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THEMA: Gedicht von Jorge Luis Borges
5 Antwort(en).
Enigma
begann die Diskussion am 28.06.04 (09:31) :
Lob des Schattens
Das Alter (so nennen es die anderen) ist vielleicht die Zeit unserer Glückseligkeit. Das Tier ist gestorben oder fast gestorben. Ich lebe unter lichten und vagen Formen, die noch nicht die Dunkelheit sind. Buenos Aires, das sich früher bis zur endlosen Ebene in Vorstädte aufspaltete, ist nun wieder Recoleta, Retiro, die unscharfen Straßen des Elften und die baufälligen alten Häuser dessen, was wir immer noch den Süden nennen. In meinem Leben waren immer zu viele Dinge; Demokritos von Abdera riß sich die Augen aus, um zu denken; die Zeit war mein Demokritos. Dieses Halbdunkel ist gemächlich und tut nicht weh; es fließt einen sanften Abhang hinab und gleicht der Ewigkeit. Meine Freunde haben keine Gesichter, die Frauen sind so, wie sie vor Jahren waren, die Ecken sind vielleicht andere, auf den Seiten der Bücher sind keine Buchstaben mehr vorhanden. All dies sollte mich erschrecken, doch ist es eher eine Süße, eine Rückkehr. Von den Generationen von Texten, die es auf der Erde gibt, werde ich nur einige wenige gelesen haben, die, welche ich weiter in der Erinnerung lese, lese und verwandle. Vom Süden, vom Osten, vom Westen, vom Norden kommend, treffen die Wege zusammen, die mich zu meiner geheimen Mitte geführt haben. Diese Wege waren Echos und Schritte, Frauen, Männer, Qualen, Auferstehungen, Tage und Nächte, Halbträume und Träume, jeder geringste Augenblick von gestern und vom Gestern der Welt, das feste Schwert des Dänischen und der Mond des Persischen, die Handlungen der Toten, die geteilte Liebe, die Worte, Emerson und der Schnee und so viele Dinge. Jetzt kann ich sie vergessen. Ich nähere mich meiner Mitte, meiner Algebra und meinem Schlüssel, meinem Spiegel. Bald werde ich wissen, wer ich bin.
übersetzt von Johannes Beilharz
Ob hier auch eingeflossen ist, dass Borges im Alter von 50 Jahren erblindet war?
Internet-Tipp: https://www.net-lexikon.de/Jorge-Luis-Borges.html
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iustitia
antwortete am 28.06.04 (18:22):
Enigma - Dank für das Borges-Gedicht...! Ja, die Blindheit spielt bei Borges in mehreren Werken eine gedankliche, d.h. menschliche und philosophische Rollen.
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Hier von einer schönen Lyrik-Seite ein Gedicht:
Jorge Luis Borges: Ein zweites Mal
Könnte ich mein Leben noch einmal von vorn beginnen, würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen.
Ich würde alberner sein, würde ganz locker werden, nur noch ganz wenige Dinge ernstnehmen.
Ich würde entschieden verrückter sein und weniger reinlich.
Ich würde mehr Gelegenheiten beim Schopf ergreifen und öfters auf Reisen gehn.
Ich würde mehr Berge ersteigen, mehr Flüsse durchschwimmen und mehr Sonnenaufgänge auf mich wirken lassen.
Ich würde mehr Schuhsohlen durchlaufen, mehr Eis und weniger Bohnen essen.
Ich würde mehr echte Probleme und weniger eingebildete Nöte haben.
Nun, ich habe meine verrückten Augenblicke, aber wenn ich noch einmal von vorn anfangen könnte, würde ich mehr verrückte Augenblicke haben - genau gesagt:
Augenblicke, einen nach dem anderen, und nichts mehr von Plänen zehn Jahre voraus.
Internet-Tipp: https://www.online-netzwerk-lernen.de/lyrik/ein-zweites-mal.html
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marie2
antwortete am 28.06.04 (21:44):
@ iustitia
Den Text kannte ich schon lange, wusste aber nicht, wer ihn geschrieben hatte. Ich bin erstaunt, dass der Autor männlich ist. Ich hätte das Gedicht einer Frau zugeordnet. Aber schön, dass Männer gerne alberner und verrückter gewesen sein wollten.
Marie2
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wanda
antwortete am 29.06.04 (18:27):
Männer mit einem Hang zur Lyrik sind doch halbe Frauen, oder ?
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marie2
antwortete am 29.06.04 (22:24):
Das kann dann aber nur die bessere Hälfte sein, Wanda. Oder irre ich da? Marie2
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iustitia
antwortete am 01.07.04 (12:24):
Vielleicht haben M ä n n e r als D i c h t e r - drei Hälften. (Frauen, zuerst als Mädchen, haben's wohl von Mutters Beispiel her besser...?) Das denke ich zumindest meist bei jüdischen Dichtern, auch bei den jiddischen oder heute (neuen) jüdischen Witzen. Irgendwo muss ja der Mut (der Sprache und List) ja herkommen, der die Wut wegen der Kämpfer und wegen der Mauern zwischen den Menschen zur (versöhnenden) Pointe bringen möchte.
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