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THEMA:   Nachschlag: Nacht, Sterne, Mütter...

 14 Antwort(en).

iustitia begann die Diskussion am 04.01.04 (10:34) mit folgendem Beitrag:

Hans Baumann (tot trotz Führergnaden):

1. Hohe Nacht der klaren Sterne,
Die wie weite Brücken stehn
Über einer tiefen Ferne,
D'rüber unsre Herzen geh'n

2. Hohe Nacht mit großen Feuern,
Die auf allen Bergen sind,
Heut' muß sich die Erd' erneuern,
Wie ein junggeboren Kind!

3. Mütter, euch sind alle Feuer,
Alle Sterne aufgestellt;
Mütter, tief in euren Herzen
Schlägt das Herz der weiten Welt!
*
1936 - noch bekannt? In Erinnerung?


Medea. antwortete am 04.01.04 (12:43):

Nicht nur bekannt, justitia -
ich singe es auch noch - dieses Lied ist wunderbar vertont worden -
und nur, weil es in der Nazizeit geschrieben und zu Weihnachten gesungen wurde, ist es dennoch damit nicht gelungen, die Jahrhunderte alten Weihnachtslieder abzulösen. Es ist wie mit den Liedern aus der Wandervogelbewegung, auch sie wurden im dritten Reich zu HJ- und BdM-Liedern "gemacht", sollten sie deshalb aus dem Gedächtnis der nachfolgenden Generationen gelöscht werden??
Lagerfeuerromantik ohne die entsprechenden Lieder ist doch gar nicht denkbar.
Ich besitze noch das kleine rote Heftchen "Die Mundorgel" genannt; besonders gerne haben wir "Heiß brennt die Äquatorsonne auf die öde Steppe nieder" gesungen und "Jenseits des Tales" durfte auch nicht fehlen... :-))
- und das war alles lange nach dem tausendjährigen Reich, das ich ja als kleines Mädchen gar nicht wahrgenommen habe.


Sofia204 antwortete am 04.01.04 (12:54):

gleich neben 'Stille Nacht' lieber iustitia,

ob es die Melodie ist oder die Hohe Nacht der klaren Sterne,
ich habe es nie vergessen, aber seit ca.´48 nicht mehr gehört. Mir erscheint der Text unverfänglich, man hatte wohl das Kind mit dem Bade ausgeschüttet :-(


navallo antwortete am 04.01.04 (14:03):

Ich vermute, daß dieses Lied zunächst für die Sommersonnenwendfeiern der HJ geschrieben wurde. Der Bezug zu Weihnachten wurde nachfolgend hineininterpretiert und ist, besonders wenn man die 2. Strophe aufmerksam liest, auch nicht ganz treffend. Zu Weihnachten wurden m. W. keine Feuer auf den Bergen angezündet. Und daß "sich die Erd erneuern" müßte, bezieht sich eher auf die pathetisch-mystische Aufbruchstimmung der Nazis. Wenn ich mich nicht täusche, stammt unter anderem auch "Es zittern die morschen Knochen" von Hans Baumann, in dem auch die Zeile vorkommt: "...denn heute gehört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt." Er war Mitarbeiter Baldur von Schirachs (Reichsjugendführer, "Ja die Fahne ist mehr als der Tod").
Eine Wertung verkneif ich mir.

@ justitia
Den Zusatz "tot trotz Führergnaden" verstehe ich nicht ganz. Es klingt, als hätte er Schwierigkeiten bekommen und sei er vom Führer irgendwann begnadigt worden.


mart antwortete am 04.01.04 (18:05):

Eine interessante Karriere:

Sehr viele Gedichte mit Text (darunter auch die "morschen Knochen": das Pflichtlied des Reichsarbeitsdienstes von Hans Baumann, das auch zum Standard-Repertoire der Wehrmacht gehörte) auf

https://ingeb.org/hbaumann.html

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Aber Wandlung zum bedeutende preisgekrönte Jugendbuchautor in den 60er und 70er Jahren auf:
https://www.dtv.de/_google/autoren/autor5.htm

"Hans Baumann, geboren 1914 in Amberg (Oberpfalz), zählt zu den renommiertesten deutschen Kinder- und Jugendbuchautoren, daneben trat er auch als Lyriker und Übersetzer hervor. Seine Bücher erschienen in vielen Sprachen und wurden im In- und Ausland preisgekrönt, u.a. mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis (1956), dem Preis der New York Herald Tribune für das beste Jugendbuch (1968) und dem Mildred Batchelder Award (1972), ›Flügel für Ikaros‹ (dtv junior 7482) stand in der Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis."

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Und immer noch vertreten im Liederbuch der Bundeswehr -
Kritische Betrachtung auf:

https://www.igmedien.de/publikationen/kunst+kultur/2001/06/14.html

NS-Spuren im Liederbuch der Bundeswehr
Von Susann Witt-Stahl


"Deutsche Soldaten singen immer noch Nazi-Lieder. Das aktuelle "Liederbuch der Bundeswehr" enthält Werke führender NS-Ideologen. Die Herkunft der historisch belasteten Wort-Ton-Gebilde, die Wehrmacht und SS als Begleitmusik für ihre Eroberungskriege dienten, wird jedoch von der militärischen Führung verschwiegen oder verschleiert, Angaben zu Urhebern gefälscht. Kritik wird zurückgewiesen, Widerstand gegen die Traditionspflege des NS-Liedguts sogar bestraft.

Getreu dem Adenauerschen Appell ("Vergesst mir die Musike nicht, das ist eine wichtige Sache für die Soldaten") mochte der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß schon bei Einführung der allgemeinen Wehrpflicht nicht mehr auf soldatisches Liedgut verzichten. Das erste "Liederbuch der Bundeswehr" erschien 1958. "Alte Kameraden" wie die NS-Barden Hermann Claudius ("Herrgott, steh dem Führer bei") und Hans Baumann ("Heiliges Feuer brennt in dem Land") waren gleich wieder vertreten, diesmal allerdings mit vorwiegend harmloser Feld-Wald-Wiesen-Lyrik...."


iustitia antwortete am 05.01.04 (18:39):

Ja, danke für die vielen Informationen; besonders an mart...
Die geniale Vertonung steckt so tief (weil ich ergriffen war)in meinem Ohr; ich hatte dabei zuerst gar nicht den ganzen Text durchschaut. Ich weiß auch nicht, von wem die Musike ist.
Der Hitler-Spott sollte ansagen, dass Baumann so lange, so ungestört überleben durfte.
Gut, er hatte Schwierigkeiten, wenn er sich unter anderem Namen an einem literarischen Wettbewerb beteiligte und seine Identität dann bei Preisverleihung bekannt wurde; H.B. war also in der Lage, sich neuen Themen in neuer politischer Umgebung, auch kreativer zu stellen.
*
Das hatte ich mir so zusammengestellt:
H. Baumann - ein nach 1933 zeittypischer, gefühlig intelligenter Emotionalmittäter; weitere Edeltaten "Mein Vater war ein guter Soldat..."; "Es zittern die morschen Knochen..."; "Ruf aus dem Osten..."; "Wer zur Fahne rennt..." ("Wer zur Fahne rennt, wem die Fahne brennt, wer die Fahne kennt, wird zu Eisen.") Baumann schrieb mit der "hohen Nacht der kalten Sterne" 1936 eine quasi-religiöse, halluzinatorische Mütter-Fantasy, einschließlich der Jungfrau-Kind-Mythe, und bediente so die Ewigkeitssehnsüchte von verdrängungswilligen Männern; die deutschen oder christlichen Männer waren wohl schon alle in Kasernen oder in den Schreibstuben oder standen unter sonstiger erzieherischer Aufsicht. Von den propaganditischen Rauschexperten der Nazis wurde der Text in einer faszinierenden Klanggestalt als Gegenstück zu "Stille Nacht, heilige Nacht" propagiert; nach 45 nur noch von Sentimentalnazis und Profi-Nationalisten zitiert, so auch im Internet irgendwie unter "deutschen Volksliedern" verbucht. Baumann schrieb routiniert nach 45 weiter - Kindergedichte und Jugendbücher.


Sofia204 antwortete am 05.01.04 (19:36):

iustitia, diese Rauschgoldreklame
ist meinem Empfinden nicht adäquat, *g*


iustitia antwortete am 06.01.04 (00:19):

Sofia 204:

Deinen Vorwurf "Rauschgoldreklame" verstehe ich nicht. Wo mache ich Reklame für Rauschgold, also doch wohl gemeint: den Rausch, den die Nazis fabrizierten, stilisierten, mit dem sich - aber, was red ich... Ich habe es "halluzinatorisch" genannt. Und so sollte es wirken: gefühlsmäßig, animalisch, die Verantwortung des Einzelnen aufheben, ihn in den Gruppenrausch einbetten.
Red ich - ja, wogegen eigentlich? Und wer liest das - mit seinem ganzen Empfinden...?


pilli antwortete am 06.01.04 (02:01):

ich habe es gelesen ...und meine gleich zu anfang verstanden zu haben, was du mitteilst. :-)

die von mart bekanntgemachten fakten, daß auch die bei verschiedenen gelegenheiten gesungenen lieder von einigen bundeswehr-angehörigen anlass zur kritischen betrachtung geben, weiß ich von berichten meines schwiegersohnes und anderer betroffenen. da ist tatsächlich die verantwortung jedes einzelnen gefragt, ob er nun stimmungsvoll mitgröhlt oder seine vorgesetzten darauf aufmerksam macht. sollten diese nicht entsprechend reagieren, bleibt immer noch der weg der veröffentlichung...notfalls auch nach der entlassung.


Sofia204 antwortete am 06.01.04 (03:02):

iustitia,
gutmenschliche Gefühligkeit braucht Kitsch,
der wie Zuckerguß die Schönheit der Melodie,
ja auch den Text überzieht,
um sie mit den restlichen Liedern
wieder in den Orkus hinabzuschicken.


Medea. antwortete am 06.01.04 (10:15):

Ein "tausendjähriges Reich" tauchte bereits nach 12 Jahren in den Orkus - da soll ich mir sechzig Jahre danach noch Gedanken darüber machen, ob ich das Lied "Hohe Nacht der klaren Sterne" singen darf??? Wäre das Lied zú einer früheren oder späteren Zeit geschrieben worden- niemand hätte einen "nationalsozialistischen Hintergrund" gesehen....
Liebe Justitia - bitte nicht immer gleich die braune, kurzzeitige Vergangenheit erblicken. .-)
"Nacht, Sterne, Mütter..." impliziert doch nicht nur
faschistisches Gedankengut - .....


iustitia antwortete am 07.01.04 (00:29):

Nützt woll nüscht - einfach um historische Eindrücke und Eklärungen zu bitten... Jawoll! Ich steh Wache! Überoll, wo gesongen word, auch, wo nicht gesongen word, wo nur gedocht word, wo der Verdacht entsteht, dass gedacht wird - jawoll, auch wo nicht mehr gesungen werden dürfen will wird! Zungen und Stimmbänder raus - zum Appell! Wird alles geext! Und ass übüerhaupt jemand den Mund aufmacht, ob keuchend, hauchend, schniefend oder asthmatisch - alles unter Braun-Verdacht! Einzelzelle für die besten Sänger! Überhaupt: Gesangsverbot! Essverbot! Bekenntnisverbot! Werd ich doch schon rauszwingen die Deutschheit...! Widerstand wird nicht protokolliert, nur niedergemacht. Haben wir doch gelernt bei den Sanges- und Marschier-Glatzen. Knüppel und Skalpell frei!


Medea. antwortete am 07.01.04 (09:31):

Lieber Antonius -
dann steh' halt weiter Wache wie der einsame Soldat am Wolgastrand. Doch halt, vielleicht steckt in dem auch ein wenig braunes Gedankengut??
Provozieren ist schon okay - aber immer und überall?


mart antwortete am 07.01.04 (10:07):

Also ein zweiter Versuch, da der erste verschwunden ist.

Ich empfinde das erwähnte Gedicht als sehr ansprechend und schön, irgendwie erinnert es mich in seiner Einfachheit an Matthias Claudius.

Es drückt jedenfalls einen Teil meines Empfindens zum Weihnachtsfest sehr gut aus.

Interessieren würde mich allerdings, ob sich Baumann zu seinen übrigen blutrünstigeren Texten irgendeinmal nach dem Krieg geäußert hat. Er scheint seine zweifellos vorhandenen literarischen Fähigkeiten immer sehr der offiziellen Ideologie angepaßt verwendet zu haben. Diese Wetterfahnen "bewundere" ich und sie regen mich wirklich zum Nachdenken an. (Wahrscheinlich weil mir dazu jede Fähigkeit abgeht)


iustitia antwortete am 07.01.04 (23:25):

Medea...?
Nein, bin kein Soldat, steh nirgends stramm, ganz bestimmt nicht irgendwo an der Wolga. Wohl in den Liedern der Kosaken, egal welcher Bühne.
W a c h e - ja..! Überall tut(n) sich Geschichte(n),
ganz besonders in den Gefühlen der Gedichte, wenn man sich nur die "rauschhaften" auswählt.
Über "Wetterfahnen" wusste Hölderlin besser Bescheid als Baumann. D e m glaube ich wenigstens.
Baumann meinte die National-, die Truppenfahnen. (Wer das braucht...! Dessen Blut ist besser beim Roten Kreuz aufgehoben.) Die größten Aufgebote solcher Attrappen sieht man zur Zeit wohl in Korea.
Aber, wenn mart so wettersensibel ist, leide ich gern mal mit. Früher hab ich so was meiner Mutter nicht geglaubt..