. Eine der wichtigsten Netzwerke ist ATTAC. Das ist eine Abkürzung für Association pour une Taxation des Transactions financičres pour l'Aide aux Citoyens (übersetzt bedeutet das Vereinigung zur Besteuerung von Finanztransaktionen im Interesse der BürgerInnen).

ATTAC ist keine revolutionäre Gruppierung. Sie wollen den wildgewordenen Kapitalismus zügeln und mit bestimmten Massnahmen und Strukturen regulieren. Sie wollen dem Kapitalismus ein menschliches Antlitz geben. Die Leute bei ATTAC beweisen, dass es eine globale Bewegung gegen die "Globalisierung" gibt.

ATTAC - für eine solidarische Weltwirtschaft gegen neoliberale Globalisierung
https://attac-netzwerk.de/

(Internet-Tipp: https://attac-netzwerk.de/)


Günter Paul antwortete am 30.08.01 (11:16):

Hallo, Freunde,

gerade die letzten Beiträge von Bernhard und Wolfgang sind für mich Hinweise darauf, wie breit die Bewegung gegen die neoliberale Globalisierung schon geworden ist. Immer größere Teile der Weltbevölkerung nehmen die spätkapitalistischen Grausamkeiten nicht mehr widerstandslos hin, sondern suchen nach Auswegen aus der wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und schließlich politischen Krise, in die der späte Kapitalismus die Menschheit getrieben hat. Es zeigt sich aber auch, daß diese Bewegung in sich sehr differenziert ist. Sie reicht von kapitalismuskritischen über antikapitalisitische bis zu deutlich sozialistischen Strömungen. Diese Vielfalt ist nach meiner Meinung einerseits eine Stärke, weil sie die Gefahr mindert, in Sackgassen zu geraten. Sie ist andererseits ein Problem. weil sie einheitliches Handeln erschwert.

Ich glaube, es ist an der Zeit, gemeinsame Vorstellungen über Ziele und Methoden anzustreben. Der Weg ist die freimütige Diskussion nicht gegeneinander, sondern miteinander. Es geht weniger um die Verteidigung oder Durchsetzung des eigenen Standpunkts, sondern um die Prüfung aller vorgetragenen Meinungen mit dem Ziel, zur Wahrheit durchzudringen.

An der Decke eines Sitzungssaales im Neuen Rathaus zu Leipzig las ich den Spruch: „Das sind die Weisen, die vom Irrtum zur Wahrheit reisen. Das sind die Narren, die im Irrtum verharren.“

Gruß

Günter Paul


Karl antwortete am 30.08.01 (13:33):

Lieber Günther,

das aber sind auch die Weisen, die bedenken, dass die absolute Wahrheit nicht existiert. Das aber sind die Fanatiker, die glauben, die absolute Wahrheit zu besitzen.

Mit freundlichen Grüßen,

Karl