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THEMA:   Wer schrieb: St. Petersburg (Text 1)

 3 Antwort(en).

iustitia begann die Diskussion am 25.11.03 (10:47) mit folgendem Beitrag:

Rätseltext:
Einleitung eines Romans, der in St. Petersburg spielt...
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Kapitel 1

Ende November, bei Tauwetter, gegen neun Uhr morgens, näherte sich ein Zug der Petersburg-Warschauer-Eisenbahnlinie mit Volldampf Petersburg. Es war so feucht und neblig, daß es nur zögernd hell wurde; aus den Waggonfenstern ließ sich auf zehn Schritt rechts und links vom Bahndamm kaum etwas erkennen. Ein Teil der Reisenden kehrte aus dem Ausland zurück; aber am stärksten besetzt waren die Abteile dritter Klasse, und zwar durchweg von kleinen Leuten und Geschäftsreisenden, die nicht von sehr weit her kamen. Alle waren, verständlicherweise, müde, alle hatten nach dieser Nacht schwere Lider, alle fröstelten, alle Gesichter waren blaßgelb von der Farbe des Nebels draußen.
In einem der Waggons dritter Klasse fanden sich, als es zu tagen begann, zwei Reisende einander gegenüber, beide auf den Fensterplätzen - beide jung, beide so gut wie ohne Ge-päck, beide nicht gerade elegant gekleidet, beide mit ziemlich bemerkenswerten Gesichtern und beide mit dem Wunsch, endlich miteinander ins Gespräch zu kommen. Wenn beide gewußt hätten, was an ihnen in diesem Augenblick bemerkenswert war, dann hätten sie sich natürlich gewundert, daß der Zufall sie sonderbarerweise in denselben Waggon dritter Klasse der Petersburg-Warschauer-Eisenbahnlinie einander gegenüber gesetzt hatte. Der eine war gerade noch mittelgroß, etwa siebenundzwanzig, mit krausem, beinahe schwarzem Haar und kleinen grauen, jedoch feurigen Augen. Seine Nase war breit und platt, er hatte hohe Backenknochen und schmale Lippen, die sich unentwegt zu einem dreisten, spöttischen und sogar boshaften Lächeln verzogen; aber seine Stirn war hoch, wohlgeformt und hielt der unedel entwickelten unteren Gesichtspartie die Waage. (...)
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Es ist ein Vater, der von Dresden nach St. Petersburg (also v o r der Leningrader Epoche) zurückreist, weil er vom Tod seines Sohnes erfahren hat.
??? Autor? Titel? ........................


hl antwortete am 25.11.03 (10:53):

Dostojewskij; 'Der Idiot'


iustitia antwortete am 28.11.03 (00:22):

Gruß und Tusch an hl - aber es ist ein Autor, der den Dostojewski kennt - und dessen Lebensschicksal aufnimmt...
Es ist von J.M. Coetzee, dem diesjährigen Literaturnobelpreistäger, ein erzählerisch starker Roman: "Der Meister von Petersburg". Roman. Fi-Tabu 15136; ein Dostojewski-Roman; aber keine Biografie; eher ein Krimi...)
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Na, als Belohnung:
Die Einleitung zu Fjodor Dostojewskis: Der Idiot.
Kapitel 1: Petersburg

Oktober 1869. Eine Droschke fährt langsam eine Straße im Heumarkt-Bezirk von St. Petersburg entlang. Vor einem hohen Mietshaus zügelt der Kutscher sein Pferd.
Sein Fahrgast blickt zweifelnd auf das Gebäude. »Sind Sie sicher, daß es hier ist?« fragt er.
»Swetschnojer Straße 63 haben Sie gesagt.«
Der Fahrgast steigt aus. Er ist ein Mann in fortgeschrittenen mittleren Jahren, bärtig, mit krummem Rücken, hoher Stirn und dichten Augenbrauen, die seinem Gesicht einen Ausdruck nüchterner Selbstversunkenheit geben. Er trägt einen dunklen Anzug von etwas altmodischem Schnitt.
»Warten Sie auf mich«, sagt er dem Kutscher.
Hinter ihren zernarbten, abblätternden Fassaden wahren die älteren Häuser am Heumarkt noch etwas von ihrer früheren Vor-nehmheit, obwohl die meisten inzwischen zu Mietshäusern für Angestellte, Studenten und Arbeiter heruntergekommen sind. In den freien Räumen zwischen ihnen, manchmal an ihre Seitenwände gelehnt, sind wacklige hölzerne Bauten von zwei oder sogar drei Stockwerken errichtet worden, Behälter, die Verschläge und Kammern beherbergen, die Behausungen der Allerärmsten.
Nummer 63, eines der älteren Häuser, ist zu beiden Seiten von solchen Anbauten flankiert. Sogar über die Fassade zieht sich in halber Höhe ein Gerüst von Balken und Streben, die dem Haus ein umgürtetes Aussehen geben. In den Winkeln der Absteifung nisten Vögel, und ihr Kot befleckt die Fassade. (...)
(Aus: Fjodor Dostojewski: Der Idiot. Übers. Von Swetlana Geier. Fitabu 13510)
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Die Übersetzung "Absteifung" finde ich komisch; gemeint könnte eine "Balkenstütze" oder eine Gerüstsicherung sein, ein Stützpfosten...; aber die Fr. Geier ist schon berühmt für ihre Übersetzungen; ich muss weiterlesen, was aus diesem Wort wird - ob es überhaupt wichtig ist...

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Demnächst mehr St. Petersburgisches...; wer kennt auch solche Texte, Romanhinweise, Gedichte, die St. Petersburg thematisieren; Weihnachten ist von mir alles eingetaucht in St. Petersburger Flair...


Medea. antwortete am 28.11.03 (08:10):

Mir ist dieses Wort "Absteifen" bekannt, im Sprachgebrauch meiner Familie bedeutete es "etwas Haltbarer machen, zur Sicherheit beitragen, auch Abstützen einer wackligen Sache".

Insofern scheint es genau die richtige Übersetzung für diese wackligen, hölzernen Anbauten zu sein.