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THEMA:   Rätseltext vom St. Martinus

 16 Antwort(en).

iustitia begann die Diskussion am 16.10.03 (00:04) mit folgendem Beitrag:

Bald kommt schon der November, mit dem elften Tag...
*
Wer schrieb diesen Text?
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Die Legende vom Heiligen Martin
- Als Bußpredigt-

Wie sehr uns die Nichtchristen beschämen kön-nen, dafür nur ein kleines Beispiel aus der Heiligengeschichte: Martinus, der nachmalige Bischof, war noch Heide, als er jene denkwürdige Begegnung mit dem Bettler hatte, bei der er die Hälfte seines Mantels verschenkte. Wo waren die Christen, die ähnliches getan hätten? Er, der blutjunge Soldat, der erst die Anfänge der christlichen Lehre kennen gelernt hatte, tat, was eines großen Heiligen würdig war. Er vertröstete den Bittenden nicht: warte, bis ich getauft bin. Er sagte nicht: geh hin zu den Reichen. Er sagte nicht: geh zu den Christen! Er sagte nicht: geh hin zur Pfarrcaritas, die wird dir geben, bei ihr werden ja alte Mäntel genug abgegeben. Und wir? Wir Christen, die so oft vom Liebesgebot haben predigen hören? Wir, die wir doch sehr gut wissen, daß es das Haupt- und Herzensgebot ist ? Wir, die wir so viele Gelegenheiten haben, Gutes zu tun? Was tun wir? Wir schlafen! Wir tun nichts! Wir überlassen die Wohltätigkeit den Wohltätigkeitsorganisationen! Wir reden uns heraus damit, daß wir Kirchensteuer zahlen und allenfalls einen Monatsbeitrag an den Caritasverband geben. Wir lassen es seelenruhig zu, daß Menschen, die nicht zu uns gehören, ja die den christlichen Namen sogar verachten oder am Ende hassen, mehr Gutes tun, viel mehr Gutes tun als wir!
Es ist sehr wohl denkbar, ja es ist sicher, daß mancher sogenannte stramme Katholik am Ende beschämt und mit leeren Händen dastehen und die Augen niederschlagen muß vor einem, der aus der Kirche ausgetreten ist, vor einem andern, der nie am Sonntag zur Kirche ging, vor einem dritten, der nie etwas von Christus gehört hat, weil diese barmherzig waren, weil diese die Nächstenliebe übten. Welch eine Schande für uns! Was wird das für ein Erwachen in der Hölle geben ...


Sofia204 antwortete am 16.10.03 (01:16):

ein Klassiker kann es mMn nicht sein,
denn welcher vernünftige Mensch zerteilt seinen Mantel,
er gebe ihn lieber ganz


mart antwortete am 16.10.03 (07:40):

k.K.?


wanda antwortete am 16.10.03 (08:52):

Ich kann nicht lange überlegen, aber spontan weiss ich, dass es irgendetwas von gogol gibt, wo jemand seinen Mantel teilt.


mart antwortete am 16.10.03 (13:54):

Bis auf den letzten Satz "Was wird das für ein Erwachen in der Hölle geben" stimme ich mit allem überein.

Aber von wem diese Predigt? Justitia, Du gibst uns schwere Nüsse zum Knacken!


DorisW antwortete am 16.10.03 (15:19):

Ich würde es gerne ein wenig einzugrenzen versuchen...

Mit Sicherheit ist der Verfasser ein Katholik.

Der Diktion nach ist der Text auch nicht so "alt" wie die vorigen - ich würde sein Alter (das des Textes, nicht des Autors) auf höchstens 50 Jahre schätzen.


wanda antwortete am 16.10.03 (18:12):

ich könnte mich mal wieder ohrfeigen - merke erst jetzt, dass es gar nicht um den halben Mantel geht - entschuldigt ! Das kommt davon, wenn man nicht alles liest.


iustitia antwortete am 17.10.03 (00:42):

Ja, das Alter des Verfassers stimmt; er hat 1963 dieses Buch mit vielen stilistisch unterschiedlichen Reportagen oder Beschreibungen oder Predigten zum "St. Martinus" herausgebracht, in einem katholischen Verlag... Immer ein bißchen spöttisch, immer überraschend phantasievoll und stilistisch vielfältig...
*
Also, ein neuer Text, von derselben Autor "G.R.":
"Auf St. Martinus - Predigt des dialektisch geschulten Geistlichen..."

Suchen wir die Szene in ihrer Spannung und Gespanntheit zu erfassen. Die Polarität, oder sagen wir: Antithetik, was sowohl Entzweitheit wie Verzweigtheit bedeutet, ist es, die den frucht-baren Moment enthält und entlädt. Anders er-gäbe sich nur ein naiv-naturales Agieren, das sich noch nicht zum Rang einer personalen Handlung verdichtet hat. Wir sehen zwei Welten aufeinanderprallen und in diesem Prall aufeinander bezogen: die Welt des Imperiums mit seiner Macht, seiner Disziplin, seiner Kultur, seiner Bewußtheit, seiner Skepsis - und die Welt des Bettlertums, also die Welt des Primitiven, Naturhaften, Vorwissenschaftlichen, Magischen, Unbewußten. Die Welten wechseln einen Blick, und in diesem geschieht Kommunikation, Dialog, Synthesis. Die Simplizität und Ungebrochenheit des Für-sich-Seins ist von jetzt ab verunmöglicht. An ihre Stelle ist die Komplexheit und Intensität, die Kompliziertheit und Differenziertheit einer Ineinssetzung, die Auseinandersetzung ist, ge-treten. Die Konfrontation effektuiert das Hin und Wider des Logos. Damit ist schärfere Konturierung der Polarität, aber auch Komposition, also ein Ineinanderverfließen der Kontu-ren gegeben ...
*
Und noch eine Stilprobe:
St. Martinus - in langatmiger Verkündigung -

Als Martin, ein römischer Reiter, einem Bettler, der an einem Winterabend frierend nah bei Ambianum, einer Stadt, die zugleich römische Festung war, sich aufhielt, begegnete, und den Hilferuf, der ihm da im Namen Christi vorgetra-gen, was darauf schließen läßt, daß der Rufende entweder in dem Reiter einen Christen vermu-tete oder selbst ein Christ war, was in damaliger Zeit, die noch in die Junderte der Verfol-gung, die der Kirche so große Verluste - denken wir vor allem an den Abfall von Tausenden - brachte, fiel, nicht selbstverständlich ist und auf entsprechende christliche Anteile an der Bevöl-kerung dieses Landes, das wahrscheinlich schon, vielleicht von Rom aus, missioniert worden war, zurückzuführen ist, woraus wir wiederum folgern können, daß die Verfolgung, wie fanatisch und ausgeklügelt sie auch inszeniert sein mochte, dennoch - eine Tatsache, der wir im Verlauf der Kirchengeschichte immer wieder begegnen - den Elan der jungen Gemeinde nicht hatte ersticken können, hörte, entledigte er sich seines Mantels, der ihm, da er, wie wir annehmen müssen ...


mart antwortete am 17.10.03 (01:01):

geb. 1912, A.L.?


mart antwortete am 17.10.03 (01:51):

Sorry, schon wieder falsch, ungenau gelesen!


DorisW antwortete am 17.10.03 (08:46):

Ich habe einmal versucht, diesen letzten Bandwurmsatz zu entwirren und seine Schachtelungsebenen deutlich zu machen (siehe Folgebeitrag).

Angesichts dieser (gleichwohl grammatisch korrekten) Gemeinheiten und Zumutungen bin ich nicht sicher, ob ich den Autor wirklich kennen lernen möchte - und wenn, dann nur, um ihn künftig meiden zu können ;-))


DorisW antwortete am 17.10.03 (08:47):

.../Als Martin,
.../...ein römischer Reiter,
.../einem Bettler,
.../...der an einem Winterabend frierend nah bei Ambianum,
.../.../... einer Stadt,
.../.../.../...die zugleich römische Festung war,
.../...sich aufhielt,
.../begegnete,
.../und den Hilferuf,
.../...der ihm da im Namen Christi vorgetra-gen,
.../.../...was darauf schließen läßt,
.../.../.../...daß der Rufende (...) selbst ein Christ war,
.../.../.../.../...was in damaliger Zeit,
.../.../.../.../.../...die noch in die Jahrhunderte der Verfolgung,
.../.../.../.../.../.../...die der Kirche so große Verluste
.../.../.../.../.../.../.../...- denken wir vor allem an den Abfall von Tausenden -
.../.../.../.../.../.../...brachte,
.../.../.../.../.../...fiel,
.../.../.../.../...nicht selbstverständlich ist
.../.../.../.../...und auf (...) Anteile an der Bevölkerung dieses Landes,
.../.../.../.../.../...das wahrscheinlich schon,
.../.../.../.../.../.../...vielleicht von Rom aus,
.../.../.../.../.../...missioniert worden war,
.../.../.../.../...zurückzuführen ist,
.../.../.../.../.../...woraus wir wiederum folgern können,
.../.../.../.../.../.../...daß die Verfolgung,
.../.../.../.../.../.../.../...wie (...) sie auch inszeniert sein mochte,
.../.../.../.../.../.../...dennoch
.../.../.../.../.../.../.../...- eine Tatsache,
.../.../.../.../.../.../.../.../...der wir (...) immer wieder begegnen -
.../.../.../.../.../.../...den Elan (...) nicht hatte ersticken können,
.../hörte,
entledigte er sich seines Mantels,
.../der ihm,
.../.../da er,
.../.../.../wie wir annehmen müssen ...


mart antwortete am 17.10.03 (09:11):

Klingt jedenfalls ähnlich der lateinischen Schachtelsätze aus meiner Schulzeit, die fast unmöglich zu entwirren waren.


iustitia antwortete am 17.10.03 (11:57):

Schöne Analyse zur Syntax....!
Solcher, überzeichnender Mittel bedient sich doch die Parodie - oder...? - Weiter im Text? Bitte sehr:

Sankt Martinus am Missionssonntag

Wie einst dem heiligen Martin strecken sich auch euch heute flehende Hände entgegen, Hände der Heiden, die nach der Wahrheit, nach der christlichen Liebe verlangen, schwarze Hände aus Afrika, gelbe Hände aus Japan, rote Hände aus den Urwäldern von Peru und Brasilien, die klei-nen Hände der unschuldigen Heidenkinder, die schwieligen Hände der schwer arbeitenden Heidenfrauen, die sehnigen Hände der unter ihr schweres Los versklavten Heidenmänner, die zitternden Hände der Alten und Sterbenden, die betenden Hände der Götzenpriester und Medizinmänner, ja auch sie heben sich unbewußt euch entgegen und rufen: »Rettet uns! Helft uns! Gebt uns Anteil an eurem Reichtum!« Ihr wißt sehr wohl, daß nicht in erster Linie gedacht ist an Geld und Geldeswert - wiewohl wir bedenken müssen, daß die Missionsarbeit nicht geleistet werden kann ohne materielle Unterstützung -, sondern daß zunächst an den Reichtum des Glaubens gedacht ist, den die Missionare und Missionsschwestern als unsere Gesandten hinüberbringen sollen über Land und Meer. Der heilige Martin schnitt seinen Mantel entzwei. Oh nicht das wird von euch verlangt, daß ihr euch so berauben sollt. Aber ein Opfer sollte es doch sein. Ihr gebt so viel Geld aus für euer Behagen, ja für unnütze Dinge. Überrechnet es einmal kurz im Stillen und messt daran gnadenvoll die Gabe, die ihr nun opfern wollt für die Weltmission!


DorisW antwortete am 17.10.03 (13:15):

Ach, jetzt spann uns nicht so auf die Folter...!

Mit den Leseproben kommen wir anscheinend nicht weiter...

Vielleicht noch ein paar biographische Hinweise?
Deutscher, Österreicher, Schweizer?


iustitia antwortete am 19.10.03 (10:59):

Gleich gibt es Aufklärung und meine eigenen Fragen zu dem Autor der Martins-Parodien: Gaston RICHOLET...!

Hier noch ein Beispiel:
Gaston Richolet: St. Martinus
Predigt am Missionssonntag

Wie einst dem heiligen Martin strecken sich auch euch heute flehende Hände entgegen, Hände der Heiden, die nach der Wahrheit, nach der christ-lichen Liebe verlangen, schwarze Hände aus Afrika, gelbe Hände aus Japan, rote Hände aus den Urwäldern von Peru und Brasilien, die klei-nen Hände der unschuldigen Heidenkinder, die schwieligen Hände der schwer arbeitenden Hei-denfrauen, die sehnigen Hände der unter ihr schweres Los versklavten Heidenmänner, die zitternden Hände der Alten und Sterbenden, die betenden Hände der Götzenpriester und Medi-zinmänner, ja auch sie heben sich unbewußt euch entgegen und rufen: »Rettet uns! Helft uns! Gebt uns Anteil an eurem Reichtum!« Ihr wißt sehr wohl, daß nicht in erster Linie gedacht ist an Geld und Geldeswert - wiewohl wir bedenken müssen, daß die Missionsarbeit nicht geleistet werden kann ohne materielle Unterstützung -, sondern daß zunächst an den Reichtum des Glaubens gedacht ist, den die Missionare und Missionsschwestern als unsere Gesandten hin-überbringen sollen über Land und Meer. Der heilige Martin schnitt seinen Mantel entzwei. Oh nicht das wird von euch verlangt, daß ihr euch so berauben sollt. Aber ein Opfer sollte es doch sein. Ihr gebt so viel Geld aus für euer Behagen, ja für unnütze Dinge. Überrechnet es einmal kurz im stillen und meßt daran die Gabe, die ihr nun opfern wollt für die Weltmission! ...


iustitia antwortete am 20.10.03 (11:05):

RICHOLET - ein gesuchter Unbekannter....

Die Texte stammen aus: Gaston Richolet: Kostümprobe mit einem Heiligen. Variationen über ein geistliches Thema. Würzburg 1963: Echter-Verlag.
Über den Verfasser ist nichts bekannt geworden. Wenn er ein Geistlicher war, hatte er mehr Mut und Stil, als es normalerweise bei einem katholischen Priester gedudet wird. Der letzte Text "Erschütterung" könnte auf eine Lösung von den katholischen Zwangstugenden (geistig und politisch nix zur Kenntnis nehmen, nix Kreatives, nix Kritisches verlauten lassen) hindeuten; er könnte aber auch fiktiv sein, um einen solchen normalen "Abgang" zu demonstrieren.
Vorige Woche ist es mir gelungen, eine zweite Veröffentlichung von "Richolet" zu bestellen (bei zvab.com; es gibt noch ein weiteres Exemplar dort), die postalisch noch nicht angekommen ist: G. Richolet: "Der Heilige und die Nonne. Spiel mit einem Goethetext".
Wenn ich dort Angaben finde über Autor und andere Themen oder Veröffentlichungen, melde ich mich wieder.
Ich halte "Richolet" also für einen Autor unter Pseudonym, der in der Konzilszeit (unter Papst Johannes XXIII oder Paul VI) die Chance sah, humorvoll auf geistige Untugenden, auf Überholtes, auf traditionell Zwanghaftes hinzuweisen.
(Es gibt beim Echter Verlag einen anderen Humoristen, der m.E.s aber nicht diese Tiefe, diese Dimension des Satirischen hat, dass man hinter ihm Richolet vermuten kann: den Pater Seipolt, mit oberflächlich witzig Komischen....)
Ich bin für jeden Hinweis auf Richolet dankbar; an den Echter Verlag habe ich bisher noch nicht geschrieben, da ich glaube, dass dort die Geschichte um diesen Mann geheim gehalten werden soll.
*
Richolet: Erschütterung
(Schlußtext aus: "Kostümprobe mit einem Heiligen")

Hundertmal wohl habe ich euch die herzbewegende Geschichte vom heiligen Martin erzählt, aber es ist bis heute noch nichts dabei herausgekommen. Ihr hört nur mit halbem Ohr zu, laßt die Rolläden herunter und denkt: kennen wir ja längst. Wenn ich fertig bin, guckt ihr auf die Uhr, unterdrückt ein Gähnen und laßt alles beim alten.
Aber ist es nicht eine Schande, daß in einer Gemeinde, die sich christlich nennt und noch dazu einen solchen Patron hat, so wenig vom Geist des heiligen Martin zu spüren ist ? Statt einander gut zu sein, seid ihr einander bös. Statt einander zu schenken, raubt ihr einander aus. Das Schwert des Wortes gebraucht ihr nicht, um das Gute mitzuteilen, sondern um zu verwunden, zu verärgern, zu verketzern und zu verleumden. Der Mantel der Liebe, der die Menge der Sünden deckt, ist reif fürs Heimatmuseum. Ja, eure Fehler und Lieblosigkeiten, die wißt ihr geschickt zu bemänteln, aber dem andern reißt ihr den Mantel seines guten Rufes herunter, so oft ihr nur könnt. Schon vor der Kirchentür, ihr könnt es gar nicht erwarten, geht es los, besonders die Frauen. Na, und daheim gehts weiter im selben Text: der Vater knottert, die Mutter keift, die Oma schimpft, die Kinder geben patzige Antworten, und das alles zehn Minuten nach dem Hochamt. Kein Wunder, wenn man nicht einmal richtig aufgepaßt hat. Meint ihr vielleicht, es wäre ein Vergnügen, bei euch Pfarrer zu sein? Ich hab es dem Bischof auch in der letzten Woche gesagt, daß ich das nicht mehr lang mitmache. Ich habe mich weggemeldet.