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THEMA:   Gedichte Kapitel 33

 150 Antwort(en).

hl begann die Diskussion am 30.09.04 (23:07) :

Ein neues Kapitel für die Gedichte.
Kapitel 32 wird morgen archiviert. Die Mailliste wird, wie immer, übertragen.

Weiterhin viel Vergnügen mit den Gedichten.


Enigma antwortete am 01.10.04 (08:55):

Vielen Dank hl.
Aber ich als Allererste?? Na gut, eine(r) muss es ja sein.

Es gibt Tage im September...

Es gibt Tage im September,
die schon älter sind als der,
die nach November schielen
wie ein Kind nach dem Dessert,
die zufrieden Abschied nehmen
von des Sommers vollem Bauch.
Ihre Zeit hat andere Themen,
und die meine hat sie auch.

Es gibt Tage im September,
die mehr wissen als ich weiss,
die mich langsam gehen lehren
auf des Winters dünnem Eis,
die den Sommer noch mal zeigen
durch das Loch im Gartenzaun,
und ich seh`ihn sich verneigen
wie ein nimmermüder Clown.

Es gibt Tage im September,
die so müde sind wie Blei,
die mir die Erinn`rung nehmen
an den Monat namens Mai,
die randvoll sind mit Gewitter,
die mir sagen: Du bist alt.
Es sind Tage wie die Ritter
von der traurigen Gestalt.

Es gibt Tage im September,
die für mich nicht übrig sind,
die nach mir geboren werden
so wie manches andre Kind,
die ich um Vergebung bitte,
daß ich sie nicht sehen kann.
Meine ersten, letzten Schritte
fang ich schon zu gehen an.

Miriam Frances


hl antwortete am 01.10.04 (17:41):

:-) Kapitel 32 ist jetzt im Archiv unter /seniorentreff/de/diskussion/archiv4/a698.html

Viel Freude weiterhin

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/diskussion/archiv4/a698.html


iustitia antwortete am 01.10.04 (19:30):

Noch einige Beispiele aus
Rainer Maria Rilke: DIE SPRACHE DER BLUMEN
(Verfasst vor 1902)

Rilke:
Rittersporn
(Delphinium)

Sagt dir nicht ein tief Verlangen,
siehst du mich im weiten Feld
stolz vor allen andern prangen:
Mutigen gehört die Welt!?

Internet-Tipp: https://www.heilpflanzen-suchmaschine.de/rittersporn/Rittersporn-delphinium-sp-2.jpg


iustitia antwortete am 01.10.04 (19:33):

Rainer Maria Rilke:
DIE SPRACHE DER BLUMEN
(Verfasst vor 1902)
*
Rilke meinte nicht nur die Blumen, sondern auch Blüten von Sträuchern, Gebüsch und Bäumen:

Rilke:
Eiche
(Quercus)

Freund, bei jedem deiner Werke,
daß dein Arm dir nie erschlafft,
traue auf die eigne Stärke,
traue auf die eigne Kraft.

Internet-Tipp: https://www.apinguela.com/Plantas/Q/Quercus-suber/Quercus%20suber%201.jpg


iustitia antwortete am 01.10.04 (19:35):

Rainer Maria Rilke:
Aus: DIE SPRACHE DER BLUMEN
(Verfasst vor 1902)

Frauenschuh
(Cypripedium)

Überlege, überlege
jeden Umstand vor der Tat
und erwäge, Freund, erwäge
sogleich jeden guten Rat.

Internet-Tipp: https://botit.botany.wisc.edu:16080/images/veg/N.Wet_N.Wet_Mesic/Cypripedium_reginae_VK.jpg


iustitia antwortete am 01.10.04 (19:37):

Rilke:
Stachelbeere
(Ribes grossularia)

Schaffe dir, vernimm die Lehre,
strebend deinen eignen Herd.
Diesem Wirken ziemet Ehre,
Häuslichkeit gibt hohen Wert.
(Aus: Die Sprache der Blumen)

Internet-Tipp: https://www.lysator.liu.se/(nobg)/runeberg/nordflor/pics/279.jpg


iustitia antwortete am 01.10.04 (19:38):

Rilke:
Primel

Nimmer will ich höher streben,
denn ich lieb mein schlichtes Kleid.
Glaub, das höchste Glück im Leben
liegt in der Zufriedenheit.
(Aus: Die Sprache der Blumen)

Internet-Tipp: https://www.jahnke-soltau.de/ujaswelt/pflanzen/gifs/primel.jpg


iustitia antwortete am 01.10.04 (19:40):

Rilke:
Levkoie
(aus: Die Sprache der Blumen)

Tief hat mich dein Spott getroffen,
den ich bitter gar empfand –
dennoch biet ich frei und offen
zur Versöhnung dir die Hand.

Internet-Tipp: https://www.merle-online.de/ebay/levkoje.jpg


aknediw antwortete am 01.10.04 (23:52):

Die Menschen
die besten auf der Welt zu sein.
Wir Menschen bilden uns ein,
Wir sind intelligenter als alle anderen Lebewesen,
das ist schon immer so gewesen.
Wir besitzen das Wissen über das Leben
und können unseren Kindern
unsere Wunschgestalt geben.
Mit unserer Technik beherrschen wir die Welt.
Doch alles dreht sich nur ums Geld.
Wir sind die Größten, Stärksten, Tollsten,
weil wir den Regenwald abholzen,
weil wir ohne Grund Tiere ermorden.
Warum sollen wir uns ums Ozonloch sorgen?
Doch in Wirklichkeit ist die Menschheit
einfach nur dumm,
bringt sich in Kriegen selber um.
Will es auch nicht verstehen,
besser mit der Natur umzugehen.
Mit dem Wunsch, dass das Leben besser werde
zerstören wir nur unsere Erde.
Holen auch das Letzte für uns heraus
und rotten uns dabei selber aus.
Doch wir sollten langsam lernen,
dass es unter allen Sternen
keinen mehr wie diesen gibt
und niemand eine zweite Chance kriegt.

Silke Müller, 16 Jahre, Bad Oldesloe

Meine Meinung, sie hat recht.


Enigma antwortete am 02.10.04 (10:44):

...es gab zwar schon bei den Rilke-Gedichten einen Astern-Strauss im Bild, glaube ich.
Aber egal, dann noch einen:

Gottfried Benn
Astern

Astern - schwelende Tage,
alte Beschwörung, Bann.
Die Götter halten die Waage
eine zögernde Stunde an.

Noch einmal die goldenen Herden,
der Himmel, das Licht, der Flor.
Was brütet das alte Werden
unter den sterbenden Flügeln vor?

Noch einmal das Ersehnte,
den Rausch, der Rosen Du -
Der Sommer stand und lehnte
und sah den Schwalben zu.

Noch einmal ein Vermuten,
wo längst Gewißheit wacht:
Die Schwalben streifen die Fluten
und trinken Fahrt und Nacht.


iustitia antwortete am 02.10.04 (22:34):

Noch einige Gedichte aus Rilkes
„Die Sprache der Blumen“:

Brennende Liebe

Nur drei Worte sind vonnöten,
bergen Seligkeit in sich –
sieh mich zittern, mich erröten
und vernimm: Ich liebe dich!

Internet-Tipp: https://www.master-stauden.de/images/etikett/0095.jpg


iustitia antwortete am 02.10.04 (22:36):

Rilke:
Veilchen
(Aus: Die Sprache der Blumen)

Schlicht nur bist du stets gewesen,
unbedeutend oft und klein,
dennoch nimmt dein liebes Wesen
jeden, jeden für dich ein.
*
Dies Blümchen ist es auch...:

(...)
"Veilchen träumen schon,
wollen balde kommen."
(...)

Internet-Tipp: https://www.kidsweb.at/spring2001/veilchen.gif


iustitia antwortete am 02.10.04 (22:38):

Rilke:
Narzisse

Hast du herzlos auch getrieben
loses Spiel; mich oft betrübt,
dennoch muß ich stets dich lieben –
wie ich immer dich geliebt.

(Ich habe die "Dichternarzisse" ausgewählt; sie blüht erst, wenn die meisten frühblühenden Narzissen verwelkt sind.)

Internet-Tipp: https://www.hawriverprogram.org/NCPlants/Narcissus_poeticus_flowers.jpg


pilli antwortete am 03.10.04 (00:50):

Herbst II

Rings ein Verstummen, ein Entfärben:
wie sanft den Wald die Lüfte streicheln,
sein welkes Laub ihm abzuschmeicheln;
ich liebe dieses milde Sterben.

Von hinnen geht die stille Reise,
die Zeit der Liebe ist verklungen,
die Vögel haben ausgesungen,
und dürre Blätter sinken leise.

Die Vögel zogen nach dem Süden,
aus dem Verfall des Laubes tauchen
die Nester, die nicht Schutz mehr brauchen,
die Blätter fallen stets, die müden.

In dieses Waldes leisem Rauschen
ist mir als hör' ich Kunde wehen,
dass alles Sterben und Vergehen
nur heimlich still vergnügtes Tauschen.

Nikolaus Lenau


Enigma antwortete am 04.10.04 (09:12):

Alfred Brendel
In meinen Armen der Engel

In meinen Armen der Engel
ich kann ihn nicht sehen
aber ich spüre etwas
langsam
mache ich mir ein Bild
eine Engelin ohne Zweifel
nur den Nabel
kann ich nicht finden
Wußten Sie daß Engel
am ganzen Körper zittern
weil sie schnurren
wie riesige Katzen
wenn auch unsichtbar
Wer einen Engel
mit zu viel Gefühl anblickt
der sieht eben außer der Aura
gar nichts

Aus:"Spiegelbild und schwarzer Spuk"

Internet-Tipp: https://www.fruehjahrsbuchwoche.de/2004/portra04/04portra02.html


iustitia antwortete am 04.10.04 (11:55):

Da wandeln mir und mich Bilder und Fragen an - beim angebelnden Brendel:

Als Mann braucht Brendel natürlich
eine Engelin;
und deren praesenten Nabel (sonst nix?) –
was verrät sie ihm damit oder
gibt sie ihm preis?
Und „Gefühl“ hatte er zu viel, oh Mann,
zu heiß,
da verschwimmelt ihm die Optik.
Mit was nähert er sich denn
sonst oder überhaupt
oder manchmal
oder wenn die Frau Engelin es anders mag –
sich ihr?
Ohne dat dumme Gefühl?
Nur so mit Geilheit?
Oder mit hastendem Tastendruck
oder ästhetischem Knopf- oder Kopf-
ah: Kopfdruck, in spiritu deo so:
Ich schlage deine Tasten
an wie ein Gott im
kühnen Besuch die
schwarz-weißen Berge
mit den Weinterrassen bespringt?
Auf dass sie sprießen,
wachsen, blühen, gedeihen –
und die vollnabligen Trauben dem Winzer
die Bütten voll-weinen?
Oder tut das
ohne Brendel
der Gott mit dem Knospenschuh
(der Frühling, ohne miefige Engelhaftigkeit),
der wandernd über Täler und Gipfel,
Höhen und die Begierden der Tastler und Winzer -
die Berge aus der Winterstarre erlöst?
Einfach so, in Wärme, Gefühl und Segen.
Und uns Wein schenkt, wenn wir seiner achten?
*
URL: Ode(r) einfacher, so, wie „mann“ will:

Internet-Tipp: https://www.spirit-of-love.org/seminar%20fra.htm


Enigma antwortete am 05.10.04 (09:02):

@iustitia
... das Gedicht von Brendel hatte ich für ironisch gehalten, einen kleinen Feldzug gegen "die Engelei" allerorten oder - um mit Deinen Worten zu sprechen: ...die "miefige Engelhaftigkeit"....


Aber nun wieder was ganz anderes:

Heinrich Heine
Der Schmetterling ist in die Rose verliebt

Der Schmetterling ist in die Rose verliebt,
umflattert sie tausendmal,
ihn selber aber goldig zart
umflattert der liebende Sonnenstrahl.
Jedoch, in wen ist die Rose verliebt?
Das wüßt`ich gar so gern.
Ist es die singende Nachtigall?
Ist es der schweigende Abendstern?
ch weiß nicht, in wen die Rose verliebt;
Ich aber lieb`euch all!
Rose, Schmetterling, Sonnenstrahl,
Abendstern und Nachtigall.


marie2 antwortete am 05.10.04 (21:29):

Boskop
Er hieß Boskop
und ich konnte ihn leiden.
Er war ein Apfel
aus unseren Breiten.

Ich nahm ihn nach Hause,
legte ihn auf meinen Tisch,
Woche um Woche
blieb er rotbackig und frisch.

Ob im Sonnenlicht
oder bei garstigem Regen,
er hieß Boskop
und ist einfach dagelegen

Er schrieb sich nicht Gravensteiner,
nicht Jonathan,
er hieß einfach Boskop
und schaute mich listig an.

Er hieß Boskop,
war des schrumpligen Boskops Sohn,
er gefiel mir,
das erwähnte ich schon.

Nachts war ich traurig,
weil ich ihn nicht mehr sah,
da dachte ich mir „Boskop“
und er war wieder da.

Sebastian Goy


Enigma antwortete am 06.10.04 (08:58):

Kriegslied

`s ist Krieg! `s ist Krieg! O Gottes Engel wehre
und rede du darein!
`s ist leider Krieg - und ich begehre
nicht schuld daran zu sein!

Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
und blutig, bleich und blaß,
die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,
und vor mir weinten, was?

Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten,
verstümmelt und halb tot
im Staub sich vor mir wälzten, und mir fluchten
in ihrer Todesnot?

Wenn tausend Väter, Mütter, Bräute,
so glücklich vor dem Krieg,
nun alle elend, alle arme Leute,
wehklagten über mich?

Wenn Hunger, böse Seuch`und ihre Nöten
Freund, Freund und Feind ins Grab
versammelten, und mir zu Ehren krähten
von einer Leich herab?

Was hülf mir Kron`und Land und Gold und Ehre?
Die könnten mich nicht freun!
`s ist leider Krieg - und ich begehre
nicht schuld daran zu sein!

Matthias Claudius
1740 - 1815


aknediw antwortete am 06.10.04 (22:02):

Wir sehen mit Grauen
Ringsherum:
Die Leute werden
alt und dumm.
Nur wir allein
im weiten Kreise,
wir bleiben jung
und werden weise.
Eugen Roth


Enigma antwortete am 07.10.04 (08:14):

Der Friedensheld

Ganz unverhofft, an einem Hügel,
sind sich begegnet Fuchs und Igel.
"Halt", rief der Fuchs, "du Bösewicht!
Kennst du des Königs Order nicht?

Ist nicht der Friede lang verkündigt,
und weißt du nicht, daß jeder sündigt,
der immer noch gerüstet geht? -
im Namen seiner Majestät.

Geh her und übergib dein Fell!"
Der Igel sprach:"Nur nicht so schnell!
Laß dir erst deine Zähne brechen,
dann wollen wir uns weiter sprechen."

Und alsogleich macht er sich rund,
schließt seinen dichten Stachelbund,
und trotzt getrost der ganzen Welt,
bewaffnet, doch als Friedensheld.

Wilhelm Busch


Enigma antwortete am 09.10.04 (07:43):

Matthias Claudius
Die Apfelkantate

Der Apfel war nicht gleich am Baum.
Da war erst lauter Blüte.
Da war erst lauter Blütenschaum.
Da war erst lauter Frühlingstraum
und lauter Lieb und Güte.
Da waren Blätter grün an grün
und grün an grün nur Blätter.
Die Amsel nach des Tages Mühn,
sie sang ihr Abendlied gar kühn
und auch bei Regenwetter.
Der Herbst, der macht die Blätter steif.
Der Sommer muß sich packen.
Hei! Daß ich auf dem Finger pfeif,
da sind die ersten Äpfel reif und haben rote Backen!
Und haben Backen rund und rot
und hängen da und nicken.
Und sind das lichte Himmelsbrot.
Wir haben unsere liebe Not,
daß wir sie alle pflücken.
Und was bei Sonn und Himmel war,
erquickt nun Mund und Magen.
Und macht die Augen hell und klar.
So rundet sich das Apfeljahr.
Und mehr ist nicht zu sagen.


pilli antwortete am 09.10.04 (15:28):

Was sagt' der Herbst der Ros' ins Ohr,
daß sie die Munterkeit verlor?
Er mahnt' sie an die Nichtigkeit
der Treue, die der Lenz ihr schwor.
Sie reißt entzwei den Schleier, den
sie nahm, als er zur Braut sie kor;
Und wie sie bleich vom Throne sinkt,
erseufzt der Nachtigallen Chor.
Wer brach entzwei das Lilienschwert?
So blank geschliffen war's zuvor.
Die Tulp' entfloh so eilig, daß
den Turban sie am Weg verlor.
Beschämt senkt der Jasmin sein Haupt,
weil ihm der Ost die Locken schor.
Es streut der Wind mit voller Hand
von Bäumen Blättergold empor.
Das dürre Laub schwirrt durch die Luft
wie Fledermäus' aus Gräbertor.
Das Totenlied der Schöpfung spielt
der Herbstwind auf geknicktem Rohr.
Die finstre Tanne trägt den Schnee
wie weißen Bund ums Haupt ein Mohr.
Der Berg nahm weißen Hermelin,
weil ihm die nackte Schulter fror.
O sieh des Jahrs Verwüstung an
und hole frischen Wein hervor!
Die Sonne sandt' uns, eh sie wich,
den jungen Most ins Haus zuvor,
Daß er uns leucht' an ihrer Statt,
wann ihre Kraft dämpft Wolkenflor.
Sieh, wie des Wintergreises Grimm
des Frühlingskindes Hauch beschwor.
Er weckt in Bechertönen ein'
verzaubert' Nachtigallenchor,
Und trunkne Blicke sich ergehn
auf schöner Wangen Rosenflor.
Du trink, und seufz' im Winter nicht;
denn auch im Frühling seufzt ein Tor.

Friedrich Rückert


Enigma antwortete am 10.10.04 (07:59):

Viele Wahrheiten

Der Himmel ist blau.
Das ist die Wahrheit.

Der Himmel ist nicht blau.
Die Luftmoleküle streuen lediglich den Blau-Anteil des
Sonnenlichts stärker als die übrigen Spektralfarben.
Das ist die Wahrheit.

Es gibt in der Außenwelt überhaupt kein Blau.
Es gibt elektromagnetische Wellen der Wellenlänge
470 Nanometer, die unser Hirn dazu bringen, sich Blau vorzustellen.
Auch das ist die Wahrheit.

Und wenn ich all das weiß und an einem schönen Tag den Blick hebe,
dann ist der Himmel immer noch blau.

(Peter Hohl)

Internet-Tipp: https://www.blickreich.de/cgi-bin/dynamic.pl?id=1478


Enigma antwortete am 11.10.04 (08:27):

Guten Morgen alle,

und hier noch einmal etwas für alle "Blau-Liebhaber":

Die blaue Blume

Ich suche die blaue Bume,
ich suche und finde sie nie.
Mir träumt, daß in der Blume
mein gutes Glück mir blüh.

Ich wandre mit meiner Harfe
durch Länder, Städte und Au`n,
ob nirgends in der Runde
die blaue Blume zu schaun.

Ich wandre schon seit langem,
hab lang gehofft, vertraut.
Doch ach, noch nirgends hab ich
die blaue Blume geschaut.

Joseph von Eichendorff

Internet-Tipp: https://www.seilnacht.com/Lexikon/FBlau.htm


iustitia antwortete am 11.10.04 (23:56):

Ein Gruß ins Blaue -

Rose Ausländer:
Blassblaue Tage I

Blassblaue Tage halten die Herzen so milde
süßer vertieft sich das Weh um den alten Verlust.
Herbstfäden wehen silberlang über Gefilde,
und der Alpdruck der Zeit fällt leicht von der Brust.

Nimm süßes Kind diese honigduftenden Reben,
allen Sinnen zum Trost; auch die Nelke sei dein!
Wolken sind nah wie der Traum und fern wie das Leben
aber der hellblaue Stern dort läßt dich allein.

Werden die Möwen ihre Nähe verschmähen
um dir zu huldigen, ach der Verzicht ist zu groß!
Lass ihnen Freiheit! Nimm diese blassblauen Nähen
diese schon welkenden Tage auf in dein Los!
*
Blätter "in blau": s. URL.

Internet-Tipp: https://www.killerhippie.de/blaetterinblau.jpg


Enigma antwortete am 12.10.04 (06:50):

An Novalis

In dunkler Erde ruht der heilige Fremdling.
Es nahm von sanftem Munde ihm die Klage der Gott,
da er in seiner Blüte hinsank.
Eine blaue Blume
Fortlebt sein Lied im nächtlichen Haus der Schmerzen.

Georg Trakl, 1912


pilli antwortete am 12.10.04 (08:03):

Blaue Hortensie

So wie das letzte Grün in Farbentiegeln
sind diese Blätter, trocken, stumpf und rauh,
hinter den Blütendolden, die ein Blau
nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegel.

Sie spiegeln es verweint und ungenau,
als wollten sie es wiederum verlieren,
und wie in alten blauen Briefpapieren
ist Gelb in ihnen, Violett und Grau;

Verwaschnes wie an einer Kinderschürze,
Nichtmehrgetragnes, dem nichts mehr geschieht:
wie fühlt man eines kleines Lebens Kürze.

Doch plötzlich scheint das Blau sich zu verneuen
in einer von den Dolden, und man sieht
ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen.

(Rainer Maria Rilke)


iustitia antwortete am 12.10.04 (23:14):

So viel "Blaues" - für alle Blaufreundinnen - von meinem Naturlyrik-Liebling Lehmann:

Wilhelm Lehmann:
Ein Lachen

Geschenk noch einer Daseinsstrecke,
Bist du zu nutzen sie bereit?
Eidechse sucht die Sonnenflecke,
Die Augen zu, den Rücken breit.
Beweglich noch, es nachzumachen,
Gelingt dem Alten leises Lachen.

Wäre ich besser nicht geboren?
Doch dann hätte ich verloren
Blau, das ein Augusttag blaut,
Weiche Luft wie Pfirsichhaut,
Von der Ahnung hingerissen
Zu den Göttern, den Gewissen:
Nicht gehört mit Telemach Athene sprechen,
Möwe auf der Reling sitzend,
Wie den Übermut der Freier brechen,
Schwalbe durch die Halle flitzend.
(1965 geschrieben)
*
Lehmann beschreibt sich oder einen anderen, gedachten Mann als Odysseus, der nach Hause kommt, um in Verein mit Telemach die frech gewordenen Freier zu bekämpfen und die Ehefrau wiederzugewinnen.

URL - Odysseus hat gut lachen..

Internet-Tipp: https://www.skiathosinfo.com/business/images/odysseus.jpg


pilli antwortete am 13.10.04 (01:29):

ob Enigma schon im traum die rezeptur des geheimnisvollen
"Yves Klein Blau" ergründet ? :-)

...

Einmal noch den Abend halten
Im versinkenden Gefühl!
Der Gestalten, der Gewalten
Sind zuviel.
Sie umbrausen den verwegnen Leuchter,
Der die Nacht erhellt.
Fiebriger und feuchter
Glänzt das Angesicht der Welt.
Erste Sterne, erste Tropfen regnen,
Immer süßer singt das Blatt am Baum.
Und die brüderlichen Blitze segnen
Blau wie Veilchen den erwachten Traum.

(Klabund)

Internet-Tipp: https://kuerzer.de/7mXo5T3ns


Enigma antwortete am 13.10.04 (08:34):

Guten Morgen,

Pilli, ich weiss gar nicht, was ich so ergründet habe, keine Erinnerung an den nächtlichen Traum... Aber sehr schön ist das Liebeslied in der von Dir angegebenen URL :-)

Und weiter geht`s mit "Blau":

Gottfried Benn
Blaue Stunde

"Ich trete in die dunkelblaue Stunde -
da ist der Flur, die Kette schließt sich zu
und nun im Raum ein Rot auf einem Munde
und eine Schale später Rosen- du!
Wir wissen beide, jene Worte,
die jeder oft zu andren sprach und trug,
sind zwischen uns wie nichts und fehl am Orte:
Dies ist das Ganze und der letzte Zug.
Das Schweigende ist so weit vorgeschritten
und füllt den Raum und denkt sich selber zu
die Stunde - nichts gehofft und nichts gelitten -
mit ihrer Schale später Rosen - du.
Dein Haupt verfließt, ist weiß und will sich hüten,
indessen sammelt sich auf deinem Mund
die ganze Lust, der Purpur und die Blüten
aus deinem angeströmten Ahnengrund.
Du bist so weiß, man denkt, du wirst zerfallen
vor lauter Schnee, vor lauter Blütenlos,
todweiße Rosen Glied für Glied - Korallen
nur auf den Lippen, schwer und wundergroß´.
Du bist so weich, du gibst von etwas Kunde,
von einem Glück aus Sinken und Gefahr
in einer blauen, dunkelblauen Stunde
und wenn sie ging, weiß keiner, ob sie war.
Ich frage dich, du bist doch eines andern,
was trägst du mir die späten Rosen zu?
Du sagst, die Träume gehn, die Stunden wandern,
was ist das alles: er und ich und du?
Was sich erhebt, das will auch wieder enden,
was sich erlebt - wer weiß denn das genau,
die Kette schließt, man schweigt in diesen Wänden
und dort die Weite, hoch und dunkelblau.

Internet-Tipp: https://www.artelino.de/articles/franz_marc.asp


iustitia antwortete am 13.10.04 (12:28):

sCHÖNE bEISPIELE - BESONdERS DER Klabund hat mir gefallen. (Diese Buchstaben auch; man sosllte die Reform reformieren; man sCHreibt, wie man wILL, klein oder grOß in den WÖRtERn.
Gäbe auch beSTimmt SCHöNE MIssverSTändnISSE!)

*
Was zum "Blau" - was zum Herbst? Was in abweichender Rechtschreibung, was Gereimtes? Bitte:
Und ohne meine Rätsel - der Text ist von Wolfskehl - einem Juden, der sich bis nach Australien retten konnte; und dort nach 45 blieb, bietet eigene Rätselchen:

KARL WOLFSKEHL
Herbst

Die nebel eilen
Auf breiten strassen
Zum singen des wassers
Die nebel eilen.

Blaudunstig und leise
Entfliehen die tage
Mit weichem geflüster
Blaudunstig und leise.

Am ufer verschwiegen
Schlummern die barken
Der fahrten müde
Am ufer verschwiegen.

Der dich dürfte lenken
Du boot meiner träume –
Du harrest des starken
Der dich dürfte lenken!

O wär ich der ferge
Zum eden zum eiland
In heilige lenze
O wär ich der ferge!
*
URL - Wolfskehl neben George.

Internet-Tipp: https://www.kfvr.de/images/stefan_george_k_wolfskehl.jpg


Medea. antwortete am 13.10.04 (18:01):

Ein schönes Gedicht - es gefällt mir sehr.

Ganz bescheiden ein kleiner Hinweis:
der Ferge steht in der Dichtung für 'Fährmann'.


iustitia antwortete am 13.10.04 (21:06):

Ja, Medea:
"Ferge" als Berufsbezeichnung zu "Fähre". Und das ist eine Ableitung zum Verb "fahren".
Auch engl. "ferry" hängt damit zusammen, über anord. "ferja"; nnl. "veer". (Usw.)
Familiennamen dazu: Ferger, Ferg(g), Förch, Vörg, Ferche(l), Verch, Fehre, Föhr; Fährmann...
*
URL: der Schriftsteller aus Xanten: Wilhelm Fährmann

Internet-Tipp: https://www.franziskusschule.de/mitte/faehrm01.jpg


Enigma antwortete am 14.10.04 (07:31):

Oktobertag

Der Nebel fällt, aus grauen Fluten steigt
sonnenübergüldet eine helle Halde,
umschlossen rings von kühlem Eichenwalde,
aus dem sich lächelnd eine Birke neigt.

Vereinzelt hängt noch kupferbraunes Laub.
Das Astwerk krümmt sich in verrenkten Posen.
Am Bachgrund welken letzte Herbstzeitlosen.
Ein Bussard kreist; gespannte Kraft sinnt Raub.

Nackt ragt ein Stamm, schaut fragend auf ins Blau,
ein schwarzes Zeichen, eine Hieroglyphe.
Noch wirrer sprechen Schatten in der Tiefe.
Auf fahlem Farn glänzt lichterfüllt der Tau.

Wolfgang Bächler

Internet-Tipp: https://www.lyrikwelt.de/autoren/baechler.htm


iustitia antwortete am 14.10.04 (10:58):

Weiter - im Takt des Windes des Herbstes....

Siegfried von Vegesack:
Pan bläst auf dem Rohr

Pan bläst auf dem Rohr,
und der Himmel ist aus grünem Glase.
Eine rötlich-gelbe Seifenblase
steigt der Mond aus Wälderdunst empor.

Immer höher über dunklem Grund
löst er sich vom letzten Baume,
schwebt, ein Ball, in dem kristallnen Raume
leicht und rund.

Auf dem Stoppelfelde hockt ein Hase,
spitzt das Ohr.
Pan bläst auf dem Rohr,
und der Himmel ist aus grünem Glase.
*
URL - etwas Kindliches vom Pan, wie es der griechische Kulturkreis uns überlieferte.

Internet-Tipp: https://www.grundschule-friedrichsfehn.de/projekte/lebenineuropa/themen_griechenland/pan.jpg


Sofia204 antwortete am 14.10.04 (12:14):

Eigenartig wie dieser 'Oktobertag' von Wolfgang Bächler
eine Saite zum Erklingen bringt,
der Klang erreicht ein frühes Verlies
wo inhäusig ein verwandter Rhythmus hockt :

Das Mondlicht fällt auf
eine Geige,
und braun im Schatten
lungert eine Laute.
Es ist als ob ein Zeichen
dort ergraute,
damit sein Winken sich ins
Dunkel neige.

Verf.?


iustitia antwortete am 14.10.04 (13:33):

Schöne Assoziationen zum Mondlicht... - spontan würde ich sagen: Rilke! Aber er kann nicht alles Zarte, Innere, Lebendige geschrieben haben.
*
Da werde ich mal suchen...
*
*
Noch zum Blau-Motiv - einmal was vom gelegentlich trunkenen Brambach; einmal was vom Sehnsuchts-Blau in der Frau (wohl sehr biografisch von der Hahn; aber wenn's auf e i n e andere Frau hier passt - meine Verehrung:

RAINER BRAMBACH:
Heiterkeit im Garten

Kann ich sagen: Der Brunnen brunnt?
Schnittlauch gehört nicht in die Vase,
auch wenn er violett blüht.
Sagt mir, warum nicht?
Ich zerreibe ein Salbeiblatt zwischen den Fingern,
Malven kommen hoch,
ein Regiment von Farnkraut steht mir entgegen.
Saufbrüderchen blühen rot,
ich blau, compostifolium brambachcensis.

*

ULLA HAHN:
Frau in Blau

Fernes Beben der Erde der Hand der ganze
Körper bebt in feinen Pinselstrichen
Beben gebahnt durch Sehnen
und Muskeln Gewebe
Samtmieder Halsband Spitzenhäubchen
schwer wie der Weg
den sich das Wasser aus den Steinsgeschichten
bahnt ins Blau aus reinem weißen
Schweigen leinenblassem Schweigen
in blaue Erscheinung blaue Fluchten
aus Kindertagen ins dreißigste Jahr
innerlich von Weinen geschüttelt müde
von so viel Form und Befreiung

*
Die Ulla Hahn ist ja bekannter...
Zu B r a m b a c h fand ich bei seinem Verlag,
dem klugen Diogenes in Zürich, die folgende URL.

Internet-Tipp: https://www.diogenes.ch/4DACTION/web_glob_showhtml/path=leser/autoren/index.html&ID=2318114


Medea. antwortete am 14.10.04 (15:32):

Über dier Heide

Über die Heide hallet mein Schritt;
Dumpf aus der Erde wandert es mit.

Herbst ist gekommen, Frühling ist weit -
Gab es dann einmal selige Zeit?

Brauende Nebel geistern umher;
Schwarz ist das Kraut und der Himmel so leer.

Wär ich hier nur nicht gegangen im Mai!
Leben und Liebe, - wie flog es vorbei!

(Theodor Storm)


Miriam antwortete am 14.10.04 (18:01):

Bertold Brecht

Erinnerung an die Marie A.

1.

An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum
Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen holden Traum.
Und über uns im schönen Sommerhimmel
War eine Wolke, die ich lange sah
Sie war sehr weiß und ungeheuer oben
Und als ich aufsah, war sie nimmer da.

2.

Seit jenem Tag sind viele, viele Monde
Geschwommen still hinunter und vorbei.
Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen
Und fragst du mich, was mit der Liebe sei?
So sag ich dir: Ich kann mich nicht erinnern
Und doch, gewiß, ich weiß schon, was du meinst.
Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer
Ich weiß nur mehr: ich küßte es dereinst.

3.

Und auch den Kuß, ich hätt ihn längst vergessen
Wenn nicht die Wolke dagewesen wär
Die weiß ich noch und werd ich immer wissen
Sie war sehr weiß und kam von oben her.
Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer
Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind
Doch jene Wolke blühte nur Minuten
Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.


Enigma antwortete am 15.10.04 (12:02):

Zwei Gedichte von Georg Heym

Der Herbst

Viele Drachen stehen in dem Winde,
tanzend in der weiten Lüfte Reich.
Kinder stehn im Feld in dünnen Kleidern,
sommersprossig und mit Stirnen bleich.

In dem Meer der goldnen Stoppeln segeln
kleine Schiffe, weiß und leicht erbaut;
Und in Träumen seiner leichten Weite
sinkt der Himmel wolkenüberblaut.

Weit gerückt in unbewegter Ruhe
steht der Wald wie eine rote Stadt.
Und des Herbstes goldne Flaggen hängen
von den höchsten Türmen schwer und matt.



Träumerei in Hellblau

Alle Landschaften haben
sich mit Blau gefüllt.
Alle Büsche und Bäume des Stromes,
der weit in den Norden schwillt.

Blaue Länder der Wolken,
weiße Segel dicht,
die Gestade des Himmels in Fernen
zergehen in Wind und Licht.

Wenn die Abende sinken
und wir schlafen ein,
gehen die Träume, die schönen,
mit leichten Füßen herein.

Zymbeln lassen sie klingen
in den Händen licht.
Manche flüstern und halten
Kerzen vor ihr Gesicht.

Internet-Tipp: https://www.dhm.de/lemo/html/biografien/HeymGeorg


pilli antwortete am 16.10.04 (07:53):

Schwebender Genius über der Erdkugel

mit der einen Hand nach unten,
mit der andern nach oben deutend

Zwischen oben, zwischen unten
Schweb ich hin zu muntrer Schau,
Ich ergötze mich am Bunten,
Ich erquicke mich im Blau.
Und wenn mich am Tag die Ferne
Luftiger Berge sehnlich zieht,
Nachts das Übermaß der Sterne
Prächtig mir zu Häupten glüht –

Alle Tag und alle Nächte
Rühm ich so des Menschen Los;
Denkt er ewig sich ins Rechte,
Ist er ewig schön und groß.

Memento mori! gibts genug,
Mag sie nicht hererzählen;
Warum sollt ich im Lebensflug
Dich mit der Grenze quälen!
Drum, als ein alter Knasterbart,
Empfehl ich dir docendo:
Mein teurer Freund, nach deiner Art
Nur vivere memento!

Wenn am Tag Zenith und Ferne
Blau ins Ungemeßne fließt,
Nachts die Überwucht der Sterne
Himmlische Gewölbe schließt,
So am Grünen, so am Bunten
Kräftigt sich ein reiner Sinn,
Und das Oben wie das Unten
Bringt dem edlen Geist Gewinn.

(J.W. von Goethe)


Enigma antwortete am 16.10.04 (14:07):

Lupinenblau

Lupinenblau - so war doch was
in meiner Kindheit. War es Glas?
Was war so blaß wie die Lupinen,
die sich wie wild dem Licht zudrehn,
wie blaue Flammen, die nicht brennen
und doch so überschnell vergehn?
Glas war es, Steine, Glitzerkram,
weiß nicht mehr, wie er an mich kam,
weiß nur noch dieses bleiche Blau,
die Sehnsuchtsfarbe. Morgentau
im leichten Himmelslicht erstarrt,
und ein Gefühl von solcher Art:
Glückstropfen, in der Faust zerpreßt,
verloren. Doch es blieb ein Rest
der Sehnsuchtsfarbe Lerchenblau.
Lupinen brennen unterm Tau.

Eva Strittmatter

Internet-Tipp: https://www.aberhallo.de/lexikon/index.php/Eva_Strittmatter


pilli antwortete am 16.10.04 (18:45):

Komm in den totgesagten park

Komm in den totgesagten park und schau:
Der schimmer ferner lächelnder gestade
Der reinen wolken unverhofftes blau
Erhellt die weiher und die bunten pfade.
Dort nimm das tiefe gelb - das weiche grau
Von birken und von buchs - der wind ist lau
Die späten rosen welkten noch nicht ganz
Erlese küsse sie und flicht den kranz
Vergiss auch diese letzten astern nicht
Den purpur um die ranken wilder reben
Und auch was übrig blieb von grünem leben
Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.

(Stefan George)


hl antwortete am 16.10.04 (19:22):

Nach einem wirklich "goldenem" Herbsturlaub kann ich dieses Gedicht bildlich vor mir sehen. :-)

Internet-Tipp: " target="_new">


iris1 antwortete am 16.10.04 (19:24):

Liebesgedicht

Mit halber Stimme rede ich zu dir:
Wirst du mich hören hinter dem bitteren
Kräutergesicht
Des Mondes, der zerfällt?
Unter der himmlischen Schönheit der Luft,
Wenn es Tag wird,
Die Frühe ein rötlicher Fisch ist mit bebender
Flosse?

Du bist schön,
ich sage es den Feldern voll grüner Pastinaken.
Kühl und trocken ist deine Haut. Ich sage es
Zwischen den Häuserwürfeln dieser Stadt, in der
Ich lebe.
Dein Blick - sanft und sicher wie der eines
Vogels.
Ich sage es dem schwingenden Wind.
Dein Nacken - hörst du - ist aus Luft,
Die wie eine Taube durch die Maschen des
blauen Laubes schlüpft.

Du hebst dein Gesicht.
An der Ziegelmauer erscheint es noch einmal als
Schatten.
Schön bist du. Du bist schön.
Wasserkühl war mein Schlaf an deiner Seite.
Mit halber Stimme rede ich zu dir.
Und die Nacht zerbricht wie Soda, schwarz und
blau.


KARL KROLOW (aus: Auf das Leben und die Liebe.
HERDER spektrum)


pilli antwortete am 17.10.04 (09:56):

Die Freuden

Da flattert um die Quelle
Die wechselnde Libelle,
Der Wasserpapillon,
Bald dunkel und bald helle
Wie ein Chamaeleon;
Bald rot und blau, bald blau und gruen,
O dass ich in der Naehe
Doch seine Farben sähe!

Da fliegt der Kleine vor mir hin
Und setzt sich auf die stillen Weiden.
Da hab ich ihn!
Und nun betracht ich ihn genau
Und seh' ein traurig dunkles Blau.
So geht es dir, Zergliedrer deiner Freuden.

(J. W. von Goethe)


iris1 antwortete am 17.10.04 (10:48):

ER KOMMT

Einkaufen: Kirschsaft Spinat und
neue Kartoffeln Spargel nicht der
ist noch zu teuer ach was
zwei Pfund Spargel bitte
Oh mein Gott: dem Friseur ging
die Farbe aus. Nehme ich statt
Rot Mahagoni nur nicht
vorne so kurz.

Wie angegossen das Kleid: aber
die Jeans sitzt straffer blau
liebt er und schwarz schön
also schwarzblau.

Steht die Uhr: nein noch einmal das
Beethoven Trio im zweiten Satz geht
die Klingel ich öffne die Tür
du schon da?

ULLA HAHN


iustitia antwortete am 17.10.04 (12:49):

Schönes Paar in "Blau":
Goethe und Ulla Hahn...

Heute ganz kurz, zum Sonntag:

Bertchen Brecht:
Geben Sie mir einen blauen Himmel und eine Handvoll Ähren, weiche Frauenarme und Freiheit, hinzugehen, wo ich will. Das ist Ruhe der Seele. (Baal. I-55,8-11)


URL: b.B.

Internet-Tipp: https://www.fluctuat.net/scenes/chroniq/brecht.jpg


Enigma antwortete am 17.10.04 (20:02):

Verklärter Herbst

Gewaltig endet so das Jahr
mit goldnem Wein und Frucht der Gärten,
rund schweigen Wälder wunderbar
und sind des Einsamen Gefährten.

Da sagt der Landmann: Es ist gut.
Ihr Abendglocken lang und leise,
gebt noch zum Ende frohen Mut.
Ein Vogelzug grüßt auf der Reise.

Es ist der Liebe milde Zeit,
im Kahn den blauen Fluss hinunter,
wie schön sich Bild an Bildchen reiht -
das geht in Ruh und Schweigen unter.

Georg Trakl


Enigma antwortete am 20.10.04 (08:06):

Selma Meerbaum-Eisinger (1924-1942)
Poem

Die Bäume sind von weichem Licht übergossen,
im Winde zitternd glitzert jedes Blatt.
Der Himmel, seidig-blau und glatt,
ist wie ein Tropfen Tau vom Morgenwind vergossen.
Die Tannen sind in sanfte Röte eingeschlossen
und beugen sich vor seiner Majestät, dem Wind.
Hinter den Pappeln blickt der Mond aufs Kind,
das ihm den Gruß schon zugelächelt hat.
Im Winde sind die Büsche wunderbar::
bald sind sie Silber und bald leuchtend grün
und bald wie Mondschein auf lichtblondem Haar
und dann, als würden sie aufs neue blühn.
Ich möchte leben.
Schau, das Leben ist so bunt.
Es sind so viele schöne Bälle drin.
Und viele Lippen warten, lachen, glühn
und tuen ihre Freude kund.
Sieh nur die Straße, wie sie steigt:
so breit und hell, als warte sie auf mich.
Und ferne, irgendwo, da schluchzt und geigt
die Sehnsucht, die sich zieht durch mich und dich.
Der Wind rauscht rufend durch den Wald,
er sagt mir, daß das Leben singt.
Die Luft ist leise, zart und kalt,
die ferne Pappel winkt und winkt.
Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und hassen
und möchte den Himmel mit Händen fassen
und möchte frei sein und atmen und schrein.
Ich will nicht sterben. Nein!
Nein.
Ds Leben ist rot.
Das Leben ist mein.
Mein und dein.
Mein.
Warum brüllen die Kanonen?
Warum stirbt das Leben
für glitzernde Kronen?
Dort ist der Mond.
Er ist da.
Nah.
Ganz nah.
Ich muß warten.
Worauf?
Hauf um Hauf
sterben sie.
Stehn nie auf.
Nie und nie.
Ich will leben.
Bruder, du auch.
Atemhauch
geht von meinem und deinem Mund.
Das Leben ist bunt.
Du willst mich töten.
Weshalb?
Aus tausend Flöten
weint Wald.
Der Mond ist lichtes Silber im Blau.
Die Pappeln sind grau.
Und Wind braust mich an.
Die Straße ist hell.
Dann...
Sie kommen dann
und würgen mich.
Mich und dich
tot.
Das Leben ist rot,
braust und lacht.
Über Nacht
bin ich
tot.
Ein Schatten von einem Baum
geistert über den Mond.
Man sieht ihn kaum.
Ein Baum.
Ein
Baum.
Ein Leben
kann Schatten werfen
über den
Mond.
Ein
Leben
Hauf um Hauf
sterben sie.
Stehn nie auf.
Nie
und
nie.
7.7.1941

Die Hoffnung von Selma auf Leben erfüllte sich nur für kurze Zeit. Sie starb im Alter von 18 Jahren in einem Arbeitslager.

Internet-Tipp: https://exil-archiv.de/html/biografien/meerbaum-eisinger.htm


iustitia antwortete am 20.10.04 (09:37):

Guten Morgen! (Draußen fließt zwar kein "warmes Gold" - aber vielleicht bin ich dafür auch selber verantwortlich...)

Als Antwort auf das "Liebesgedicht" von Krolow, das "iris1" einstellte - hier

KARL KROLOW: Biographie des Herbstes

Auf alten Bildern nimmt man den September als Borsdorfer Apfel oder als rote Reinette aus den Bäumen eines Pastorengartens. Man hält im Herbst wenn die Wespen im Saft der Bergamotten ertrinken die Fruchtmesser bereit, um während der Tagesklarheit in sein nachgiebiges Fleisch zu schneiden. Mirabelle und Reineclaude hören sich an wie Laute aus einem Glockenspiel. Ihr kandiertes Kobaltblau, ihr glasiertes Gelb leuchten als Farben im herbstlichen Fahnentuch. Zeit der reifenden Quitten, der Venusäpfel: das Glück auf griechisch. Die gerade Verheirateten mußten sich in eine Quitte teilen, berichtet uns die Überlieferung. Danach ihre Nacht.
Die Namen der Früchte werden im Ohr zu einem namenlosen Gesumm, zu einem anonymen Geräusch der Jahreszeit, in dem sich das Einzelne verliert, noch indem es seine Triumphe feiert. »Ich bin umvölkert und wundgeschlagen von den Stempeln vieler Geister und Gesichter und mancher Dinge, die so subtil sind, daß sie Geruch, Farbe, Struktur, Substanz, aber keinen Namen haben«, heißt es an einer Stelle von Virginia Woolfs »The Waves«. Die Fruchtgestalt wird namenlos. Die Birne überantwortet sich der reifen Geometrie der Kegel- und Flaschenform. Die Obstlandschaft wird abstrakt, kubistisch. Die perspektivische Illusion ist in ihr nur benutzt, um den Flächenwert wirksam werden zu lassen.
Ein Gelände, in dem um jedes Gartenstück ein Gitter Wohllaut gelegt zu sein scheint mandolinenleicht wie auf einem Bild von Juan Gris -, wird zu einem Kunstgegenstand, zu einem Objekt intellektuellen Entzückens, während die sogenannte Wirklichkeit sich weiter in ihm erhält, das nämlich, was jeder sieht und einsieht: - Männer spielen unter gelben Baumschatten weiter in Hemdsärmeln Karten. Aus dem Himmel fallen Insekten, die vom Mostgeruch angezogen wurden. Die Kapuzinerkressen schlagen Feuer aus ihren Spornen, die sich in jähen Farben flecken. Das natürliche Leben setzt sich fort. Türkenbohnen bekommen Tauschwert in Kinderhänden. Es gibt den gewohnten Anblick: graue Tauben, die auf einem Stoppelfeld Körner einsammeln. Die Herbst Erscheinung besteht aus rotem Rauch und süßem Verfall.
Der Freund der Poesie schüttelt nun im lyrischen Geäst Herbstgedichte von Storm, von Georg Trakl, »Herr, es ist Zeit« und »Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr«. Die Dichter haben für alles Vorsorge getroffen. Sie haben alle nur erdenklichen Gefühle vorausgesehen, die sich angesichts von Nüsseschlagen und den vom Licht vergoldeten Reitgeschirren der wenigen Pferde einstellen könnten. Sie haben uns ihres Mitgefühls versichert, des anstehenden Gefühls von Frösteln im Nacken und Rücken. Herr von Ribbeck bleibt von Theodor Fontane weiterhin damit beauftragt, seine Birnen weit und breit für uns leuchten zu lassen.
(Etwas gekürzt; aus Krolows "Minutenaufzeichnungen". 1968)
*
URL - noch "was" von K.K.:

Internet-Tipp: https://www.hoelderlin.de/kritik/krolow.jpg


iustitia antwortete am 20.10.04 (09:41):

Zu Krolows "Liebesgedicht" -

wer einer optischen Analyse , als Vorstufe zu einer Interpretation zuschauen will:

die URL - sie bietet es.

Internet-Tipp: https://www.kerber-net.de/literatur/deutsch/lyrik/krolow_liebesgedicht_600.jpg


iustitia antwortete am 21.10.04 (13:15):

Ich hatte einige Tage den Vegesack vergessen.

Siegfried von Vegesack:
Oktoberabend

Hirtenfeuer blinken rot durch qualmenden Rauch.
Grußlos starrt dich an ein fremdes, zerfurchtes Gesicht.
Wie ein nacktes Gerippe reckt sich am Wege der Strauch
ins verdämmernde Licht.

Ochsen ziehen des Weges, bedächtig mit schwankender Last.
Kellerwärts dröhnt der Kartoffel dumpf bullernder Klang.
Wohl dir, wenn auch du reichlich geerntet hast:
der Winter ist lang.

Alles drängt zu der wärmenden Häuser Beisammensein.
Wohl dir, ist auch dein Lager warm überdacht.
Irgendwo irrt einer Laterne flackernder Schein
im Dunkel der Nacht.


kns antwortete am 22.10.04 (17:06):

bitte, wer kann helfen?

ich suche ein Gedicht, das möglicherweise von Stefan Zweig ist und von dem ich lediglich die Zeile kenne:
"Ich gehe langsam aus der Welt".

dank im voraus für die Mühen,
herzlich
kns

kns.rv@t-online.de


Miriam antwortete am 22.10.04 (17:58):

Hallo kns,

das Gedicht ist von Hans Sahl, nicht von Stefan Zweig.

Du findest es unter folgender Internet-Adresse, neben vielen anderen Gedichten zum Thema Trauer:

Internet-Tipp: https://members.baumnet.at/a.landgraf/09/Trauer%20und%20Trost.htm


hl antwortete am 22.10.04 (20:39):

Ein schönes Gedicht

Ich gehe langsam aus der Welt heraus
in eine Landschaft jenseits aller Ferne,
und was ich war und bin und was ich bleibe,
geht mit mir ohne Ungeduld und Eile
in ein bisher noch nicht betretenes Land.
Ich gehe langsam aus der Zeit heraus
in eine Zukunft jenseits aller Sterne,
und was ich war und bin und immer bleiben werde,
geht mit mir ohne Ungeduld und Eile,
als wär ich nie gewesen oder kaum.

Hans Sahl


kns antwortete am 22.10.04 (23:10):

Liebe Miriam, liebe Heidi,

o, wie Ihr mir geholfen habt. Herzlichsten Dank!
Miriam, wenn Du mir die Deine Adresse mitteilst, schicke ich Dir eigens eine Dankeschönpost.

Ich wünsche Euch ein schönes Wochenende,
dankbar Euer
Koloman
kns.rv@t-online.de


Enigma antwortete am 24.10.04 (09:24):

Ingeborg Bachmann
Die blaue Stunde

Der alte Mann sagt: mein Engel, wie du willst,
wenn du nur den offenen Abend stillst
und an meinem Arm eine Weile gehst,
den Wahrspruch verschworener Linden verstehst,
die Lampen, gedunsen, betreten im Blau,
letzte Gesichter! nur deines glänzt genau.
Tot die Bücher, entspannt die Pole der Welt,
was die dunkle Flut noch zusammenhält,
die Spange in deinem Haar, scheidet aus.
Ohne Aufenthalt Windzug in meinem Haus,
Mondpfiff - dann auf freier Strecke der Sprung,
die Liebe, geschleift von Erinnerung.
Der junge Mann fragt: und wirst du auch immer?
Schwör`s bei den Schatten in meinem Zimmer,
und ist der Lindenspruch dunkel und wahr,
sag ihn her mit Blüten und öffne dein Haar
und den Puls der Nacht, die verströmen will!
Dann ein Mondsignal, und der Wind steht still.
Gesellig die Lampen im blauen Licht,
bis der Raum mit der vagen Stunde bricht,
unter sanften Bissen dein Mund einkehrt
bei meinem Mund, bis dich Schmerz belehrt:
lebendig das Wort, das die Welt gewinnt,
ausspielt und verliert, und Liebe beginnt.
Das Mädchen schweigt, bis die Spindel sich dreht.
Sterntaler fällt. Die Zeit in den Rosen vergeht: -
Ihr Herren, gebt mir das Schwert in die Hand,
und Jeanne d`Arc rettet das Vaterland.
Leute, wir bringen das Schiff durchs Eis,
ich halte den Kurs, den keiner mehr weiß.
Kauft Anemonen! drei Wünsche das Bund,
die schließen vorm Hauch eines Wunsches den Mund.
Vom hohen Trapez im Zirkuszelt
spring ich durch den Feuerreifen der Welt,
ich gebe mich in die Hand meines Herrn,
und er schickt mir gnädig den Abendstern.


iris1 antwortete am 24.10.04 (10:03):


Nackt bist du so natürlich


Nackt bist du so natürlich wie eine deiner
Hände,
glatt, irdisch, klein, vollkommen, transparent,
Mondlinien hast du, Apfelwege,
nackt bist du wie der nackte Weizen schlank.

Nackt bist du wie die Nacht auf Cuba blau,
hast Ackerwinden und Sterne in deinem Haar,
nackt bist du unerhört und gelb
wie in einem goldenen Kirchenraum der Sommer.

Nackt bist du wie ein Nagel von dir klein,
geboten, zart und rosig, bis der Tag anbricht
und du ins Unterirdische der Welt eingehst,

wie in einen langen Tunnel aus Kleidern und
aus Arbeit: deine Helligkeit verlischt, bekleidet
sich, entblättert, um wieder eine nackte Hand zu
sein.

PABLO NERUDA


hl antwortete am 24.10.04 (22:39):

Mit einem verspäteten Gruss zum Namenstag:


Vogelbeeren

Vogelbeerenrot
leuchtet im dichten Blattwerk
Dolde an Dolde.

Auch der Flieder gilbt.
Im milden Licht schwebt dir
ein Herzblatt entgegen.



Koloman Stumpfögger in "Wenn Sonnenblumen die güldenen Zeiger drehen", Ravensburg: Oberschwäbische Verlagsanstalt 1996, ISBN-3-926891-16-5

Internet-Tipp: " target="_new">


iustitia antwortete am 25.10.04 (06:18):

Mhm - zu wessen Namenstag? Da möchte ich auch gratulieren, wenn ich wüsste, wem?
*

Max Kruse (*1921): GARTENLAUBE

Die Bäume
angeln mit ihren vergilbten Ästen
nach den Gräfinnen vergangener Tage,
die unter ihren Geflechten
versunken sind.

Ein Roman,
der auf einer Bank
unter der Rosenlaube
verwelkter Küsse wartet,
schlägt seine
leergebliebenen Seiten zu.

Von den Fassaden
bröckelt die Sehnsucht
nach Vornehmheit.
Gleich Mehltau liegt sie
auf den Laternen,
die täglich zweimal
geputzt werden müssten.

Zwischen Plüschmöbeln
räkeln sich
die ungezogenen Kinder
in Seidenkleidern,
die nach Moder
duften.

(Heute Morgen in der Lyrikmail Nr. 891 vom 25.10.2004)
Aus: Max Kruse: Ich bin ein Vogel aus Samarkand. Gedichte - Mit Illustrationen von Shaofang und einem Nachwort von Erich Jooß (C) Verlag Sankt Michaelsbund, 2001
*
URL - ein Gedenken an "Urmel..."

Internet-Tipp: https://www.abebooks.de/images/ReadingRoom/Archive/kruse_urmel_eis.jpg


Enigma antwortete am 25.10.04 (09:06):

Oskar Loerke
Blauer Abend in Berlin

Der Himmel fließt in steinernen Kanälen;
denn zu Kanälen steilrecht ausgehauen
sind alle Straßen, voll von Himmelblauen;
und Kuppeln gleichen Bojen, Schloten, Pfählen.

Im Wasser. Schwarze Essensdämpfe schwelen
und sind wie Wasserpflanzen anzuschauen.
Die Leben, die sich ganz im Grunde stauen,
beginnen sacht vom Himmel zu erzählen.

Gemengt, entwirrt nach blauen Melodien,
wie eines Wassers Bodensatz und Tand,
regt sie des Wassers Wille und Verstand.

Im Dünen, Kommen, Gehen, Gleiten, Ziehen.
Die Menschen sind wie grober bunter Sand
im linden Spiel der großen Wellenhand.

Bei der URL bitte aufpassen, da man bei Abruf der Kurzbiografie zahlen muss!

Internet-Tipp: https://www.litlinks.it/l/loerke.htm


hl antwortete am 26.10.04 (09:58):

Mein blaues Klavier

Ich habe zu Hause ein blaues Klavier
Und kenne doch keine Note.
Es steht im Dunkel der Kellertür,
Seitdem die Welt verrohte.

Es spielten Sternenhände vier
Die Mondfrau sang im Boote
Nun tanzen die Ratten im Geklirr.

Zerbrochen ist die Klaviatür
Ich beweine die blaue Tote.
Ach liebe Engel öffnet mir
Ich aß vom bitteren Brote
Mir lebend schon die Himmelstür
Auch wider dem Verbote.

Else Lasker - Schüler


Enigma antwortete am 27.10.04 (12:24):

Ingeborg Bachmann
Entfremdung

In den Bäumen kann ich keine Bäume mehr sehen.
Die Äste haben nicht die Blätter, die sie in den Wind
halten.
Die Früchte sind süß, aber ohne Liebe.
Sie sättigen nicht einmal.
Was soll nur werden?
Vor meinen Augen flieht der Wald,
vor meinem Ohr schließen die Vögel den Mund,
für mich wird keine Weise zum Bett.
Ich bin satt vor der Zeit
und hungre nach ihr.
Was soll nur werden?

Auf den Bergen werden nachts die Feuer brennen.
Soll ich mich aufmachen, mich allem wieder
nähern?

Ich kann in keinem Weg mehr einen Weg sehen.


chris antwortete am 31.10.04 (09:00):

MORGENGEBET

O wunderbares, tiefes Schweigen,
Wie einsam ist's noch auf der Welt!
Die Wälder nur sich leise neigen,
Als ging der Herr durchs stille Feld.

Ich fühl mich recht wie neugeschaffen,
Wo ist die Sorge nun und Not?
Was mich noch gestern wollt erschlaffen,
Ich schäm mich des im Morgenrot.

Die Welt mit ihrem Gram und Glücke
Will ich, ein Pilger frohbereit,
Betreten nur wie eine Brücke
Zu dir, Herr, übern Strom der Zeit.

Und buhlt mein Lied, auf Weltgunst lauernd
Und schnöden Sold der Eitelkeit;
Zerschlag mein Saitenspiel, und schauernd
Schweig ich vor dir in Ewigkeit.

Joseph von Eichendorff


Enigma antwortete am 31.10.04 (12:57):

Blumen

Wie sind meine Finger so grün,
Blumen hab ich zerrissen.
Sie wollten für mich blühn
und haben sterben müssen...
Ich war in Gedanken
und ich achtet`s nicht
und bog sie zu mir nieder,
zerriß die lieben Glieder
in sorgenlosem Mut.
Sie weinten nicht,
sie klagten nicht,
sie starben sonder Laut.

Annette von Droste-Hülshoff


chris antwortete am 31.10.04 (15:43):

Die drei Spatzen

In einem leeren Haselstrauch,
da sitzen drei Spatzen, Bauch an Bauch.

Der Erich rechts und links der Franz
und mittendrin der freche Hans.

Sie haben die Augen zu, ganz zu,
und obendrüber, da schneit es, hu!

Sie rücken zusammen dicht an dicht,
so warm wie Hans hat's niemand nicht.

Sie hör'n alle drei ihrer Herzlein Gepoch.
Und wenn sie nicht weg sind, so sitzen sie noch.

Christian Morgenstern


Enigma antwortete am 01.11.04 (08:55):

Das Leben ist eine Chance....

Das Leben ist eine Chance, nutze sie.
Das Leben ist schön, bewundere es.
Das Leben ist ein Traum, verwirkliche ihn.
Das Leben ist eine Herausforderung, nimm sie an.
Das Leben ist kostbar, gehe sorgsam damit um.
Das Leben ist ein Reichtum, bewahre ihn.
Das Leben ist ein Rätsel, löse es.
Das Leben ist ein Lied, singe es.
Das Leben ist ein Abenteuer, wage es.
Das Leben ist Liebe, genieße sie.

Mutter Teresa


iustitia antwortete am 01.11.04 (09:15):

Klabund (1890-1928): N o v e m b e r e l e g i e

Ich habe gestern ein Gedicht an dich geschrieben.
Ich saß am offenen Fenster.
Ich fröstelte.
Der Herbstwind wehte.
Er hat's verweht.

Als du zu mir kamst,
Standen zwei alte Weiber im Hausflur.
Sie krächzten hinter dir her
Wie Krähen.
Du hüpftest wie eine Bachstelze stolz und zierlich.
Öde ist die Welt, ein braches Feld, und böse sind die
Menschen.

Küsse mich mit deinen braunen Augen
Und wirf die Arme
Wie weiße Fliederäste um mich
Und schenke mir, dem herbstlich taumelnden,
Den Sommer,
Schenke
Noch einmal Sommer mir
Und weiße Rosen,
Letztes Licht.

Da nun der Winter eisig reisig klirrt
Und weißer Schnee die Wege wirrt:
Wohin soll ich wandern?
Wo soll ich bleiben,
Ich Habenichts,
Weißnichts,
Kannichts?

Ich liege schon im offnen Sarg.
Küß meine kalten Lippen,
Um die der Schneesturm stob,
Ein letztes Mal
Und schlag den Deckel zu
Und geh ins Leben
Und lächle deiner Tränen. Lebe!
Liebe!
Und sei geliebt! Gelobt! Bedankt!
*
'Novemberelegie' erschien zuerst in der Zeitschrift "Der Freihafen" (Heft 3 /1928)
Klabund (eigentlich Alfred Henschke):geb. am 4. November 1890 in Crossen an der Oder als Sohn eines Apothekers…

Weiteres unter URL:
*
Oder:
einen Novemberspaziergang hier - wo ich geboren wurde, nein, nicht auf dem Schloss, nicht im Rosengarten, nicht im Salon; auf einem abseits liegenden Bauernhof, der dem Baron gehörte. Zwischen acht Geschwistern, Hunden, Katzen, Ziegen, Lämmern, Pferden; auch Schweinen, die gefüttert werden mussten; beim Versteckenspiel konnten wir uns zwischen den Bäuchen der Pferde verstecken, die haben uns nicht platt gemacht...
URL: https://www.kle.nw.schule.de/gymgoch/faecher/erdkunde/schulort/weeze/kalbeck2.jpg

Internet-Tipp: https://www.lyrikmail.de


pilli antwortete am 01.11.04 (23:19):

Traum durch die Dämmerung

Weite Wiesen im Dämmergrau;
die Sonne verglomm, die Sterne ziehn,
nun geh' ich hin zu der schönsten Frau,
weit über Wiesen im Dämmergrau,
tief in den Busch von Jasmin.

Durch Dämmergrau in der Liebe Land;
ich gehe nicht schnell, ich eile nicht;
mich zieht ein weiches samtenes Band
durch Dämmergrau in der Liebe Land,
in ein blaues mildes Licht.

(Otto Julius Bierbaum)


Enigma antwortete am 02.11.04 (08:44):

Kopf und Kragen
riskieren
auf und davon
fliegen
über sieben Berge
sehen
blaue Blumen
finden
vielleicht
irgendwo

Anne Steinwart


chris antwortete am 02.11.04 (09:02):

Mit deinen blauen Augen
Siehst du mich lieblich an,
Da wird mir so träumend zu Sinne,
Daß ich nicht sprechen kann.


An deine blauen Augen
Gedenk ich allerwärts; -
Ein Meer von blauen Gedanken
Ergießt sich über mein Herz.


Heinrich Heine


iustitia antwortete am 02.11.04 (09:51):

Grüße zur Winterzeit..:

MARIE LUISE KASCHNITZ (1901-1974)
FRAUENFUNK

Eines Tages sprech ich im Rundfunk
Gegen Morgen wenn niemand mehr zuhört
Meine gewissen Rezepte

Gießt Milch ins Telefon
Laßt Katzen hecken
In der Geschirrspülmaschine
Zerstampft die Uhren im Waschtrog
Tretet aus Euren Schuhen

Würzt den Pfirsich mit Paprika
Und das Beinfleisch mit Honig

Lehrt eure Kinder das Füchsinneneinmaleins
Dreht die Blätter im Garten auf ihre Silberseite
Beredet euch mit dem Kauz

Wenn es Sommer wird zieht euren Pelz an
Trefft die aus den Bergen kommen
Die Dudelsackpfeifer
Tretet aus Euren Schuhen

Seid nicht so sicher
Daß es Abend wird
Nicht so sicher
Daß Gott euch liebt.
*
(Ob's hier im ST schon mal vorgekommen ist - ich hab's vergeblich gesucht.
- Dass so wenig Konkretes aus der weiblichen, handwerklichen Sphäre des Hauses, der Arbeit, der Kinder- und Mannespflege - in der Lyrik auftaucht, erstaunlich. Allein vom "Wachtag" gibt es so wenig. Ja, Frauen haben daran ihre Zeit, ihre Haut und ihre Liebe verbraucht - die Männer fanden's in Ordnung..!)
Ein Ehrentag: Tag der Waschfrauen - als es Müh und Dreck und ungesund war, gab es die Ehrung nicht.
*
URL - na, ein Fachmann zeigt sich beeindurckt...

Internet-Tipp: https://www.muchmanni.de/Pingu2/images/Waschtag.jpg


Enigma antwortete am 03.11.04 (08:57):

Ins Blaue

Huckenbeck entschließt sich, aus Gedankenstücken
eine blaugemalte Welt zu schaffen,
blau die Häuser, blaugemalt die Brücken,
blau, sofern entstehend, die Giraffen.

Ohne Schöpferplan will Huckenbeck beginnen,
doch ins Blaue zielt er absichtsvoll,
um dem Schwarzgemalten zu entrinnen,
das in seiner Welt nicht gelten soll.

Reines Blau ergießt sich wie aus Himmelskannen
über Huckenbecks gedachte Welt,
Bläue schäumt in allen Badewannen,
die er sich in seine Häuser stellt.

Veilchenblaugemalt beginnt der Montagmorgen,
pflaumenblau läßt Huckenbech ihn gehen,
blaue Mädchen haben blaue Sorgen,
blaue Witwen können sich im Spiegel drehen.

Huckenbeck - als leite ihn ein Zauberwort -
nickt zu allem, lächelt und dann hebt
er die blaue Welt mit Händen hoch und schwebt
samt der Welt ins ungefähre Blaue fort.

Peter Welk


iustitia antwortete am 04.11.04 (08:05):

Hallo, Grüße an Gegrüßt-sein-Wollende!

*
Enigma - Wer ist Peter Welk? "Huckenbeck" - ein schöner Namen, eine feine Erfindung.

*
Hier was Banal-Altes-Bekanntes. Trotzdem hat es mir Spaß gemacht, dieses Lückenrätsel anzubieten.
Da versuche ich es auch hier.
(Sorry, wenn es jemanden langweilt, ärgert oder empört...!)
*

Ludwig Uhland

Bei einem .............. wundermild
Da war ich jüngst zu ...........;
Ein goldner ............ war sein Schild
An einem langen ...........

Es war der gute ...........baum,
bei dem ich eingekehret;
Mit süßer Kost und frischem Schaum
Hat er mich wohl ...............

Es kamen in sein ................... Haus
Viel leichtbeschwingte Gäste;
Sie sprangen ................ und hielten Schmaus
Und .................. auf das beste.

Ich fand ein ................ zu süßer Ruh
Auf weichen, grünen Matten;
Der Wirt, er .................. selbst mich zu
Mit seinen kühlen ............. .

Nun fragt' ich nach der .................... ,
Da schüttelt' er den .................... .
Gesegnet sei er allezeit
Von der ........................ bis zum Gipfel.

*
In dieser einzufügenden Form ist dieser Baum wie ein Mensch, ein weiser!
*
URL - Baum - Liederbaum - Menschengebilde...?

Internet-Tipp: https://www.schubert-roecknitz.de/bilder/baum.gif


Enigma antwortete am 04.11.04 (09:20):

Guten Morgen alle,

@ iustitia,

den "wundermilden Wirt" kenne ich noch. Ich könnte auch noch den ganzen Text, ehrlich...

Zu Peter Welk she. UR! Dort gibt es dann auch "Biografische Notizen".
Er hat einen ungewöhnlichen Weg gewählt, finde ich.. auch um Geld zu verdienen. Aber warum nicht?
Ich habe ihn angemailt, um Erlaubnis zum Posten seiner Sachen zu erhalten. Und er hat sofort und nett zustimmend geantwortet.

Aber jetzt habe ich auch mal ein "Sprachrätsel".
Es ist eine Aufgabe zu "Sprachanalogien", wie sie heute fast in jedem Einstellungstest/Auswahlverfahren vorkommt.
Aufgabe ist es in der Regel, aus vorgegebenen Lösungsvorschlägen das oder die Element(e) herauszufinden, die einer Vorgabe am meisten entsprechen.
"Im Ernstfall" sind solche Aufgaben unter Zeitdruck zu lösen.
Und sie beginnen relativ einfach und steigern sich dann im Schwierigkeitsgrad.
Hat jemand Lust, so etwas mal auszuprobieren?
Wenn ja, habe ich auch noch ein paar etwas schwierigere Fragen. *lach*.
Und wenn nicht, dann lassen wir es einfach....

Zunächst einmal ein Beispiel:
Vogel und Katze verhalten sich wie Schaf zu Wolf.

Und nun die Aufgabe, die lautet:
Bringt die Wortpaare zusammen.
Wählt aus den vorgegebenen Wortverhältnissen dasjenige aus, das dem obersten am meisten entspricht.

Ton : Musik Alter : Jugend (Vorgabe)

Und was passt nun am besten?

Strophe : Lied Vater : Sohn
Wort : Sprache Greis : Baby
Gedicht : Buch Weisheit : Gesundheit

Jedenfalls könnten wir gegebenenfalls unseren Enkeln zeigen, dass wir Bescheid wissen und noch fit sind....:-)

Aber beim nächstenmal wieder ein Gedicht, versprochen!

Grüsse
Enigma

Internet-Tipp: https://www.artplanet.de


yankee antwortete am 04.11.04 (16:39):

Hallo allerseits,
ich bewege mich auf neuem Terrain und bin nicht so bewandert in Sachen Poesie. Allerdings eröffnet sich diese neue Welt erst für mich und ich freue mich, wenn ich von anderen lernen kann. Daher bitte ich jetzt schon um Nachsicht, wenn etwaige Fragen oder Kommentare von mir noch nicht dem Niveau von erfahrenen und bewanderten Poesieinteressierten entsprechen.
Mit Eugen Roth habe ich angefangen und beschäftige mich gerade mit Joachim Ringelnatz.
Mein Lieblingsgedicht ist immer noch Der Falter von Isabel Tüngerthal

Vor kurzem fand ich von Ringelnatz "Ein Nagel saß in einem Stück Holz". Ich finde, es gehört schon eine Menge Ironie und dichterische Begabung dazu, daraus ein Gedicht zu machen.

Ein Nagel saß in einem Stück Holz

Ein Nagel saß in einem Stück Holz
Der war auf seine Gattin sehr stolz.
Die trug eine goldene Haube,
und war eine Messingschraube.
Sie war etwas locker und etwas verschraubt,
sowohl in der Liebe, als auch überhaupt.
Sie liebte ein Häkchen und traf sich mit ihm.
In einem Astloch, sie wurden intim.
Kurz, eines Tages entfernte sie sich,
und ließ den armen Nagel im Stich.
Der arme Nagel bog sich vor Schmerz,
Noch niemals hatte sein eisernes Herz
so bittere Leiden gekostet.
Bald war er beinahe verrostet.

Da aber kehrte sein früheres Glück,
Die alte Schraube wieder zurück.
Sie glänzte über das ganze Gesicht,
ja, alte Liebe rostet nicht.

Joachim Ringelnatz


Enigma antwortete am 05.11.04 (08:21):

Guten Morgen alle...

@Yankee
Herzlich willkommen. Ein Lyrikfreund, zumal ein schreibender, ist doch immer willkommen, mir jedenfalls, zumal Dein Nick in mir freundliche Assoziationen weckt (..."Ein Yankee aus Connecticut an König Artus Hof" von Mark Twain) :-)
Also, bitte weiterschreiben!
Gruss
Enigma


Heinz Piontek
Angelweit offen

Da wird ein Ufer
zurückbleiben.
Oder das Ende eines
Feldwegs.
Noch über letzte Lichter hinaus
wird es gehen.
Aufhalten darf uns
niemand und nichts!
Da wird sein
unser Mund
voll Lachens -
Die Seele
reiseklar -
Das All nur eine schmale Tür
angelweit offen -

Internet-Tipp: https://www.tour-literatur.de/news_archiv/na_14_litverltexte-htm


iustitia antwortete am 05.11.04 (08:46):

Hallo, Yankee...!
Ich habe gesucht. Das ist doch der genannte "Falter"?:
*
Isabel Tuengerthal
Der Falter

Wenn der Falter fliegt,
denkt er dann,
sobald das Licht ihn trifft
an Untergang?
Oder fühlt er nur neuen Lebensmut?
durchs Licht
die Liebe
und stürzt sich freudig in die Glut?

Wenn der Falter glüht,
ist er dann
seinem Traum ganz nah
oder ist ihm bang?
Verflucht er seine Leidenschaft
und stemmt die Flügel gegens Licht
mit allerletzter Kraft?

Wenn der Falter stirbt,
fühlt er dann
seines Herzens letzten Schlag
und weiß er dann
daß dieses Licht ihn mit Unendlichkeit belohnt,
daß mit dem Licht sich sein ganzes Leben gelohnt?
*
© 1998 Isabel Tuengerthal
*
Da ich auch Schmetterlingsgedichte sammle von Mörike bis Nelly Sachs und weiter in unsere Zeit hinein - danke! Ein schönes Beispiel!
*
URL - Ich habe zweimal in der Natur, im Süden, einen Schwalbenschwanz gesehen; daher diese Erinnerung hier...

Internet-Tipp: https://photo-cards.ch/galerie/images/schmetterling.jpg


yankee antwortete am 05.11.04 (09:19):

Guten Morgen alle zusammen,
danke für die freundliche Aufnahme.
Ja, daß ist das besagte Gedicht vom glühenden Schmetterling.
Ich suche schon längere Zeit eine Aufstellung der 12 Gedichte aus dem Film POEM. Das Schmetterlingsgedicht war auch dabei, sowie der funeral blues von Auden.
Hat jemand alle Gedichte aus diesem Film ? Es würde mich sehr freuen, falls mir da jemand weiterhelfen kann.
Mit dem folgenden Gedicht möchte ich allen einen schönen Tag wünschen:

Warte nicht aufs "große Glück",
wertgeschätztes Menschenkindel!
Dabei wirst du alt und dick,
denn das "große Glück" ist Schwindel.
So etwas gibt's nur in Romanen,
die die braven Tanten dichten.
Aber auf des Lebens Bahnen
lerne lachend drauf verzichten!
Glück ist jeder Augenblick,
wo dir die Zigarre mundet
und ein zartes Bratenstück und ein Mäulchen,
süß gerundet.
Glück ist jeder helle Tag,
Glück ist jeder neue Morgen,
den man froh erleben mag
ohne Schmerz und große Sorgen.
Auf das "große Glück" zu harren,
will mir dumm und zwecklos scheinen.
Mach dich nicht zum Hoffnungsnarren!
Mensch, begnüg’ dich mit dem kleinen!
(Albert-Sixtus)


yankee antwortete am 05.11.04 (09:36):

Hallo Iustitia,
ich dachte mir gerade, warum nicht Glück und Schmetterling verbinden. Da fand ich folgendes von einem unbekannten Verfasser:

Das Glück ist wie ein Schmetterling", sagte der Meister. "Jag ihm nach, und er entwischt dir. Setz dich hin, und er lässt sich auf deiner Schulter nieder."
"Was soll ich also tun, um das Glück zu erlangen?"
"Hör auf, hinter ihm her zu sein."
"Aber gibt es nichts, was ich tun kann?"
"Du könntest versuchen, dich ruhig hinzusetzen, wenn du es wagst."
(unbekannt)


yankee antwortete am 05.11.04 (09:52):

Hallo Enigma,
danke für Heinz Piontek. Den kannte ich noch nicht. Von Mark Twain kenne ich ausser den klassischen Romanen nur seine Zitate, und die liebe ich. Eins seiner besten ist das von der Sinnlosigkeit einer Friedhofsmauer ;-)

Man könnte viele Beispiele für unsinnige Ausgaben nennen, aber keines ist treffender als die Errichtung einer Friedhofsmauer. Die, die drinnen sind, können sowieso nicht hinaus, und die, die draußen sind, wollen nicht hinein.
(Mark Twain)


pilli antwortete am 05.11.04 (09:57):

welcome yankee :-)

ist dir die seite der FAZ.NET bekannt, wo Felicitas von Lovenberg, den Film *Poem* zum thema macht?

ich hab mal nach den dort angegebenen titeln der gedichte gegoogelt und fand von Erich Kästner:

"Kleines Solo"

Einsam bist du sehr alleine.
Aus der Wanduhr tropft die Zeit.
Stehst am Fenster. Starrst auf Steine.
Träumst von Liebe. Glaubst an keine.
Kennst das Leben. Weißt Bescheid.
Einsam bist du sehr alleine -
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.
Wünsche gehen auf die Freite.
Glück ist ein verhexter Ort.
Kommt dir nahe. Weicht zur Seite.
Sucht vor Suchenden das Weite.
Ist nie hier. Ist immer dort.
Stehst am Fenster. Starrst auf Steine.
Sehnsucht krallt sich in dein Kleid.
Einsam bist du sehr alleine -
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.
Schenkst dich hin. Mit Haut und Haaren.
Magst nicht bleiben, wer du bist.
Liebe treibt die Welt zu Paaren.
Wirst getrieben. Mußt erfahren,
daß es nicht die Liebe ist ...
Bist sogar im Kuß alleine.
Aus der Wanduhr tropft die Zeit.
Gehst ans Fenster. Starrst auf Steine.
Brauchtest Liebe. Findest keine.
Träumst vom Glück. Und lebst im Leid.
Einsam bist du sehr alleine -
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.

:-)

Internet-Tipp: https://kuerzer.de/YmLS3Fbmp


yankee antwortete am 05.11.04 (10:05):

Hallo Pilli,

vielen Dank für den Hinweis, dem ich gleich nachgehen werde. Ich find dies ein wunderbares Gedicht von Kästner.
Vielen Dank nochmals für deine Mühe. Das passt so richtig zum Wetter und zur Jahreszeit.


Enigma antwortete am 05.11.04 (10:45):

Hallo Yankee,

Pilli hat Dir ja schon einen guten Link genannt (Felicitas von Lovenberg).
Ergänzend vielleicht noch einer - she. URL!
Dort findest Du unter "Leben und Werk der einzelnen Dichter" fast alle aus "POEM" aufgeführt (oder sogar alle, müsste ich mal nachzählen):-))
Gruss Enigma

Internet-Tipp: https://www.lehrer-online.de/url/poem


pilli antwortete am 05.11.04 (10:49):

den dank yankee :-),

reiche ich gerne an dich zurück, es hat mir zum einen vergnügen bereitet, durch dich virtuell mit dem film "Poem" bekannt zu werden und zum anderen...dem zufall sei hier wieder mal gedankt...einige hinweise zu den verfilmten gedichten zu finden.

nun sollte es leicht sein, auch die anderen gedichte in diesem forenraum vorzustellen?

z. bsp. :-)

...

"Heiner Müller; Ich kann dir die Welt nicht zu Füßen legen"


Ich kann dir die Welt nicht zu Füßen legen

Sie gehört mir nicht. Ich werde dir keinen Stern
Pflücken:
Ich habe kein Geld für Blumen und keine Zeit
Verse zu machen nur für dich: mein Leben
Wird so und so zu knapp sein für ein ganzes.
Wenn ich dir sage: für dich werd ich alles tun
Werde ich dir eine Lüge sagen. (Du weißt es)
Ich liebe dich mit meiner ganzen Liebe.
(Werke 1/Die Gedichte © 1998 Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main)

...

dazu im link der hinweis auf die 19 gedichte aus dem ich zitiere:

...

"Die Gedichte in einer Übersicht in der Reihenfolge, wie sie in Ralf Schmerbergs Film "Poem" vorkommen:


1.) "Alles" (Antonia Keinz)
Darstellerin: Carmen Birk


2.) "Ich weiß von solchen..." (Hermann Hesse)
Sprecher: Lars Rudolph


3.) "Mörder" (Claire Goll)
Sprecherin: Isabel Tuengerthal


4.) "glauben und gestehen" (Ernst Jandl)
Sprecher: Herbert Fritsch


5.) "Ich kann dir die Welt nicht zu Füssen legen" (Heiner Müller)
Sprecher: Richy Müller


6.) "Gesang der Geister" (Johann Wolfgang von Goethe)
Darstellerin: Luise Rainer


7.) "Der Sturm" (Selma Meerbaum-Eisinger)
Sprecherin: Claudia Geisler


8.) "Sozusagen grundlos vergnügt" (Mascha Kaléko)
Darstellerin: Meret Becker


9.) "Nach grauen Tagen" (Ingeborg Bachmann)
Darsteller: Anna Böttcher, Jürgen Vogel u.a.


10.) "Aus!" (Kurt Tucholsky)
Darsteller: John und Larry Gasman
Sprecherin: Hannelore Elsner


11.) "Kleines Solo" (Erich Kästner)
Sprecherin: Anna Thalbach


12.) "Sophie" (Hans Arp)
Darsteller: Hermann van Veen


13.) "An den Ritter aus Gold" (Else Lasker-Schüler)
Darstellerin: Márcia Haydée


14.) "Morgenlied" (Georg Trakl)
Darsteller: David Bennent


15.) "Der Schiffbrüchige" (Heinrich Heine)
Darsteller: Klaus Maria Brandauer


16.) "Tenebrae" (Paul Celan)
Sprecher: Paul Celan (+1970) selbst


17.) "Siehe, ich wußte es sind..." (Rainer Maria Rilke)
Sprecher: Manfred Steffen


18.) "Der Falter" (Isabel Tuengerthal)
Sprecherin: Elena Schmerberg Davila


19.) "Ode an die Freude" (Friedrich Schiller)
Darsteller: Birgit Stein (Anführerin Frauenheer),
"Smudo" Michael B. Schmidt (Anführer Männerheer)

...

:-)


pilli antwortete am 05.11.04 (11:01):

zum link s.u.

Internet-Tipp: https://filmrezension.de/kurze/poem_gedichte.shtml


Enigma antwortete am 05.11.04 (11:22):

Wow, Pilli,
ja das ist auf jeden Fall die komplette Liste, denn 19 Poems waren es ja. Dank Dir! Für alle Fälle habe ich sie jetzt auch für mich noch einmal ausgedruckt.
Aber jetzt werden erstmal "die Forderungen des Alltags" erfüllt. War aber ganz spannend hier. :-))

Tschüss und Gruss
Enigma


yankee antwortete am 05.11.04 (11:53):

Hallo Pilli,

das ist ja wirklich super. Sogar 19 Gedichte. Ich war immer der Meinung es wären 12. Wieder dazu gelernt. Was mich wundert ist, daß der Funeral Blues von W.H. Auden nicht in der Liste steht. Ich bin mir ziemlich sicher, das der auch in dem Film vorkam. Jedenfalls wurde es mir so berichtet. Na, jedenfalls bin ich jetzt ein grosses Stück weiter. Vielen Dank nochmals an alle.

Toten Blues

Stoppt alle Uhren. Kappt das Telefon.
Dem Hund gebt einen Knochen und dann schweigt er schon.
Keine Musik - mit dumpfem Trommelklang,
Ruft Sarg und Trauernde zum letzten Gang.

Flugzeuge, kreist und schreibt auf mein Gebot,
Die Nachricht an den Himmel ER IST TOT.
Um weiße Taubenhälse schling man Trauerkragen,
Und lass die Schupos weiße Handschuh tragen.

Er war mein Norden, Süden, Ost und West,
Mein Arbeits-Alltag, mein Sonntags Fest,
Mein Lied, mein Wort, mein Mittag, meine Nacht.
Dass solche Liebe stirbt, ich hat' es nicht bedacht.

Wozu die Sterne noch - ich brauch sie nicht,
Reißt ab den Mond, zerstört das Sonnenlicht.
Ertränkt den Wald, vertrocknet mir das Meer,
Denn fortan gibt es für mich gar nichts Gutes mehr

Auden


yankee antwortete am 05.11.04 (12:08):

Ach, ich glaub das war wohl doch zu traurig fürs Wochenende. Deshalb zum Schluß noch eins meiner vielen Lieblingsgedichte. Danke und Tschüß bis Montag.


Manche Menschen...
Manche Menschen wissen nicht,
Wie wichtig es ist, dass sie da sind.
Manche Menschen wissen nicht,
Wie gut es ist, sie nur zu sehen.

Manche Menschen wissen nicht,
Wie tröstlich ihr gütiges Lächeln wirkt.
Manche Menschen wissen nicht,
Wie wohltuend ihre Nähe ist.

Manche Menschen wissen nicht,
Wie viel ärmer wir ohne sie wären.
Manche Menschen wissen nicht,
Dass sie ein Geschenk des Himmels sind.
Sie wüssten es, würden wir es ihnen sagen.

Lena Lieblich


pilli antwortete am 05.11.04 (17:16):

lach...Enigma;

auch ich mußte mich sputen, mittagessen für die mama gab es heute später aber genörgelt hat sie nicht, als ihr erzählte, was noch fix zu googeln war.

yankee :-),

dem Auden durften wir im film:

"Vier Hochzeiten und ein Todesfall"

lauschen und tränchen widmen. der junge geliebte des verstorbenen las den text am sarg bei der beerdigung.

in den foren des ST hat ihn Evelyn mal vorgestellt in der original-sprache; lust auf lesen?

...

Funeral Blues
W.H.Auden 1907-1973

Stopp all the clocks,cut off the telephone
Prevent the dog from barking with a juicy bone
Silence the pianos and with muffled drum
Bring out the coffin,let the mourners come.

Let aeroplanes circle moaning overhead
Scribbling on the sky the message HE IS DEAD
Put crèpe bows round the white necks of the public doves
Let the traffic policemen wear black cotton gloves.

He was my North,my South,my East and West
My working week and my Sunday rest
My Noon,my Midnight,my talk,my song.
I thought that love would last for ever:I was wrong.

The stars are not wanted now;put out everyone
Pack up the moon and dismantle the sun
Pour away the ocean and sweep up the wood
For nothing now can ever come to any good.

...

p.s.
wer, oh graus ist Lena Lieblich?

klingt mir sehr nach lichtstrahlendurchströmter aura eines wunderwirkenwollendenwonneweibes...

:-)


Enigma antwortete am 06.11.04 (08:01):

...ein toller Film war das, mit einem Hugh Grant, der ebenso gut war mit seinem etwas linkischen Charme.

Aber ich habe etwas Nettes gefunden und mir gleich "genommen":

Ingeborg Bachmann für Hans Werner Henze aus der Zeit der Ariosi:

Enigma

Nichts wird mehr kommen.
Frühling wird nicht mehr werden,
Tausendjährige Kalender sagen es jedem
voraus.
Aber auch Sommer und weiterhin, was so
gute Namen wie "sommerlich" hat -
es wird nichts mehr kommen.

Du sollst ja nicht weinen,
sagt die Musik.

Sonst
sagt
niemand
etwas.


iustitia antwortete am 07.11.04 (10:25):

Als Reisetipp...?

Wilhelm Lehmann:
IN SOLOTHURN

Vor hundert Jahren suchte ich die schöne Magelone.
Sie liebte mich, ich war ihr gut genug.
Vor hundert Jahren, als mein Fuß mich schwebend trug.

Ich bin in Solothurn. Frag ich, ob sie hier wohne?
Die weiße Kathedrale fleht den Sommerhimmel an.
Auf hoher Treppe sitze ich, ein junggeglühter Mann.
Die alten Brunnenheiligen stehn schlank;
Die Wasser rauschen, Eichendorff zu Dank.

Hôtel de la Couronne. Mit goldnen Gittern schweifen die Balkone.
Ein Auto hielt. War sie's, die in den Sitz sich schwang?
Adieu! Dein Reiseschal des Windes Fang.

Die Brunnen rauschen. Ihre Stimme spricht
Uns hundert Jahre wieder ins Gedicht:
Mich, Peter von Provence, dich, Magelone.
*
(W.L.: Werke. Bd. I. Gedichte. S. 191)

URL - das Hotel...

Internet-Tipp: https://www.hotelkrone-solothurn.ch/images/Hotel.gif


iustitia antwortete am 08.11.04 (09:55):

Materialien:
Eine Interpretation zur poetischen Reise mit Lehmann nach Solothurn...

HANS B E N D E R: IN DER MÄRCHENSTADT SOLOTHURN

Wilhelm Lehmann hörte es gern, wenn ich die Titel seiner Gedichte, die ich besonders schätzte, hersagte: »Oberon« und »Arion«, »Januarmond« und »Mond im Februar«, »Fahrt über den Plöner See« und »In Solothurn«. Als ich ihm gestand, dieses Gedichts wegen hätte ich in Solothurn Station gemacht, sogar übernachtet im H?tel de la Couronne, sagte er: »Ja, eine schöne Stadt, aber da leben möchte ich nicht.« Unbekümmert, und ganz im Gegensatz zum pädagogischen Eifer, mit dem er in seinen Essays reflektierte, hatte er im Gespräch seine Meinung preisgegeben über die Wirklichkeit der Welt und des Gedichts, wie er sie unterschied.
Man kann nachlesen, wann und wo Wilhelm Lehmann die Anregung zum Gedicht »In Solothurn« empfangen hat. Im »Bukolischen Tagebuch 1948«, in der Eintragung vom 30. August, ist sein Besuch in der Kantonshauptstadt und ihrem historischen Kern in Prosa beschrieben: »In der Märchenstadt Solothurn führt eine großartige, von zwei köstlichen Brunnen flankierte Freitreppe zu der barockklassizistischen Ursenkathedrale. Den Jurastein, aus dem die gebaut ist, wandelt das still brennende Mittagslicht zu weißem Marmor. Die Brunnen spielen wie in den Versen Eichendorffs. Am H?tel de la Couronne am Fuße der Kathedrale, mit vergoldeten Balkongittern, fährt der Reisewagen aus dem „Taugenichts“ vor, und ihm entsteigt die schöne Magelone.«
*
(Erster Teil; Forts. folgt.)
*


iustitia antwortete am 08.11.04 (09:57):

Zweiter Teil:
Interpretation von Hans Bender zu: Lehmanns "In Solothurn":

Man kann jetzt, seitdem Band I der Gesammelten Werke vorliegt, in den Kommentaren auch eine Vorform des Gedichts »In Solothurn« nachlesen und so den Übergang aus der Prosa zu ihr und zur endgültigen Fassung mitvollziehen; zudem Einblicke gewinnen in die Entstehung und die Kunstgriffe des Gedichts. Die Szenerie der Prosabeschreibung ist fast wörtlich übernommen. Die »Brunnenheiligen« sind konkreter benannt. Die fremde Frau entsteigt nicht mehr einem »Reisewagen«, sondern, ganz prosaisch, einem »Auto«! Hinzugekommen ist »der junggeglühte Mann«, als welcher der Verfasser des Gedichts sich fühlt. Die Vorform ist noch ein impressionistisches Postkartengedicht; die gültige, zum erstenmal 195o im Band »Noch nicht genug« veröffentlichte Fassung dagegen ein viel komplizierteres Gebilde.
Dem Vorgang wurden zwei Reminiszenzen unterlegt. Der Begegnung mit der fremden Frau ging eine andere, frühere Begegnung voraus: »Sie liebte mich, ich war ihr gut.« Die Frau vor dem H?tel de la Couronne steigt nicht aus, sondern ein und fährt davon. Die zwei Zeilen, die ihr gelten, sind ins Imperfekt gerückt: »Ein Auto hielt. War sie's, die in den Sitz sich schwang? / Adieu! Dein Reiseschal des Windes Fang.« Die fremde Frau - das Possessivpronomen spricht es aus - ist zur fernen, doch vertrauten Geliebten geworden.
»Vor hundert Jahren ...« - dreimal wiederholt sich die Zeitangabe hat auch ein anderer Dichter seine so ähnliche Begegnung beschrieben: Eichendorff. Als seinem Taugenichts, der im zweiten Kapitel zum Zolleinnehmer avanciert ist, endlich die aus der Ferne bewunderte Schloßherrin entgegentritt, erinnert er sich an die »alten Bücher«, die er daheim in seines Vaters Mühle gelesen hat.
Die »Volksbücher« sind gemeint, zu denen die Liebesgeschichte von der schönen Magelone und dem Grafen Peter von Provence gehört.
Sie, die Titelhelden, kamen Wilhelm Lehmann wie gerufen. Auch in seinen anderen Gedichten treten aus der Atmosphäre, die das Gedicht erzeugt, Gestalten der antiken oder christlichen Mythologie und Poesie, ohne daß ihr Erscheinen eigens erklärt werden müßte. »Alle Wesen gehen überein in Gestalt, können sie tauschen, Bäume werden Menschen, Menschen Bäume«, heißt es in einem Essay. Die Frau von Solothurn, die Geliebte der Jugend und der Literatur verwandeln sich zur schönen Magelone; der Dichter, der junge und alte, »der junggeglühte Mann«, zu ihrem Partner, Helden und Liebhaber Peter von Provence. Gegenwart und Vergangenheit, Geschichte und Mythos, Erlebnis und Erfindung verschränken sich im Gedicht »In Solothurn« zu einer anderen, zweiten, poetischen Wirklichkeit.
**
Aus: Frankfurter Anthologie.
In: Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Hrsg. v. M. Reich-Ranicki. Bd. 6. 1996. S. 60ff.


yankee antwortete am 08.11.04 (14:39):

Grüß Gott allerseits,
an pilli erstmal recht herzlichen Dank für die Aufklärung. Da scheint doch einiges an Information in Bezug auf Auden und den Film POEM bei mir durcheinander geraten zu sein. Deshalb nochmals vielen Dank für eure Hilfe.

Zum aktuellen Thema möchte ich auch noch etwas für mich wichtiges beitragen. Aus der Quelle der Interpretation von Bender, halte ich es für wichtig, die Notierung von Lehmann selbst,zu Solothurn zu kennen, dann versteht man die Interpretation etwas besser oder anders. Ich halte den ersten Teil seiner Notiz für wichtig, da er mehr über die realen Gegebenheiten und seine Gedanken aussagt.

Wilhelm Lehmann schrieb das Gedicht "In Solothurn", nachdem er im Sommer 1948 in der Schweiz zu Besuch gewesen war. Er notierte:

30. August 1948

Der letzte Tag im Lande Jeremias Gotthelfs. Es bezeugt die Macht der Dichtung, »daß uns die Häuser und Bäume auf dem Schauplatz seines Lebens mehr als andere Häuser und Bäume ergreifen«.
Ein sanfter Wind lockert den warmen Augustnachmittag, Die Zweige der Weinreben schwingen sacht. Das seitliche Fenster des Gartenpavillons bekleiden mit grünem Licht die Blätter der Osterluzei. Sie drängt einen Stengel durch den Fensterrahmen zu dem altmodischen Stahlstich an der Wand, der einen zusammengesunkenen Alten zeigt, wie er dem Klavierspiel eines jungen Mädchens lauscht in der »Wonne der Wehmut«. Darunter steht: Les Exilés (Un Air national). Um mein Glas Most schwirren Wespen. Die südliche Tür des Pavillons führt in den Bauerngarten, in dem Basilikum, Bohnenkraut, Thymian ihre Düfte brauen. An der heißen Planke hängt ein Pfirsich von der Art, die man Venusbrust nennt, Die blauen Dolden der Agapanthe, der Liebesblume, als Knospen unter den Riemenblättern verborgen bei meiner Ankunft, blühen jetzt zum Abschiede.
In der Märchenstadt Solothurn führt eine großartige, von zwei köstlichen Brunnen flankierte Freitreppe zu der barockklassizistischen Ursenkathedrale. Den Jurastein, aus dem sie gebaut ist, verwandelt das brennende Mittagslicht in weißen Marmor. Die Brunnen spielen wie in den Versen Eichendorffs. Am Hotel de la Couronne am Fuße der Kathedrale. mit vergoldeten Balkongittern, fährt der Reisewagen aus dem »Taugenichts« vor, und ihm entsteigt die schöne Magelone.
Ich strich durch den Sommerfrieden. Unter den Bäumen saßen Menschen und schauten ins Land oder lasen. Eine Schulklasse zeichnete eine efeubewachsene Mauer und trieb Possen hinter dem Rücken des Lehrers.
Im schweigsamen Museum entdeckte ich einen herrlichen Akt Stauffer Berns, Gesicht und Leib drückten eine schmerzliche Scham aus und ließen von fern an Rembrandts Bathseba denken. Schwer zu verstehen, daß der Maler mit solchen Stücken nicht reüssiert hat. Hier steigt der Glücklich Unglückliche, der an seiner Liebe schnell verbrannte, wie der Phönix aus der Asche.
Brücken führen über die grün wallende Aare. In naher Ferne steht der kräftige Rücken des Jura, des blauen Berges, wie ihn Gotthelf stets nennt. Und jeder Weg, den man nicht hat gehen können, tut noch in der Erinnerung weh.
*
(W. L.: Gesammelte Werke. Bd. 8. 1999. S. 318)


yankee antwortete am 08.11.04 (16:38):

An pilli,

ich verneige mich vor deiner Beurteilung bezl. Lena Lieblich. Hab jetzt mal recherchiert, was es mit der Dame auf sich hat. Und tatsächlich, ich dacht mich laust der Affe. Die Frau schreibt Bücher die dem esotherischen Bereich zuzuordnen sind. Über die Autorin selbst habe ich nichts gefunden im Netz, wahrscheinlich wird die schon ihre Gründe haben. Jedenfalls danke für den "Wachrüttler" :-)


iustitia antwortete am 08.11.04 (17:56):

Hallo, yankee -

Die Bender-Interpretation zu "In Solothurn", einschließlich Lehmanns Tagebuch-Text, stammt natürlich von der u.angebenen URL - (das tippen wir hier im Forum immer an, wenn wir so was finden. Du kannst nicht wissen, dass i c h, Antonius, der Autor der Materialien für die Lehmann-Gedichte bin, hier im ST als "iustitia" schreibe - und nicht alles hier wiederhole, wass ich dort für Interpretationsspezialisten und Literatursucher anbiete:
*
Vergleich mal die Tippfehler, bzw. nicht erfassten Umlaute; und wer die Erklärung zu Stauffer-Berns lesen will, bitte:
https://www.biblioforum.de/forum/read.php?f=3&i=1402&t=1383

Gruß: Antonius

Internet-Tipp: https://www.biblioforum.de/forum/read.php?f=3&i=1402&t=1383


iustitia antwortete am 08.11.04 (19:54):

Audens Gedicht (aus dem Google-Übersetzungsrechner...)
Begräbnis- Blau (Song IX/von zwei Songs für Hedli Anderson)

Stoppen Sie alle Taktgeber, schneiden Sie das Telefon ab.
Verhindern Sie, daß der Hund mit einem saftigen Knochen bellt,
Silence die Klaviere und mit gedämpfter Trommel
Bringen Sie den Sarg heraus, lassen Sie die mourners kommen.

Lassen Sie den Flugzeugkreis, der obenliegend ächzt
Scribbling im Himmel die Anzeige ist er tot,
Setzen Sie crêpebögen ringsum die weißen Ansätze der allgemeinen Tauben,
Lassen Sie die Verkehrspolizisten schwarze Baumwollhandschuhe tragen.

Er war mein Norden, mein Süden, mein Osten und West,
Meine Arbeitswoche und mein Sonntagsrest
Mein Mittag, mein Mitternacht, mein Gespräch, mein Song;
Ich dachte, daß Liebe für immer dauern würde, ich war falsch.

Die Sterne werden nicht jetzt gewünscht; setzen Sie heraus jedes,
Verpacken Sie herauf den Mond und bauen Sie die Sonne ab.
Gießen Sie weg den Ozean und fegen Sie herauf das Holz;
Für nichts kann zu jedem möglichem guten jetzt überhaupt kommen.
*
Eine etwas solidere Übersetzung – von unbekannt – habe ich unter d. ang. URL gefunden:

W. H. Auden:
Begräbnis-Blues

Haltet alle Uhren an, laßt das Telefon abstellen,
Hindert den Hund am bellen, indem ihr ihm einen Knochen gebt,
Klaviere sollen schweigen, und mit gedämpftem Trommelschlag,
Laßt die Trauernden nun kommen, tragt heraus den Sarg.

Laßt Flugzeuge kreisen, klagend im Abendrot,
An den Himmel schreibend die Botschaft Er ist tot;
Laßt um die weißen Hälse der Tauben Kreppschleifen schlagen,
Und Verkehrspolizei schwarze Baumwollhandschu' tragen.

Er war mein Nord, mein Süd, mein Ost und West,
Meine Arbeitswoche und mein Sonntagsfest,
Mein Gespräch, mein Lied, mein Tag, meine Nacht,
Ich dachte, Liebe währet ewig: Falsch gedacht.

Die Sterne sind jetzt unerwünscht, löscht jeden aus davon,
Verhüllt den Mond und nieder reißt die Sonn',
Fegt die Wälder zusammen und gießt aus den Ozean,
Weil nun nichts mehr je wieder gut werden kann
*
URL: https://www.schwung-karlsruhe.de/Archiv/Lyrik/ly_hochzeit/ly_hochzeit.html


yankee antwortete am 09.11.04 (08:49):

Hallo iustitia,
ich habe unter der URL nachgeschaut :-)
Schreib es bitte meiner, gott sei dank bewahrten, jugendlichen Unbefangenheit zu, an die Dinge heranzugehen. Das ist nicht das erste Fettnäpfchen, in das ich mutig hinein tappe und wird, wie ich mich kenne, auch nicht das letzte sein. Andre Gide hat es einmal so schön formuliert:
Willst du neue Kontinente entdecken, mußt du den Mut haben, alte Küsten aus den Augen zu verlieren.
Gruß
yankee


Enigma antwortete am 09.11.04 (08:56):

Michail Lermontow
Feierlich, in wunderbarem Frieden

Feierlich, in wunderbarem Frieden,
ziehen die Gestirne ihre Bahn.
Warum ist mir Ruhe nicht beschieden?
Quält mich Reue? Plagt mich eitler Wahn?

Nein, nichts such ich, was ich einst besessen,
und was war, das hab ich nie bereut.
Ruhen will ich und mich selbst vergessen -
wunschlos ruhn in alle Ewigkeit.

Doch nicht jenen Schlaf in Grabestiefe
suche ich in kalter, dunkler Gruft.
Atmen soll die Brust, als wenn ich schliefe,
atmen will ich warme Sommerluft.

Einer süßen Stimme will ich lauschen,
die mir Tag und Nacht von Liebe singt.
Über mir soll eine Eiche rauschen,
die um meinen Schlaf die dunklen Zweige schlingt.

Dieses Gedicht soll Siegfried von Vegesack übersetzt haben.
Es liegt ja auch nahe, dass er der russischen Sprache mächtig war.

Internet-Tipp: https://www.cpw-online.de/lemmata/lermontow_michail_j.htm


yankee antwortete am 09.11.04 (09:22):


Hilde Domin

Du bist stark
sagen sie
Du hast viel Kraft
sagen sie

auf der Suche
nach meiner Stärke und Kraft
begegnete ich
meiner Angst und Verwirrung
meinem Neid und Haß
meiner Armut und Verzweiflung
meinen Tränen und Wunden

vergeblich suchte ich nach
meiner Stärke und Kraft

da setzte ich mich zu
meiner Angst und Verwirrung
meinem Neid und Haß
meiner Armut und Verzweiflung
meinen Wunden und Tränen
und versuchte sie
anzusehen und
hineinzuspüren und
auszuhalten und
zu verstehen

und manchmal zeigte ich
ein wenig von
meiner Angst oder Verwirrung
meinem Neid oder Haß
oder
ich sprach von
meiner Armut oder Verzweiflung
meinen Wunden oder Tränen

du bist stark
wiederholten sie
du hast viel Kraft
wiederholten sie
und ganz
langsam
fing ich an
zu begreifen

Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten


yankee antwortete am 09.11.04 (09:47):

Hallo Enigma,
mit Lermontow zeigt sich wieder einmal, daß man den Gedanken nicht los wird, umso talentierter und genialer der Mensch ist, umso kürzer ist das Leben. Klassisches Beispiel Novalis. Da bin ich richtig froh, daß ich untalentiert und ein bischen dumm geblieben bin :-)

Danke für das schöne Gedicht. Es ist, als spricht´s mir aus der Seele.


yankee antwortete am 09.11.04 (10:27):

Michael Lermontow

Becher des Lebens

Wir heben ihn mit blinder Hand
Zum Mund, wir trinken, wähnen,
Von Wein sei feucht der goldene Rand -
Er ist benetzt mit Tränen.

Erst wenn der Tod den Schleier löst
Auf seiner stummen Runde;
Dann zeigt der Becher sich entblößt,
Der Blick dringt bis zum Grunde.

Wir sehn, daß im Gefäß nur Raum,
Nur Leere, pures Innen,
Befangensein in Wahn und Traum,
Nichts Eigenes, kein Entrinnen.


Enigma antwortete am 10.11.04 (10:00):

Friedrich Rückert

Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt.

Es ist ein Bäumlein gestanden im Wald
in gutem und schlechtem Wetter;
Das hat von unten bis oben halt
nur Nadeln gehabt statt Blätter.
Die Nadeln, die haben gestochen,
das Bäumlein, das hat gesprochen:
"Alle meine Kameraden
haben schöne Blätter an,
und ich habe nur Nadeln.
Niemand rührt mich an.
Dürft`ich wünschen, wie ich wollt`,
wünscht`ich mir Blätter von lauter Gold."
Wie`s Nacht ist, schläft das Bäumlein ein,
und früh ist`s aufgewacht;
da hatt`es goldene Blätter fein,
das war eine Pracht!
Das Bäumlein spricht:"Nun bin ich stolz;
goldene Blätter hat kein Baum im Holz."
Aber wie es Abend ward,
ging ein Bauer durch den Wald
mit großem Sack und langem Bart,
der sieht die goldnen Blätter bald;
er steckt sie ein, geht eilends fort
und läßt das leere Bäumlein dort.
Das Bäumlein spricht mit Grämen:
"Die goldnen Blättlein dauern mich,
ich muß vor den andern mich schämen.
Sie tragen so schönes Laub an sich.
Dürft`ich mir wünschen noch etwas,
so wünscht`ich mir Blätter von hellem Glas."
Da schlief das Bäumlein wieder ein,
und früh ist`s wieder aufgewacht;
Da hatt`es gläserne Blätter fein,
das war eine Pracht!
Das Bäumlein sprach:"Nun bin ich froh;
Kein Baum im Walde glitzert so."
Da kaum ein großer Wirbelwind
mit einem argen Wetter,
der fährt durch alle Bäume geschwind
und kommt an die gläsernen Blätter;
Da lagen die Blätter von Glase
zerbrochen in dem Grase.
Das Bäumlein spricht mit Trauern:
"Mein Glas liegt in dem Staub;
Die andern Bäume dauern
mit ihrem grünen Laub.
Wenn ich mir noch etwas wünschen soll,
wünsch`ich mir grüne Blätter wohl."
Da schlief das Bäumlein wieder ein,
und wieder früh ist`s aufgewacht;
Da hatt`es grüne Blätter fein.
Das Bäumlein lacht
und spricht:"Nun hab`ich doch Blätter auch.
Daß ich mich nicht zu schämen brauch."
Da kommt mit vollem Euter
die alte Geis gesprungen.
Sie sucht sich Gras und Kräuter
für ihre Jungen;
Sie sieht das Laub und fragt nicht viel,
sie frißt es ab mit Stumpf und Stiel.
Da war das Bäumlein wiedr leer.
Es sprach nun zu sich selber:
"Ich begehre nun keine Blätter mehr,
weder grüner, noch roter, noch gelber!
Hätt`ich nur meine Nadeln.
Ich wollte sie nicht tadeln."
Und traurig schlief das Bäumlein ein,
und traurig ist es aufgewcht;
Da besieht es sich im Sonnenschein
und lacht und lacht!
Alle Bäume lachen`s aus;
Das Bäumlein macht sich aber nichts daraus.
Warum hat`s Bäumlein denn gelacht,
und warum denn seine Kameraden?
Es hat bekommen in der Nacht
wieder alle seine Nadeln.
Daß jedermann es sehen kann.
Geh raus, sieh`s selbst, doch rüh`s nicht an!
Warum denn nicht?
Weil`s sticht!


yankee antwortete am 10.11.04 (10:45):

Du gute Linde, schüttle dich!
Ein wenig Luft, ein schwacher West!
Wo nicht, dann schließe dein Gezweig
So recht, daß Blatt an Blatt sich preßt.

Kein Vogel zirpt, es bellt kein Hund;
Allein die bunte Fliegenbrut
Summt auf und nieder über'n Rain
Und läßt sich rösten in der Glut.

Sogar der Bäume dunkles Laub
Erscheint verdickt und athmet Staub.
Ich liege hier wie ausgedorrt
Und scheuche kaum die Mücken fort.

O Säntis, Säntis! läg' ich doch
Dort, - grad' an deinem Felsenjoch,
Wo sich die kalten, weißen Decken
So frisch und saftig drüben strecken,
Viel tausend blanker Tropfen Spiel;
Glücksel'ger Säntis, dir ist kühl!

Annette von Droste-Hülshoff


pilli antwortete am 10.11.04 (16:36):

In welche soll ich mich verlieben,
Da beide liebenswürdig sind?
Ein schönes Weib ist noch die Mutter,
Die Tochter ist ein schönes Kind.

Die weißen, unerfahrnen Glieder,
Sie sind so rührend anzusehn!
Doch reizend sind geniale Augen,
Die unsre Zärtlichkeit verstehn.

Es gleicht mein Herz dem grauen Freunde,
Der zwischen zwei Gebündel Heu
Nachsinnlich grübelt, welch von beiden
Das allerbeste Futter sei.

(Heinrich Heine "Neue Gedichte 1944")


yankee antwortete am 10.11.04 (17:46):

Else Lasker-Schüler
Von weit

Dein Herz ist wie die Nacht so hell,
Ich kann es sehn
Du denkst an mich
es bleiben alle Sterne stehn.
Und wie der Mond von Gold dein Leib
Dahin so schnell
Von weit er scheint.


Enigma antwortete am 11.11.04 (07:37):

Heute ist Sonntag

Heute haben sie mich das erste Mal
in die Sonne hinausgelassen.
Ich bin das erste Mal in meinem Leben
so sehr verwundert darüber,
dass der Himmel so sehr weit weg von mir ist,
so sehr blau ist,
so sehr großflächig ist.
Ohne mich zu rühren, stand ich da.
Danach setzte ich mich mit Ehrfurcht auf die Erde;
meinen Rücken lehnte ich an die Wand.
In diesem Moment dachte ich weder an
das Fallen der Wellen,
noch an Streit,
noch Freiheit, noch an meine Frau.
Die Erde, die Sonne und ich...
Ich bin überglücklich.

Nazim Hikmet
Übersetzung: Rana Talu

Da beschreibt er wahrscheinlich eine Situation aus seinen zahlreichen Gefängnisaufenthalten.

Internet-Tipp: https://www.wienerzeitung.at/aktuell/2002/02/05/hikmet.htm


yankee antwortete am 11.11.04 (10:01):

Als er aus dem Gefängnis raus war, hat er vielleicht was ähnliches gedacht.

Einmal sollte man

Einmal sollte man seine Siebensachen
Fortrollen aus diesen glatten Geleisen.
Man müßte sich aus dem Staube machen
Und früh am Morgen unbekannt verreisen.

Man sollte nicht mehr pünktlich wie bisher
Um acht Uhr zehn den Omnibus besteigen.
Man müßte sich zu Baum und Gräsern neigen,
Als ob das immer so gewesen wär.

Man sollte sich nie mehr mit Konferenzen,
Prozenten oder Aktenstaub befassen.
Man müßte Konfession und Stand verlassen
Und eines schönen Tags das Leben schwänzen.

Es gibt beinahe überall Natur,
- Man darf sich nur nicht sehr um sie bemühen -
Und soviel Wiesen, die trotz Sonntagstour
Auch werktags unbekümmert weiterblühen.

Man trabt so traurig mit in diesem Trott.
Die anderen aber finden, daß man müßte...
Es ist fast so, als stünd man beim lieben Gott
Allein auf der schwarzen Liste.

Man zog einst ein Lebenslos "zweiter Wahl".
Die Weckeruhr rasselt. Der Plan wird verschoben.
Behutsam verpackt man sein kleines Ideal.
- Einmal aber sollte man... (Siehe oben!)

- Mascha Kaléko


yankee antwortete am 11.11.04 (15:17):

Und nochmal Mascha Kaleko

Katzenjammer-Monolog

Zuweilen möchte man aus sich heraus
und kann die Tür ins Freie doch nicht finden.
Dann schnüffelt man vielleicht mal nach den Gründen
und kriecht noch tiefer in sein Schneckenhaus.

Man müßte vieles tun und manches lassen,
und kann das eine wie das andere nicht.
Man denkt an manche unerfüllte Pflicht,
bis sich die Dinge dann mit uns befassen.

So vieles tut man rasch in Acht und Bann
mit Augen, die geschlossen schon erblinden.
Doch auch das Schicksal hat so dann und wann
auf unserem Konto Unterlassungssünden.

Mitunter scheints, man sei nun endlich da,
- Am Ziel, von dem man schüchtern nur geträumt hat -
Da plötzlich merkt man, daß man was versäumt hat,
Ein dummes Etwas nur. Beinah ... beinah.

Wenn man ein zweites Mal geboren würde,
Dann finge man das Leben anders an.
- Vielleicht, daß dann so manches anders würde...
(Vorausgesetzt, daß man vergessen kann-)

Daß man vergessen kann, was man erfahren.
Man horcht sehr oft zu viel in sich herum.
Am besten wär es, klug zu sein und stumm.
Man ist zuweilen alt mit zwanzig Jahren.

- Mascha Kaléko


Enigma antwortete am 12.11.04 (08:10):

Wilhelm Willms

vision
am rand
am strand
der welt
liegen
große
schöne
bizarre
leere
schneckenhäuser
kölner dome
hagiasofias
karolingische
romanische
gotische
byzantinische
19.
20.jahrhundert
schneckenhäuser
daraus das leben
ausgezogen
man sieht
schwarze ströme
touristeninsekten
heraus herein
eilen
wimmeln
in einer unbegreiflichen
hektik
europa
ist zu einem
christlichen museum
geworden
zum rand und strand
der welt
mit schönheit aus bronze
marmor
aus sandstein backstein
beton
europa
ein kostbares grab
das grab ist leer
der held erwacht
aber anderswo

Internet-Tipp: https://www.uniprotokolle.de/Lexikon/Wilhelm_Willms.html


marie2 antwortete am 12.11.04 (18:54):

wussten sie schon
dass die stimme eines menschen
einen anderen menschen
wieder aufhorchen lässt
der für alles taub war

wussten sie schon
daß das anhören eines menschen
wunder wirkt
dass das wort
oder das tun eines menschen
wieder sehend machen kann
einen
der für alles blind war
der nichts mehr sah
der keinen sinn mehr sah in dieser welt
und in seinem leben ..

wussten sie schon
dass die nähe eines menschen
gesund machen
krank machen
tot und lebendig machen kann

wussten sie schon
dass die nähe eines menschen
gut machen
böse machen
traurig und froh machen kann

wussten sie schon
dass das wegbleiben eines menschen
sterben lassen kann
dass das kommen eines menschen
wieder leben lässt ..

Wilhelm Willms


Enigma antwortete am 13.11.04 (08:33):

Guten Morgen alle,

ja, Marie2, das finde ich auch so so sehr schön....

Joseph Weinheber

An einen Schmetterling

Du, leicht und schön, aus Gottes Traum geboren,
du Bote einer tiefersehnten Welt!
Du Sieger, der die Liebe unverloren
und sanft im Segel seiner Schwingen hält.

Die Blumen lieben dich. Und wenn ich träume,
so träum ich deinen selbstvergeßnen Flug.
Wie du mir wiederkommst durch helle Bäume,
versöhnst du mit der Erde Last und Trug.

Dein goldner Schmelz erschrickt vor meiner Schwere.
Du flügelst auf, mir lahmt der wüste Schritt.
Doch hoch und höher jetzt, in seliger Kehre,
nimmst du den Schmerz auf deinen Schwingen mit.

Das soll übrigens auch von Paul Hindemith vertont sein, kenne ich aber nicht.

Seine "braune Vergangenheit" bezahlte Weinheber in seinem späteren Leben mit seinem Freitod

Internet-Tipp: https://www.lesekost.de/gedicht/HHL162.htm


Joan antwortete am 14.11.04 (18:40):

Hier folgt ein Gedicht,für das ich H.C.Artmann liebe.Ein Gedicht über den eigenen Tod (1958)
(Der Einfachheit halber lasst es mich anschliessend übersetzen)

net munta wuan

heit bin e ned munta wuan
wäu ma r unsa bendlua
schdeeblim is...
heit bin e ned munta wuan
und i schlof
und i schlof
und i schlof

und draust da schnee foed ima mea
und de drossln dafrian und de finken
und de aumschln und d daum aufm
doch...
und dea schnee foed ima mea
und ea drad se
und drad se
und drad se
wia r a fareisz ringlschbüü
und kumbd ma bein fenzta eine
mocht ma r en bagetbon gaunz weiss
fua mein bet
wiad hecha r und hecha fua mein bet
und schdet do und schaud me au
wia r a engl med ana koedn haund..
und i schlof
und i schlof
und i schlof...

heit bin e ned munta wuan
de bendlua schded no ima
und dea schneeane engl schdet do
und schaud me au wia r e so ausgsch-
dregta doolig
und mei schlof is soo diaf das ma glaa-
weis und launxaum
winzege schdeandaln aus eis
en de aungbram
zum woxn aufaungan...

"Übersetzung "folgt anschliessend.....


Joan antwortete am 14.11.04 (18:57):

hochdeutsch mit Verlust---Gedicht v. H C. Artmann

nicht munter geworden

heut bin ich nicht munter geworden
weil mir unsere Pendeluhr
stehengeblieben ist...
heut bin ich nicht munter geworden
und ich schlaf
und ich schlaf
und ich schlaf

und draussen der Schnee fällt immer mehr
und die Drosseln erfriern und die Finken
und die Amseln und die Tauben auf dem
Dach...
und der Schnee fällt immer mehr
und er dreht sich
und dreht sich
und dreht sich
wie ein vereistes Karussell
und kommt mir zum Fenster rein
macht mir den Parkettboden ganz weiss
vor meinem Bett
wird höher und höher vor meinem Bett
und steht da und schaut mich an
wie ein Engel mit einer kalten Hand...
und ich schlaf
und ich schlaf
und ich schlaf...

heut bin ich nicht munter geworden
die Pendeluhr steht noch immer
und der scheeerne Engel steht da
und schaut mich an wie so ein ausge-
streckter Dolch
und mein Schlaf ist so tief dass mir stück-
weis und langsam
winzige Sterne aus Eis
an den Augenbrauen
zu wachsen beginnen...


Joan antwortete am 14.11.04 (19:28):

Hallo justitia,soeben hab ich Audens Gedicht am 8.11 im ST
übersetzt gesehen.Vor Jahren hat es mich so sehr beeindruckt,dass ich es frei,viel freier übersetzt habe.Ich weiss nicht,obs kompetente Billigung findet?

Toten-Blues W.H.Auden

Stoppt alle Uhren-kappt das Telefon
dem Hund gebt einen Knochen und dann schweigt er schon
Keine Musik -Nur dumpfer Trommelklang
begleite Sarg und Trauernde beim letzten Gang.

Flugzeuge kreist und schreibt auf mein Gebot
die Nachricht an den Himmel: ER IST TOT!
Um weisse Taubenhälse schling man Trauerkragen
Die Schupos sollen weisse Handschuh tragen.

Er war mein Norden,Süden,Ost und West
Mein Arbeitstag und meines Sonntags Fest
Mein Lied,mein Wort,mein Mittag,meine Nacht
Ich traute dieser Liebe. Sie hat Schluss gemacht.

Wozu die Sterne noch,ich brauch sie nicht
Reißt ab den Mond,verhängt das Sonnenlicht
Erschlagt den Wald und trinkt den Ozean leer-
Denn fortan gibt es für mich garnichts Gutes mehr


Joan antwortete am 14.11.04 (19:51):

Wau-jetzt hab ich hochgeblättert--ich hatte es total vergessen.Obiges steht ja längst irgendwo da.
das kommt davon,wenn man (leider) nicht auf dem Laufenden sein kann........Pilli wusste was davon und Yankee hat´s geschrieben .Mich hatte nur diese wörtliche Übersetzung,von justitia ergoogelt,dazu gebracht,der wörtlichen Zerschredderung zu entgegnen.Sorry weil ich diesmal so lange dabei war---und weil ich so selten dabei bin.Joan


yankee antwortete am 15.11.04 (11:00):

Hallo Joan,
so oder so ist es eins der traurigsten Gedichte die ich kenne. Eher ein Verzweiflungsschrei.

Aber Montags morgens will ich lieber mal was aufbauendes reinbringen :-)

Glück

Glück ist gar nicht mal so selten,
Glück wird überall beschert,
vieles kann als Glück uns gelten,
was das Leben uns so lehrt.

Glück ist jeder neue Morgen,
Glück ist bunte Blumenpracht,
Glück sind Tage ohne Sorgen,
Glück ist wenn man fröhlich lacht.

Glück ist der Regen wenn es heiss ist,
Glück ist Sonne nach dem Guss,
Glück ist, wenn ein Kind ein Eis ißt,
Glück ist auch ein lieber Gruss.

Glück ist Wärme wenn es kalt ist,
Glück ist weisser Meeresstrand,
Glück ist Ruhe die im Wald ist,
Glück ist eines Freundes Hand.

Glück ist eine stille Stunde,
Glück ist auch ein gutes Buch,
Glück ist Spass in froher Runde,
Glück ist freundlicher Besuch.

Glück ist niemals ortsgebunden,
Glück kennt keine Jahreszeit,
Glück hat immer der gefunden,
der sich seines Lebens freut.


Clemens Brentano


Enigma antwortete am 16.11.04 (09:06):

Hellmuth Opitz
Orangen schälen

Eine für die
die mich läßt.
Eine für die
die mich liebt.
Eine für die
die mich hat.
Eine für die
die mich kriegt.
Eine für die
die mich trinkt.
Eine für die
die mich beißt.
Eine für die
die ich anlüg`.
Eine für die
die das weiß.
Eine für die
die still hält.
Eine für die
die sich wehrt.
Eine für die
die mich teilt.
Und eine für die
die mir nicht gehört.

Internet-Tipp: https://www.lyrikwelt.de/autoren/opitzhellmuth.htm


yankee antwortete am 16.11.04 (09:58):

Passend zur Debatte über die Gesundheitsreform:
Eugen Roth

Kassenhass
Ein Mann, der eine ganze Masse
Gezahlt hat in die Krankenkasse,
Schickt jetzt die nötigen Papiere,
Damit auch sie nun tu das ihre.
Jedoch er kriegt nach längrer Zeit
statt baren Gelds nur den Bescheid,
Nach Paragraphenziffer X
Bekomme er vorerst noch nix,
Weil, siehe Ziffer Y,
Man dies und das gestrichen schon,
So daß er nichts, laut Ziffer Z,
Beanzuspruchen weiter hätt.
Hingegen heißt's, nach Ziffer A,
Daß er vermutlich übersah,
Daß alle Kassen, selbst in Nöten,
Den Beitrag leider stark erhöhten
Und daß man sich, mit gleichem Schreiben,
Gezwungen seh, ihn einzutreiben.
Besagter Mann denkt, krankenkässlich,
In Zukunft ausgesprochen häßlich.


yankee antwortete am 16.11.04 (10:59):


Juan Ramon Jimenez (1881-1958)

YO NO SOY YO.
Soy este
que va a mi lado sin yo verlo;
que, a veces, voy a ver,
y que, a veces, olvido.
El que calla, sereno, cuando hablo,
el que perdona, dulce, cuando odio,
el que pasea por donde no estoy,
el que quedará en pié cuando yo muera.

Ich bin nicht ich.
Ich bin der, der neben mir geht
und den ich nicht sehe.
Den ich manchmal besuche
und den ich oft vergesse.
Derjenige, der ruhig bleibt, wenn ich rede,
der vergibt, wenn ich hasse,
derjenige, der spazieren geht,
wenn ich zu Hause bleibe,
der bleiben wird,
wenn ich sterbe.


Enigma antwortete am 17.11.04 (09:42):

Christiane Schwarze
Unterwegs

Heute bin ich
unterwegs
auf Wolken
male mit dem Fuß
den Himmel blau.

Meine Hand
streichelt ein Grau
bis es weiß wird.

Die Kleider
schenke ich dem Abend,
weil ihm die Farbe Schwarz
so gut gefällt.

Leise flüstere ich mit Venus.
Sie lädt mich ein,
heute Nacht
mit ihr gemeinsam
die Sonne zu umkreisen.

Internet-Tipp: https://www.lyrikwelt.de/hintergrund/schwarze-bericht-h.htm


yankee antwortete am 18.11.04 (09:03):

Weihnachtslied, chemisch gereinigt

Morgen, Kinder, wird's nichts geben!
Nur wer hat, kriegt noch geschenkt.
Mutter schenkte Euch das Leben.
Das genügt, wenn man's bedenkt.
Einmal kommt auch eure Zeit.
Morgen ist's noch nicht soweit.

Doch ihr dürft nicht traurig werden.
Reiche haben Armut gern.
Gänsebraten macht Beschwerden.
Puppen sind nicht mehr modern.
Morgen kommt der Weihnachtsmann.
Allerdings nur nebenan.

Lauft ein bißchen durch die Straßen!
Dort gibt's Weihnachtsfest genug.
Christentum, vom Turm geblasen,
macht die kleinsten Kinder klug.
Kopf gut schütteln vor Gebrauch!
Ohne Christbaum geht es auch.

Tannengrün mit Osrambirnen –
Lernt drauf pfeifen! Werdet stolz!
Reißt die Bretter von den Stirnen,
denn im Ofen fehlt's an Holz!
Stille Nacht und heil'ge Nacht –
Weint, wenn's geht, nicht! Sondern lacht!

Morgen, Kinder, wird's nichts geben!
Wer nichts kriegt, der kriegt Geduld!
Morgen, Kinder, lernt fürs Leben!
Gott ist nicht allein dran schuld.
Gottes Güte reicht so weit...

Ach, du liebe Weihnachtszeit!

- Erich Kästner


Enigma antwortete am 18.11.04 (09:55):

Max Dauthendey
Nachtfalter

Nachtfalter kommen verloren
wie Gedanken aus dem Dunkel geboren.
Sie müssen dem Tag aus dem Wege gehen
und kommen zum Fenster, um hellzusehen.
Und in die Nachtstille versunken,
flattern sie zuckend und trunken.
Sie haben nie Sonne, nie Honig genossen,
die Blumen alle sind ihnen verschlossen.
Nur wo bei Lampen die Sehnsucht wacht,
Verliebte sich grämen in schlafloser Nacht,
da stürzen sie in das Licht, sich zu wärmen,
das Licht, das Tränen bescheint und Härmen:
Die Falter der Nacht die Sonne nie kennen.
Sie müssen an den Lampen der Sehnsucht verbrennen.

Internet-Tipp: https://de.Wikipedia.org/wiki/Dauthendey


yankee antwortete am 18.11.04 (11:07):

Nur kurze Zeit

Nur kurze Zeit den Augenblick genießen:
ganz Baum ganz Wind ganz Erde sein
und traumhaft in Unendlichkeit zu fließen,
wir werden williger das Glück begrüßen,
ganz Mensch zu sein.
Irma Grote


Enigma antwortete am 18.11.04 (11:29):

Hugo Ball
Die Berge meiner Schwermut

Die Berge meiner Schwermut wollen wandern
aus dieser Nacht in einen fernen Tag.
Von einem Gipfel rauschet nun zum andern,
im Traum verschluchzt, was mir am Herzen lag.

Geheimnisvolles Schreiten hat begonnen,
indes die Schläfer schlug ein irrer Stern.
Mein Morgen will erwachen und sich sonnen
im Lande der Lebendigen des Herrn.

Schon fühlt die Höhe sich ins Licht getragen.
Schon stürmet Vogelsang, der weh entschlief.
Gelobt sei, der aus den Finsternissen
die Flügel meiner Sehnsucht zu sich rief.

Internet-Tipp: https://gutenberg.spiegel.de/autoren/ball.htm


yankee antwortete am 18.11.04 (11:42):

Schönheit vergeht

Schönheit dieser Welt vergeht,
wie ein Wind, der niemals steht,
wie die Blume, so kaum blüht
und auch schon zur Erde sieht,
wie die Welle, die erst kommt
und den Weg bald weiter nimmt.
Was für Urteil soll ich fällen?
Welt ist Wind, ist Blum und Wellen.

Martin Opitz


Enigma antwortete am 19.11.04 (09:07):

Johannes Bobrowski
Kindheit

Da hab ich
den Pirol geliebt -
das Glockenklingen, droben
aufscholls, niedersanks
durch das Laubgehäus.

Wenn wir hockten am Waldrand,
auf einen Grashalm reihten
rote Beeren; mit seinem
Wägelchen zog der graue
Jude vorbei.

Dann fiel die strömende breite
Regenflut aus dem offenen
Himmel, nach allen Dunkel
schmeckten die Tropfen
wie Erde.

Oder die Burschen kamen
den Uferpfad her mit den Pferden,
auf den glänzenden braunen
Rücken ritten sie lachend
über die Tiefe.

Da sang die Alte in ihrer
duftenden Kammer. Die Lampe summte.
Kindheit -
da hab ich den Pirol geliebt -

Internet-Tipp: https://www.adlexikon.de/Johannes_Bobrowski.shtml


yankee antwortete am 19.11.04 (13:07):

Schmetterling

Ein letzter Atemzug, Stille kehrt ein
Ein letztes Zucken auf schwarzem, brennendem Grund
Chaos überall, die Luft steht in Flammen
Ein letzter Atemzug, vorbei ...

Erinnerungen, ... was, was ist passiert?
was einmal war ... Schönheit und Freude überall ...
Endlose Freiheit, ein Flattern im Wind ...
Erinnerungen, ... alles vorbei ...

Warum? ... der Wind kennt alle fragen ...
Er kennt die Fragen, die Antwort, den Sinn ...
Warum? ... die Luft steht still ...
niemand sieht und versteht ... niemand ist da

Bilder der Vergangenheit ... langsam verblassend
sie zeigen Wesen ohne jede Eleganz,
Plump sind sie, können nicht fliegen ...
farblos und grau ... überall ...

Bilder der Vergangenheit ... langsam verblassend
alles verändert sich ... unaufhörlich, unabwendbar ...
Glück wird zu Leid, Freude zu Trauer ...
Endlose Freiheit zur quälenden Last ... Gefangen im Leben ...

Wo einst Schönheit war ist jetzt alles nur grau
Wo einst Leben war herrscht jetzt Stille und Tod
Nichts ist mehr wie es mal war ...
Das Ende kommt bald ...

Ein letzter Atemzug, Stille kehrt ein
Ein letztes Zucken auf schwarzem, brennendem Grund
Chaos überall, die Luft steht in Flammen
Ein letzter Atemzug, vorbei ...

Bilder ... Erinnerungen ...
alles verblasst ...
Dunkelheit breitet sich aus ...
Das Licht des Lebens ...
erloschen ...
vorbei ...
tot
!
Thomas Kronberg


yankee antwortete am 19.11.04 (16:03):

Die zwei Parallelen

Es gingen zwei Parallelen ins Endlose hinaus,
zwei kerzengerade Seelen und aus solidem Haus.
Sie wollten sich nicht schneiden bis an ihr seliges Grab:
Das war nun einmal der beiden geheimer Stolz und Stab.
Doch als sie zehn Lichtjahre gewandert neben sich hin,

Da wards dem einsamen Paare nicht irdisch mehr zu Sinn.
Warn sie noch Parallelen? Sie wußtens selber nicht, -
sie flossen nur wie zwei Seelen zusammen durch ewiges Licht.
Das ewige Licht durchdrang sie, da wurden sie eins in ihm;
die Ewigkeit verschlang sie als wie zwei Seraphim.

Christian Morgenstern


Enigma antwortete am 19.11.04 (16:50):

Günter Bruno Fuchs
Sechszeilengedicht

Dies ist die erste Zeile.
Mit der zweiten beginnt mein Gedicht zu wachsen.
Wenn ich so weitermache, komme ich bald an den Schluß.
Die vierte Zeile hilft mir dabei (Schönen Dank, vierte Zeile!)
Der Gerichtsvollzieher , sage ich noch, trägt seine Eier ins Kuckucksnest.
So, ich habe meine Arbeit getan und lege mich schlafen. :-)

Internet-Tipp: https://www.litlinks.it/f/fuchs_gb.htm


yankee antwortete am 22.11.04 (10:14):

Herbst

Die Tauben sitzen schwer wie Steine
Der Baum im Hof verliert Gewicht
Ein alter Mann vertritt die Beine
Wird Herbst da draussen,
Wie ich meine

Zwölf Bänke stehn und sind vergessen
Ein Tulpenbeet hat nichts zu tun
Ein Sonnenstrahl grüsst sehr gemessen,
Den Herbst da draussen
Und in mir

Hildegard Knef


yankee antwortete am 22.11.04 (10:27):

Clemens Brentano

Frühling

Frühling soll mit süßen Blicken
Mich entzücken und berücken,
Sommer mich mit Frucht und Myrthen
Reich bewirten und umgürten.

Herbst du sollst mich Haushalt lehren,
zu entbehren, zu begehren,
Und du Winter lehr mich sterben,
mich verderben, Frühling erben.


Enigma antwortete am 22.11.04 (14:23):

Oskar Loerke
Nächtliche Körpermelancholie

Was ist nun Ich?
Die Füße sind wie Berge in der Ferne,
zu fremd und schwer, ich kann sie nicht bewegen,
das Herz wie eine einsame Zisterne,
und viele öde Meilen mir entlegen.

Ich weiß:
Die Hand hängt tief in einem Wald von Kohle,
die Stirn trägt eine Hauptstadt, grell von Lichtern.
Auf meinen Füßen schläft das Eis der Pole,
darunter schluckt das Meer in Strudeltrichtern.

Ich werde nichts fürchten und nichts vermissen
und ohne Schmerz und ohne Hunger liegen
und nur soviel wie große Flügel wissen,
auf einem Sterne mit Gestirnen fliegen.


chris antwortete am 22.11.04 (15:19):

Johann Wolfgang von Goethe

Das Blümlein Wunderschön

Lied des gefangenen Grafen

Graf
Ich kenne ein Blümlein Wunderschön
Und trage danach Verlangen;
Ich möcht es gerne zu suchen gehn,
Allein ich bin gefangen.
Die Schmerzen sind mir nicht gering;
Denn als ich in der Freiheit ging,
Da hatt ich es in der Nähe.
Von diesem ringsum steilen Schloß
Laß ich die Augen schweifen
Und kanns vom hohen Turmgeschoß
Mit Blicken nicht ergreifen;
Und wer mirs vor die Augen brächt,
Es wäre Ritter oder Knecht,
Der sollte mein Trauter bleiben.

Rose
Ich blühe schön, und höre dies
Hier unter deinem Gitter.
Du meinest mich, die Rose, gewiß,
Du edler, armer Ritter!
Du hast gar einen hohen Sinn,
Es herrscht die Blumenkönigin
Gewiß auch in deinem Herzen.

Graf
Dein Purpur ist aller Ehren wert
Im grünen Überkleide;
Darob das Mägdlein dein begehrt
Wie Gold und edel Geschmeide.
Dein Kranz erhöht das schönste Gesicht;
Allein, du bist das Blümchen nicht,
Das ich im stillen verehre.

Lilie
Das Röslein hat gar stolzen Brauch
Und strebet immer nach oben;
Doch wird ein liebes Liebchen auch
Der Lilie Zierde loben.
Wems Herze schlägt in treuer Brust
Und ist sich rein, wie ich, bewußt,
Der hält mich wohl am höchsten.

Graf
Ich nenne mich zwar keusch und rein
Und rein von bösen Fehlen;
Doch muß ich hier gefangen sein
Und muß mich einsam quälen.
Du bist mir zwar ein schönes Bild
Von mancher Jungfrau, rein und mild.
Doch weiß ich noch was Liebers.

Nelke
Das mag wohl ich, die Nelke, sein
Hier in des Wächters Garten,
Wie würde sonst der Alte mein
Mit so viel Sorge warten?
Im schönen Kreis der Blätter Drang,
Und Wohlgeruch das Leben lang,
Und alle tausend Farben.

Graf
Die Nelke soll man nicht verschmähn,
Sie ist des Gärtners Wonne;
Bald muß sie in dem Lichte stehn,
Bald schützt er sie vor Sonne;
Doch was den Grafen glücklich macht,
Ist nicht die ausgesuchte Pracht:
Es ist ein stilles Blümchen.

Veilchen
Ich steh verborgen und gebückt
Und mag nicht gerne sprechen,
Doch will ich, weil sichs eben schickt,
Mein tiefes Schweigen brechen.
Wenn ich es bin, du guter Mann,
Wie schmerzt michs, daß ich hinauf nicht kann
Dir alle Gerüche senden.

Graf
Das gute Veilchen schätz ich sehr:
Es ist so gar bescheiden
Und duftet so schön; doch brauch ich mehr
In meinen herben Leiden.
Ich will es euch nur eingestehn;
Auf diesen dürren Felsenhöhn
Ists Liebchen nicht zu finden.
Doch wandelt unten, an dem Bach,
Das treuste Weib der Erde
Und seufzet leise manches Ach,
Bis ich erlöset werde.
Wenn sie ein blaues Blümchen bricht
Und immer sagt: Vergiß mein nicht!
So fühl ichs in der Ferne.

Ja, in der Ferne fühlt sich die Macht,
Wenn zwei sich redlich lieben;
Drum bin ich in des Kerkers Nacht
Auch noch lebendig blieben.
Und wenn mir fast das Herzt bricht,
So ruf ich nur: Vergiß mein nicht!
Da komm ich wieder ins Leben.

gefunden bei:
https://gutenberg.spiegel.de/goethe/gedichte/bluemln.htm

Internet-Tipp: https://images.easyart.com/i/prints/lg/1/9/190797.jpg


yankee antwortete am 22.11.04 (15:44):

Elisabeth Kuhlmann
1808-1825

(Eines ihrer letzten Gedichte bevor sie mit 17 Jahren starb.
Die erste Russin, die griechisch lernte, elf Sprachen verstand, acht sprach, obgleich ein junges Mädchen, dennoch eine ausgezeichnete Dichterin).

Die letzten Blumen starben

Die letzten Blumen starben!
Längst sank die Königin
Der warmen Sommermonde,
Die holde Rose hin!

Du, hehre Georgine,
Erhebst nicht mehr dein Haupt!
Selbst meine hohe Pappel
Sah ich schon halb entlaubt.

Bin ich doch weder Pappel,
Noch Rose, zart und schlank;
Warum soll ich nicht sinken,
Da selbst die Rose sank?


iustitia antwortete am 22.11.04 (18:12):

Danke für den G.B.Fuchs, den O.Loerke...
Hier - ein Prosatext von dem unbändigen Fuchs, der so viel intelligente Phantasie - gerade im Namen der Kinder - geboten hat:

Günter Bruno Fuchs
Ein Esel beschimpft eine Lehrerin

Sind Sie eine Lehrerin? Sie sind keine Lehrerin. Sie sind eine enge Straße. Sie sind eine Erbse. Sie sind voller Essig. Sie sind eine Lehrerin? Sie haben ein Schimpfwort erfunden, weiter nichts, aber das reicht schon! Sie wissen auch, was ich sagen will. Sie tun verwundert, als wüßten Sie nicht, was ich sagen will. Ich habe mich bei einem Kind erkundigt! Sind die Seiten eines Schulbuchs oben oder unten angeknickt, dann nennen Sie diese angeknickten oder umgeknickten Stellen kurzerhand Eselsohr.

Haben wir solche Ohren? Treten Sie näher, setzen Sie Ihre Brille auf. Was sehen Sie? Sie sehen Eselsohren. Das hier an meinem Kopf sind die Ohren eines Esels. Wie kommt es zu dieser Verwechslung? Weshalb entschuldigen Sie sich nicht? Was geschieht, wenn Ihr Schimpfwort von anderen Lehrerinnen und Lehrern beliebig ausgesprochen wird in ständiger Beleidigung meiner Ohren. Sage ich zu meinen Kindern: Du hast Lehrerinnenohren? Ich sage das nicht. Ist das Ihre Aufgabe, so was zu sagen? Haben Sie nichts anderes gelernt? Geht das, was ich hier sage, in eins Ihrer Ohren hinein und zum andern hinaus? Iiih, sage ich, aber nicht Aaah! Nein, halten Sie sich nicht die Ohren zu! Laufen Sie nicht zum Rektor! Wenn Sie den Rektor holen, beiße ich den Rektor. Am besten, Sie entschuldigen sich, das wäre am besten für die Zukunft.

Internet-Tipp: https://www.flaeming-grundschule.de/1esel.htm


Enigma antwortete am 23.11.04 (08:16):

Guten Morgen alle,

heute einmal etwas von
Johann-Wolfgang von Goethe
aus dem "Westöstlichen Divan"
Buch Suleika

In tausend Formen magst du dich verstecken,
doch, Allerliebste, gleich erkenn ich dich;
Du magst mit Zauberschleiern dich bedecken,
Allgegenwärt`ge, gleich erkenn ich dich.

An der Zypresse reinstem jungem Streben,
Allschöngewachsne, gleich erkenn ich dich.
In des Kanales reinem Wellenleben ,
Allschmeichelhafte, wohl erkenn ich dich.

Wenn steigend sich der Wasserstrahl entfaltet,
Allspielende, wie froh erkenn ich dich!
Wenn Wolke sich gestaltend umgestaltet,
Allmannigfaltge, dort erkenn ich dich.

An des geblümten Schleiers Wiesenteppich,
Allbuntbesternte, schön erkenn ich dich;
Und greift umher ein tausendarmger Eppich,
o Allumklammernde, da kenn ich dich.

Wenn am Gebirg der Morgen sich entzündet,
gleich, Allerheiternde, begrüß ich dich.
Dann über mir der Himmel rein sich ründet,
Allherzerweiternde, dann atm`ich dich.

Was ich mit äußerm Sinn, mit innerm kenne,
du Allbelehrende, kenn ich durch dich;
Und wenn ich Allahs Namenhundert nenne,
mit jedem klingt ein Name nach für dich.


Enigma antwortete am 23.11.04 (08:23):

Und aus dem gleichen Werk noch eines:

Suleika

Hochbeglückt in deiner Liebe
schelt ich nicht Gelegenheit;
Ward sie auch an dir zum Diebe,
wie mich solch ein Raub erfreut!

Und wozu denn auch berauben?
Gib dich mir aus freier Wahl;
Gar zu gerne möcht ich glauben -
Ja, ich bin`s, die dich bestahl.

Was so willig du gegeben,
bringt dir herrlichen Gewinn.
Meine Ruh, mein reiches Leben
geb ich freudig, nimm es hin!

Scherze nicht! Nichts von Verarmen!
Macht uns nicht die Liebe reich?
Halt ich dich in meinen Armen,
jedem Glück ist meines gleich.


yankee antwortete am 23.11.04 (08:45):

Johann Wolfgang von Goethe

Dämmrung senkte sich von oben

Dämmrung senkte sich von oben,
Schon ist alle Nähe fern;
Doch zuerst emporgehoben
Holden Lichts der Abendstern!
Alles schwankt ins Ungewisse,
Nebel schleichen in die Höh;
Schwarzvertiefte Finsternisse
Widerspiegelnd ruht der See.

Nun im östlichen Bereiche
Ahnd ich Mondenglanz und -glut,
Schlanker Weiden Haargezweige
Scherzen auf der nächsten Flut.
Durch bewegter Schatten Spiele
Zittert Lunas Zauberschein
Und durchs Auge schleicht die Kühle
Sänftigend ins Herz hinein.


Sofia204 antwortete am 23.11.04 (15:30):

'Suleiken`s tausendarmgen Eppich'

mußte ich im Google erst suchen
und fand ihn im Gedicht von Conrad Ferdinanf Meyer


Eppich, mein alter Hausgesell,
Du bist von jungen Blättern hell,
Dein Wintergrün, so still und streng,
verträgt sich`s mit dem Lenzgedräng?
Warum denn nicht?
Wie meines hat Dein Leben
alt und junges Blatt,
Eins streng und dunkel, eines
licht
Von Lenz und Lust!
Warum denn nicht?


Enigma antwortete am 24.11.04 (08:59):

Guten Morgen alle und

hallo Sofia204,
ich muss gestehen, dass ich da auch erst nachschauen musste, um was für ein Gewächs es sich handelte. Aber nun wissen wir es und haben ihm auch noch das schöne Gedicht zu verdanken, das von Dir kam. :-)

Peter Rühmkorf
Aufbruch vor Morgen

Wieviel Uhr? Es kommen auf einmal so viele
fiepsige Vögel auf, verflucht!
Bald wird mir die Sonne ihr Zitronenlicht
ins verkniffene Auge träufeln.....
Und keine Lehre wird mal daraus-nachhaus
und kein Gedanke an
Bewegung / Besserung.

Aufwachen? - Wozu?
Es ist doch so, laut EMNID folgt für 44 %
aller Bundesbürger auf den Tod das Nichts.
Von denen völlig zu schweigen, für die nach dem Nichts
gleich der Tod kommt -
Hab leider vergessen, was ich damit eigentlich
aussagen wollte, achja:
Wer das kapiert hat,
den versteht bald keiner mehr.

Im Verhältnis kannst Du natürlich nicht klagen
(das nebenbei) -
Man soll aber auch nicht glauben, hier läg noch derselbe rum
wie damals im letzten Jahr.
Oder wüßtest du grad ne Idee, für die du bedenkenlos
deinen Kopf hinhalten würdest?
Na-bong, ein Fräser hängt sich aus.....
Das muß aber ja nicht gleich Zustand werden.

Wie ich immer gesagt hab, in solcher Verfassung soll man
eigentlich keine Gedichte schreiben.
Da muß der Kunde doch unvermittelt denken,
hier wär der Ausguck verstopft,
beziehungsweise gar kein Leben mehr
in dieser Rolle -

So ist es aber nicht!
Der Tag lehnt in der Drehtür:
Wo es meine Lieblingsbouletten gibt, ist noch erleuchtet,
mein Fuß schon unterwegs....
Gleich wird - dein Telefon - im Schlaf aufschrein!
und dir den Aufbruch meiner Leiche
feierlich eröffnen .......


iustitia antwortete am 24.11.04 (09:38):

Der Eppich von Meyer hat mir besonders gut gefallen. Da habe ich noch ein wenig gesucht:

Conrad Ferdinand Meyer:
Der Lieblingsbaum

Den ich pflanzte, junger Baum
Dessen Wuchs mich freute,
Zähl ich deine Lenze, kaum
Sind es zwanzig heute.


Oft im Geist ergötzt es mich
Über mir im Blauen
Schlankes Astgebilde, dich
Mächtig auszubauen.


Lichtdurchwirkten Schatten nur
Legst du auf die Matten,
Eh du dunkel deckst die Flur,
Bin ich selbst ein Schatten.


Aber haschen soll mich nicht
Stygisches Gesinde,
Weichen werd ich aus dem Licht
Unter deine Rinde.


Frische Säfte rieseln laut,
Rieseln durch die Stille.
Um mich, in mir webt und baut
Ewger Lebenswille.


Halb bewusst und halb im Traum
Über mir im Lichten
Werd ich, mein geliebter Baum,
Dich zu Ende dichten.
*
Und noch ein zweites Baum-Gedicht vom Meyer:

Der verwundete Baum

Sie haben mit dem Beile dich zerschnitten,
Die Frevler - hast du viel dabei gelitten?
Ich selber habe sorglich dich verbunden
Und traue: Junger Baum, du wirst gesunden!
Auch ich erlitt zu schier derselben Stunde
Von schärferm Messer eine tiefre Wunde.
Zu untersuchen komm ich deine täglich,
Und meine fühl ich brennen unerträglich.
Du saugest gierig ein die Kraft der Erde,
Mir ist, als ob auch ich durchrieselt werde!
Der frische Saft quillt aus zerschnittner Rinde
Heilsam. Mir ist, als ob auch ichs empfinde!
Indem ich deine sich erfrischen fühle,
Ist mir, als ob sich meine Wunde kühle!
Natur beginnt zu wirken und zu weben,
Ich traue: Beiden geht es nicht ans Leben!
Wie viele, so verwundet, welkten, starben!
Wir beide prahlen noch mit unsern Narben!
*

URL: Susanne Meyer: Baum der Erkenntnis...
Hie teilen sich zwei Frauen die Frucht...(?)

Internet-Tipp: https://www.cyberinstitut.de/images/meyer_object/paradies_object.jpg


iustitia antwortete am 24.11.04 (09:38):

Der Eppich von Meyer hat mir besonders gut gefallen. Da habe ich noch ein wenig gesucht:

Conrad Ferdinand Meyer:
Der Lieblingsbaum

Den ich pflanzte, junger Baum
Dessen Wuchs mich freute,
Zähl ich deine Lenze, kaum
Sind es zwanzig heute.


Oft im Geist ergötzt es mich
Über mir im Blauen
Schlankes Astgebilde, dich
Mächtig auszubauen.


Lichtdurchwirkten Schatten nur
Legst du auf die Matten,
Eh du dunkel deckst die Flur,
Bin ich selbst ein Schatten.


Aber haschen soll mich nicht
Stygisches Gesinde,
Weichen werd ich aus dem Licht
Unter deine Rinde.


Frische Säfte rieseln laut,
Rieseln durch die Stille.
Um mich, in mir webt und baut
Ewger Lebenswille.


Halb bewusst und halb im Traum
Über mir im Lichten
Werd ich, mein geliebter Baum,
Dich zu Ende dichten.
*
Und noch ein zweites Baum-Gedicht vom Meyer:

Der verwundete Baum

Sie haben mit dem Beile dich zerschnitten,
Die Frevler - hast du viel dabei gelitten?
Ich selber habe sorglich dich verbunden
Und traue: Junger Baum, du wirst gesunden!
Auch ich erlitt zu schier derselben Stunde
Von schärferm Messer eine tiefre Wunde.
Zu untersuchen komm ich deine täglich,
Und meine fühl ich brennen unerträglich.
Du saugest gierig ein die Kraft der Erde,
Mir ist, als ob auch ich durchrieselt werde!
Der frische Saft quillt aus zerschnittner Rinde
Heilsam. Mir ist, als ob auch ichs empfinde!
Indem ich deine sich erfrischen fühle,
Ist mir, als ob sich meine Wunde kühle!
Natur beginnt zu wirken und zu weben,
Ich traue: Beiden geht es nicht ans Leben!
Wie viele, so verwundet, welkten, starben!
Wir beide prahlen noch mit unsern Narben!
*

URL: Susanne Meyer: Baum der Erkenntnis...
Hie teilen sich zwei Frauen die Frucht...(?)

Internet-Tipp: https://www.cyberinstitut.de/images/meyer_object/paradies_object.jpg


yankee antwortete am 24.11.04 (11:00):

Ein schönes Baumgedicht passend zur Vorweihnachtszeit, wie ich finde.

Der Seelchenbaum

Weit draußen, einsam im öden Raum
steht ein uralter Weidenbaum
noch aus den Heidenzeiten wohl,
verknorrt und verrunzelt, gespalten und hohl.
Keiner schneidet ihn, keiner wagt
vorüberzugehn, wenn's nicht mehr tagt,
kein Vogel singt ihm im dürren Geäst,
raschelnd nur spukt drin der Ost und West;
doch wenn am Abend die Schatten düstern,
hörst du's wie Sumsen darin und Flüstern.

Und nahst du der Weide um Mitternacht,
du siehst sie von grauen Kindlein bewacht:
Auf allen Ästen hocken sie dicht,
lispeln und wispeln und rühren sich nicht.
Das sind die Seelchen, die weit und breit
sterben gemußt, eh' die Tauf' sie geweiht:
Im Särglein liegt die kleine Leich',
nicht darf das Seelchen ins Himmelreich.
Und immer neue, - siehst es du? -
in leisem Fluge huschen dazu.

Da sitzen sie nun das ganze Jahr
wie eine verschlafene Käuzchenschar.
Doch Weihnachts, wenn der Schnee rings liegt
und über die Länder das Christkind fliegt,
dann regt sich's, pludert sich's, plaudert, lacht,
ei, sind unsre Käuzlein da aufgewacht!
Sie lugen aus, wer sieht was, wer?
Ja freilich kommt das Christkind her!
Mit seinem helllichten Himmelsschein
fliegt's mitten zwischen sie hinein:

"Ihr kleines Volk, nun bin ich da -
glaubt ihr an mich?" Sie rufen: "Ja!"
Da nickt's mit seinem lieben Gesicht
und herzt die Armen und ziert sich nicht.
Dann klatscht's in die Hände, schlingt den Arm
ums nächste - aufwärts schwirrt der Schwarm
ihm nach und hoch ob Wald und Wies'
ganz graden Weges ins Paradies.

Ferdinand (Ernst Albert) Avenarius (1856-1923)


Enigma antwortete am 24.11.04 (18:59):

Wislawa Szymborska
Manche mögen Poesie

Manche -
das heißt nicht alle.
Nicht einmal die Mehrheit, sondern die Minderheit,
abgesehen von den Schulen, wo man mögen muß,
und den Dichtern selbst,
gibt`s davon etwa zwei pro Tausend.

Mögen -
aber man mag ja auch Nudelsuppe,
mag Komplimente und die Farbe Blau,
mag den alten Schal,
mag auf dem Seinen beharren,
mag Hunde streicheln.

Poesie -
was aber ist Poesie.
Manch wacklige Antwort
ist dieser Frage bereits gefolgt.
Aber ich weiß nicht, ich weiß nicht. Ich halte mich
daran fest, wie an einem rettenden Geländer.

Aus dem Polnischen von Karl Dedecius


pilli antwortete am 25.11.04 (00:17):

Heuchler

Kirchen-gehen, Predigt-hören,
Singen, beten, andre lehren,
Seufzen und gen Himmel schauen,
Nichts als nur vom Gott-vertrauen
Und vom glauben und vom lieben
Und von andrem Guts-verüben
Reden führen: ich will meinen,
Die es tun, Gott sind die deinen.
O, noch lange nicht! im Rücken
Schmützen und von vormen schmücken,
Seinen Nächsten hassen, neiden,
Dessen bestes stets vermeiden,
Dessen Nachtheil emsig stiften,
Zungen-Honig, Herzens-Giften,
Jenes außen, dieses innen
Lieblich, tückisch führen künnen:
Meinst du, dass dem Christen-Leben
Beides ähnlich sei und eben?
Gott hat neben sich gesetzet
Auch den Nächsten; wird verletzet
Durch den Dienst, der ihn gleich liebet
Und den Nächsten übergibet;
Halbe Christen sind zu nennen,
Die da Gott und Nächsten trennen.

Friedrich von Logau (1604 - 1655):

...

auf der gleichen website habe ich schmunzelnd bild-und wort-raritäten der besonders bözen art entdeckt;

vielleicht von interesse für justitia? :-)

...

"Für Zucht und Sitte"

Die Liga katholischer Frauen und Jungfrauen gegen die unsittliche Kleidung unter dem Protektorat Ihrer Königlichen Hoheit der Frau Prinzessin Friedrich Christian von Sachsen" veröffentlicht im "Bayrischen Kurier" ihre wichtigsten Vereinsstatuten. Sie lauten Punkt für Punkt:

Bekleidung

Die Ärmel des Kleides müssen den Arm mindestens bis über den Ellbogen herab bedecken.
Die Beine müssen mindestens bis über die Wadenmuskeln vom Kleide bedeckt werden.
Der Oberkörper muss mindestens bis zur Halsgrube bedeckt sein.
Vollkommen abgelehnt werden zu eng anschließende Kleider, durchsichtige Kleiderstoffe.

Körperpflege

Beim Turnen:

Trennung der Geschlechter unter Beibehalt einer dem Schamgefühl entsprechenden Turnbekleidung. Vollkommene Ablehnung der Teilnahme an öffentlichen Schauder Wetturnen von Frauen und Mädchen.

Beim Baden:

Trennung der Geschlechter und anständige Badebekleidung. Ablehnung von Schau- und Wettschwimmen von Frauen und Mädchen.

Beim Sport:

Ablehnung der gemeinsamen Wanderausflüge von Mädchen und Jungen. Bei Wanderausflügen am Sonntag wird zuerst die Erfüllung der religiösen Pflichten sichergestellt.

Beim Tanz:

Ablehnung der modernen Tänze, die die Sittsamkeit und Schamhaftigkeit bedrohen.
Um der Entheiligung des Sonntags vorzubeugen, enthalten sich die Ligamitglieder ferner am Samstagabend jeder Festlichkeit, die sich bis in den Morgen des Sonntags ausdehnt.

Jede Frau und Jungfrau, sofern sie moralisch ernst genommen werden möchte, und von der Halsgrube über den Ellbogen bis zu den Wadenmuskeln die Forderungen der Liga bei sich selbst zu erfüllen willens ist - "wohlan", sie schicke noch heute ihre Mitgliedserklärung an das Kgl. sächsisch-katholische Sekretariat in Regensburg, ermuntert das Blatt. Doch tue besagte Frau und Jungfrau (und das gibt der Werbung erst die verlockende höhere Weihe!) noch ein übriges: sie lege dem Brief ein kleines Etikett, Größe 272-4 cm, bei und schreibe fein säuberlich Namen, Stand und Wohnort darauf.

Denn diese Etikettchen sollen in hübschem Umschlag dem Heiligen Vater überreicht werden, damit er sehe, dass er noch gehorsame Kinder habe".

Wird das eine Freude in Rom sein, wenn der Papst die vielen Regensburger Etikettchen, für die man sinnvollerweise die Form von Feigenblättchen wählen sollte, vorgelegt bekommt und der erwachsenen Schulkinderchen in Deutschland gedenkt, die so brav und folgsam ihre Reize vor der sündigen Welt verstecken!

Erschienen in:

Der Eulenspiegel : Zeitschrift für Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. - Berlin 1.1928 - 4.1931. -- 1929

:-)

Internet-Tipp: https://www.payer.de/religionskritik/karikaturen26.htm


Vorlesefunktion  Enigma antwortete am 26.11.04 (09:24):

Guten Morgen alle, und heute mal:

Frank Wedekind
Das Lied vom armen Kind
oder
Wer zuletzt lacht, lacht am besten

Es war einmal ein armes Kind,
das war auf beiden Augen blind,
auf beiden Augen blind;
Da kam ein alter Mann daher,
der hört`auf keinem Ohre mehr,
auf keinem Ohre mehr.
Sie zogen miteinander dann,
das blinde Kind, der taube Mann,
der arme, alte, taube Mann.

So zogen sie vor eine Tür,
da kroch ein lahmes Weib herfür,
ein lahmes Weib herfür.
Bei einem Automobilunglück
ließ sie ihr linkes Bein zurück,
das ganze Bein zurück.
Nun zogen weiter alle drei,
das Kind, der Mann, das Weib dabei,
das arme, lahme Weib dabei.

Ein Mägdlein zählte vierzig Jahr,
derweil sie stets noch Jungfrau war.
Um sie dafür zu strafen hart,
schuf Gott ihr einen Knebelbart,
ihr einen Knebelbart.
Sie flehte: Laßt mich mit euch gehn,
ihr Lieben, laßt mich mit euch gehn,
so wird noch Heil an mir geschehn!

Am Wege lag ein räudiger Hund,
der hatte keinen Zahn im Mund,
nicht einen Zahn im Mund;
Fand er mal einen Knochen auch,
er bracht`ihn nicht in seinen Bauch,
ihn nicht in seinen Bauch.
Nun trabte hinter den anderen vier,
wiewohl es am Verenden schier,
das alte, räudige Hundetier.

Ein Dichter lebt`in tiefster Not,
er starb den ewigen Hungertod,
den ewigen Hungertod.
Mit Herzblut schrieb er sein Gedicht,
man druckt es nicht, man liest es nicht.
Und niemand kennt es nicht.
Sein Leib war krank, sein Geist war wund,
drum schloß er mit dem räudigen Hund
der Freundschaft heiligen Seelenbund.

Und dann schrieb er zu aller Glück
ein wundervolles Theaterstück,
ein wundervolles Stück,
in welchem die Personen sind:
der taube Mann, das blinde Kind,
das arme blinde Kind,
das lahme Weib, die Zungfrau zart
mit ihrem langen Knebelbart.

Und eh`die nächste Stund`entflohn,
konnt`jeder seine Rolle schon,
die ganze Rolle schon.
Verständnisvoll führt`die Regie
ds alte räudige Hundevieh,
das räudige Hundevieh.
Drauf war das Schauspiel zensuriert
und einstudiert und aufgeführt
und ward ganz prachtvoll kritisiert.

Die Künstler fanden viel Applaus,
man spannt dem Hund die Pferde aus
und zieht ihn selbst nach Haus.
Da gab`s nun auch Tantiemen viel
und hohe Gagen für das Spiel,
das ungemein gefiel. -
Nachdem sie ganz Europa sah,
da reisten sie nach Amerika,
nach Nord- und Südamerika.

Nun hört zum Schluß noch die Moral:
Gebrechen sind oft sehr fatal,
sind manchmal eine Qual;
Frau Poesie schafft ohne Graus
beneidenswertes Glück daraus,
sie schafft das Glück daraus.
Dann schwillt der Mut, dann schwillt der Bauch,
und sei`s bei einer Jungfrau auch -
So ist`s der Menschheit guter Brauch.