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THEMA:   Mörike im Frühling unterwegs

 23 Antwort(en).

Antonius begann die Diskussion am 01.05.03 (14:33) mit folgendem Beitrag:

Eduard Mörike betritt im Jahre des besonderen Frühlings 1971 die Redaktion der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und legt sein am 9.März 1829 geschriebenes Gedicht einem Redakteur vor. "Mein Herr, könnten Sie wohl dieses Gedicht drucken, im Feuilleton?"
Manfred Hausin, ein fleißiger, bescheidener Redakteur aus dem Besten-Jahrgang 1951, nimmt das akurat in Sütterlin abgefaßte, etwas angegilbte Blatt vor und liest murmelnd - und rückt sich zurecht im Sessel - und schaut den Besucher genauer an - und wuselt in seinem langen Haar - und liest lauter:

"Lied vom Gifttod

Gifttod läßt sein Würgeband
einfach flattern durch die Lüfte;
schwere, unbekannte Düfte
streifen unheilvoll das Land.
Gifttod freut sich schon,
will gar balde kommen. - "

"Aber mein Herr, ich glaube das Gedicht zu kennen: Wie endet es denn noch..? - Warte Sie, ich weiß es noch: ' Horch, vorn fern ein leiser Harfenton?"
Mörike nickt beifällig und mustert den Redakteur intensiver, fast gar intim: "Nicht schlecht, mein junger Herr. Dem Reime nach, ja! Aber passt das denn zum Titel?"
"Wollen Sie da noch mehr geändert haben? - Ich habe bei meinem Deutschlehrer Marius Drissen den herkömmlichen Text -ah, Sie kennen ihn natürlich! - Dürfte ich denn auch noch die zwei letzten Zeilen variieren...?"
Herr Mörike schmunzelt: "Nun, versuchen Sie es; Sie scheinen ja noch ungebildet zu sein..."
Und Herr Hausin schreibt schwungvoll in den Computer, den es 1971 noch gar nicht gab:
"- Horch, von nah ein leiser Sensenton!
Gifttod, ja du bist's!
Dich hab ich vernommen!"
*
Schweigen und Verwunderung auf beiden Seiten des Schreibtisches.
"Sie verstehen", setzt Mörike an: "Ich weiß wohl, Herr Hausin, das können Sie nicht unter meiner Signatur abdrucken. Setzen Sie doch Ihren Namen hierher -" und er zeigt auf die Titelei.
*
Und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien am 6.9.1971:

Manfred Hausin:
Lied vom Gifttod

Gifttod läßt sein Würgeband
einfach flattern durch die Lüfte;
schwere, unbekannte Düfte
streifen unheilvoll das Land.
Gifttod freut sich schon,
will gar balde kommen.
- Horch, von nah ein leiser Sensenton!
Gifttod, ja du bist's!
Dich hab ich vernommen!
*
Auch ein täglicher Trost sei uns gewährt; also: Goethe über das Parodistische:
" ... daß Knaben, denen ja doch alles zum Scherze dienen muß, sich am Schall der Worte, am Fall der Silben ergötzen, und durch eine Art von parodistischem Mutwillen den tiefen Gehalt des edelsten Werks zerstören."
(In: Dichtung und Wahrheit III, 11.)
*
Aber, mhm, ein anderes Trostwort Goethes, das hier besser passen möchte? Na, wir wollen nachschauen:
J.W.v.G.: "Hier ist nicht bedacht, daß man vor allen Dingen bei Beurteilung solcher parodistischen Werke den originalen, edlen, schönen Gegenstand vor Augen haben müsse, um zu sehen, ob der Parodist ihm wirklich eine schwache und komische Seite abgewonnen, ob er ihm etwas geborgt, oder, unter dem Schein einer solchen Nachahmung, vielleicht gar selbst eine treffliche Erfindung geliefert? (Dichtung und Wahrheit 11,7)


Lisa1 antwortete am 01.05.03 (15:19):


Von lauter Geiste die Natur durchdrungen,
Wie würde sie nicht durch den Geist bezwungen?
Wenn sich getrennte Kräfte wiederkennen,
Auf ein Erinnrungswort entbrennen,
Die Krankheit weicht, das Blut sich plötzlich stillt:
Sie leugnen's, ob es gleich, du weißt, kein Wunder gilt.
Laß die Schwachmatiker nur immer räsonieren,
Und rechn' es ihnen allzu hoch nicht an!
Denn, wenn sie Gott und die Natur bornieren -
Es streckt sich keiner länger als er kann.

:-))


Siegi antwortete am 02.05.03 (11:57):

Eigenbau @Lisa :-)) ?


Ich frage mich, wieso sich so Wenige an Antonius angeschlagenen Themen beteiligen?
Es gibt zwei Möglichkeiten:

Man greift an wenn man sich dazu berufen fühlt, oder man ignoriert jemand, um ihn loszuwerden.

Erstere Möglichkeit bedarf wohl einer inneren Stärke. Man muss an sich und das was man schreibt auch glauben!

Die zweite Lösung ist wohl mehr eine politische, ein einfacher und sicherer Weg, wenn auch erbärmlich, doch zum heutigen Zeitgeist passend *fg*.

....also "fragt" Zarathustra, wo ist Eurer Glauben denn, wenn ihr ihn nicht verteidigen wollt. Wo ist sie die innere Sicherheit, das moralische Recht der Ehrbaren, der Guten und Besseren? Gewiss, ihr trachtet nicht nach Ruhm, gar selbstlos ehrlich Euer tun, tja, hm...
....also "sprach" Zarathustra, so wollt ihr Eure Welt gestalten, so hilflos und schwach, mit Küsschen und Liebgeblinzel, innerlich tobend und Gifte erzeugend, aber zu "gut" um zum Schwert zu greifen.

Er kennt sie gut, diese Art von Weltveränderern.


Beste Grüsse


RoNa antwortete am 02.05.03 (12:03):

@ Siegi,
wir wollen nur nicht verar... werden.
Der Möricke mit dem blauen Band schreibt sich doch mit "ceka".


Siegi antwortete am 02.05.03 (12:49):

Dank Dir, @RoNa :-))

Mit ceka also.


Beste Grüsse


Antonius antwortete am 02.05.03 (21:50):

NO, Mörike - nix mit "ck". Diese Schreibweise hat nur eine Seitenlinie der Mörikes mitgemacht. Und Mörike selber ganz wenige Male. Nach der Duden-Rechtschreibung ab 1880 ist es bei "Mörike" geblieben.
Über weitere Vermutungen - wie von SIEGI - na, ich danke! RoNa - verar... habe ich nie als Erster. Aber es gibt Themen und Meinungen und Spezialkenntnisse, die einige wegputzen wollen. Bis Karl dann e-mailt!
*
Ich glaube auch, dass die meisten nur ihre "Klassiker" schön aufgemacht sehen wollen - und weitere kritische oder parodistische Kontrafakturen als ungemütlich, auch als ungewöhnlich - sozusagen als "illegitim" empfinden. Obwohl solche Texte der Wirkungsgeschichte viel mehr über Autoren und ihre Leseer veraten, als man vermuten kann.
"Er ist's" ("Frühling läßt...") ist das am häufigsten in der deutschen Literaturgeschichte "beachtete" Gedicht. natürlich nicht immer geschmackvoll, weil häufig kitschig. Hausins Text hat die schöne, noch romantische Frühlingsstimmung von der Umweltverschmutzung her für seine Zeit verarbeitet. Und mit dazu beigetragen, dass unsere Umwelt heute viel "natürlicher" aussieht als vor 30 Jahren. (Die Kontrafaktur steht auch in Lesebüchern.)


RoNa antwortete am 03.05.03 (08:51):

Na, dann mag es noch andere Eduards in den Seitenlinien der ceka's geben.
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Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen
Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist's!
Dich hab ich vernommen!

So lautet das Original.
"Hausins Text hat die schöne, noch romantische Frühlingsstimmung von der Umweltverschmutzung her für seine Zeit verarbeitet" (Antonius)
Vielleicht hat ja Hausin seinen Geruchssinn verloren. Oder er ist praesuicidal. Oder er denkt, er sei Shakespeare im Expressionismus.

@ Antonius,
um auf Deinen ersten Eintrag zurückzukommen:
worüber willst Du eigentlich diskutieren?


Antonius antwortete am 03.05.03 (11:26):

Diskussion - nicht auf dem Niveau von Zumutungen..
Ja, über Wirkungsgeschichte und Veränderung von Gefühlen und Lebensbedingungen.
E.M. hat die erste "Frühlings"-Fassung ein krankes Mädchen singen lassen, im Roman "Maler Nolten". Und er hat auch kritisch-satirische Gedichte geschrieben.
Da braucht keiner - und schon gar nicht Geheiß - Suizid zu begehen, wenn er sich mit einem Dichter auseinandersetzt.
(Darüber möchtest du nicht disku....?)

Zum Beispiel - für heute - diese Autoren...

Rainer Brambach:
Das blaue Band...

Das blaue Band, wie Mörike es sah,
flatternd in den Lüften, wo?
Ich sehe einen Kondensstreifen
quer über den Himmel gezogen -
aber die Amsel ist abends immer da
auf dem First gegenüber singt sie ihr Lied
unsäglich -
(R.B.: Auch im April. Gedichte. Zürich 1983. S. 17)

Volker Braun: Pressefest

Fortschritt läßt sein rotes Band
Wieder flattern durch die Lüfte
Süße wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.

Lüfte fett von Rostbratwürsten.
Bierbudiken dicht umlebt.
Diese Zeit macht neues Dürsten
Weil sie neue Fahnen webt.

Auf Plakaten stillvergnügte
Helden sichtlich des Elans
Welcher mauerte und pflügte:
Stoßkraft des Zentralorgans.

Festlich, festlich muß es sind.
Öffnen sich der Menschheit Mieder?
Frieda macht ein Stieleis nieder.
Blaue Fahnen, aus dem Spind!

Hier ist Wahrheit: hier ist Wonne.
Der Rest Schweigen, wie gehabt.
Allen Welt und jedem Sonne
Singt das Lied. Der Rest haut ab.

Schieber stehen im Spagat
Grinsend auf der grünen Grenze -
Drüben hat man den Salat.
Hier die Ährenkränze.

Mädchen träumen schon im Arm
Wollen balde kommen.
Fortschritt, ja du bists! mein Schwarm.
Dich hab ich vernommen.
(V. B.: Texte in zeitlicher Folge. Band 3. Halle, Leipzig 1990, S. 52f.)

*
Und heute Abend?
Mörike-Kontrafakturen von Karl Krolow oder Werner Bucher?


RoNa antwortete am 03.05.03 (14:04):

Mach weiter so.


Siegi antwortete am 03.05.03 (19:31):

Wunderschön und so zeittreffend :-)


Antonius Reyntjes antwortete am 03.05.03 (23:27):

RoNa - un/interessiert...? Mit drei Worten...?

SIEGI: Also noch einige Texte von Dichtern, die den Mörike-Gleichklang - ürigens mit allen Wahrehmung und Bildern sehr natürlich) schmecken, riechen, sehen, ahnen könneen: "Veilchen träumt ja schon, wolle balde kommen"; die Hornveilchen, die Mörike meint, wollen ihr volles junges Gesicht zeigen, derweil sie noch träumen und zwar morgens kurz vor dem Erwachen - und gleichzeitg bieten sie eine Synästhesie; deshalb konnte Mörike Farben als Musik, Musik als Farben, Gesprochenes als Musiziertes erleben.
Seine Metaphern zeigen häufig seine besonderen Sinnesleistungen.
Also:

Karl Krolow:
Neues Wesen

Blau kommt auf
wie Mörikes leiser Harfenton.
Immer wieder
wird das so sein.
Die Leute streichen
ihre Häuser an.
Auf die verschiedenen Wände
scheint die Sonne.
Jeder erwartet das.
Frühling, ja, du bist's!
Man kann das nachlesen.
Die grüne Hecke ist ein Zitat
aus einem unbekannten Dichter.
Die Leute streichen auch
ihre Familien an, die Autos,
die Boote.
Ihr neues Wesen
gefällt allgemein.
(In: K.K.: Alltägliche Gedichte. Frankfurt/M. 1968. S. 76.)


Siegi antwortete am 04.05.03 (00:00):

@antonius,


hab besten Dank für Deine genaue Erklärung,


beste Grüsse


RoNa antwortete am 04.05.03 (07:52):

Mörike ohne ceka war Synaesthetiker? Woraus schließt Du das? Über diese Veranlagung war damals noch rein gar nichts bekannt.
Ich bin auch Synaesthetiker. Und daher jetzt wieder "interessiert".


Emrich/Schneider/Zedler: "Welche Farbe hat der Montag?"
Nach meiner Meinung ein Buch, wie es eben Leute schreiben, die keine Synaesthetiker sind.


RN antwortete am 04.05.03 (09:59):

Friedrich Freiherr von Hardenberg (1772-1801)

Es färbte sich die Wiese grün
Und um die Hecken sah ich blühn,
Tagtäglich sah ich neue Kräuter,
Mild war die Luft, der Himmel heiter.
Ich wußte nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Und immer dunkler ward der Wald
Auch bunter Sänger Aufenthalt,
Es drang mir bald auf allen Wegen
Ihr Klang in süßen Duft entgegen.
Ich wußte nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Es quoll und trieb nun überall
Mit Leben, Farben, Duft und Schall,
Sie schienen gern sich zu vereinen,
Daß alles möchte lieblich scheinen.
Ich wußte nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

So dacht ich: ist ein Geist erwacht,
Der alles so lebendig macht
Und der mit tausend schönen Waren
Und Blüten sich will offenbaren?
Ich wußte nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Vielleicht beginnt ein neues Reich.
Der lockre Staub wird zum Gesträuch
Der Baum nimmt tierische Gebärden
Das Tier soll gar zum Menschen werden.
Ich wußte nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

(und so weiter)


pilli antwortete am 04.05.03 (10:36):

@ RN

"grüngraublaubräunlichgrünweißgrau" (ironie)

ein wirklich gutes smiley fehlt immer noch :-)

pilli jetzt schmunzelnd, eigentlich hatten mich die "pferde" aufmerksam gemacht :-)

das thema fand ich seinerzeit sehr spannend und wichtig.
es ist m.e. nach wie vor aktuell.


Hanne antwortete am 04.05.03 (11:18):

Wer glaubt, sich Synästhesie zu eigen machen zu können, endet im Wahnsinn.
So las ich einmal von einem, der mit Ohropax in die Stadt gehen mußte (sagte er), weil sich jedes kleinste Geräusch in seinem Gehirn als großes Musikwerk darstelle.


Antonius antwortete am 04.05.03 (11:55):

Diese Empfindlichkeit, an der auch Mörike litt, die er aber nur künstlerisch verarbeitete für die Metaphorik und als Abfolge gleichzeitiger Wahrnehmungen gestaltete, nannte sich Anfang und Mitte des 19. Jhs. "Idiosynkrasie" - und war nicht in unserem Sinne erforscht oder erforschbar und galt als Nervenleiden. Für die Farbe "Blau" (ja auch in dem "blauen Band") hat Mörike sich eine eigene Poesie gschaffen, wie schon zuvor Novalis.
Das für literarisch Interessierte wichtige Buch von Silvia Bovenschen heißt "Über-Empfindlichkeit. Spielformen der Idiosynkrasie" (Suhrkamp 2000).
Das Buch geht von Definitionen und Beschreibungen bei Kant, Lichtenberg bis Nossack und Adorno und N. Sarraute. Als Leitmotto hat S.B. Valérys Satz gewählt: "Ich bin nicht immer meiner Meinung"; geht also weit über Farbenstörungen oder Metaphernspiele hinaus.
Für Mörike ist das Thema noch nicht vollständig behandelt, da die persönlichen Dokumente M.s innerhalb der großen Werk- und Briefausgabe (bei Klett) noch nicht erschienen sind. Zwei Bände sind da eigens geplant, für Gutachten, Bewertungen und Briefe, ob pastoraler oder medizinischer Art; das sind dann erst die Materialien...

Internet-Tipp: https://www.reyntjes.de


RoNa antwortete am 04.05.03 (14:23):

Wenn M. "ohne ceka" idiosynkratisch war, d.h. also überempfindlich und von Abneigung erfüllt,
dann kann man sich nur glücklich preisen, Synaesthetiker zu sein.
S. ist eine große Lebensbereicherung, unter der man keineswegs leidet, und hat nichts mit "Empfindlichkeit" zu tun. Gemeinsam ist I. und S. lediglich, daß beide angeboren sind.

Ein S. kann sich z.B. seine Scheckkarten-Geheimnummer ins Portemonnaie kleben. Z.B. 6672 = für mich rot rot blau weiß.


Aber man versuche lieber nicht, das jemandem zu erklären, der kein S. ist, d.h. alles (auch das Wort "Montag" - s. Emrich - eben nur schwarz "sieht".


--- antwortete am 04.05.03 (15:12):

Wilhelm Busch
Idiosynkrasie
Der Tag ist grau. Die Wolken ziehn.
Es saust die alte Mühle.
Ich schlendre durch das feuchte Grün
Und denke an meine Gefühle.
Die Sache ist mir nicht genehm.
Ich ärgre mich fast darüber.
Der Müller ist gut; trotz alledem
Ist mir die Müllerin lieber.


Lisa1 antwortete am 04.05.03 (15:15):


Hallo RoNa,

erzähl doch bitte etwas mehr zu diesem Thema,
es würde mich sehr interessieren.


RoNa antwortete am 04.05.03 (16:31):

Hallo Lisa1,
bei Google öffnen sich 6 770 Seiten.
Inzwischen sind wir schon sehr weit von Möricke/Mörike abgewichen. Auch ist die Frage, ob sich hier sonst noch jemand dafür interessiert.

Interessant ist vielleicht noch, daß meine beiden Brüder keine Syaesthetiker sind, wohl aber meine beiden Kinder. Keiner aber kann die Geheimzahlen aus des anderen Farben lesen, weil jeder jede Ziffer/Wort etc. in anderen Farben "sieht" als der andere.


Medea. antwortete am 04.05.03 (17:51):

Liebe RoNa -
ich bin fasziniert, aber gleichzeitig auch hilflos - habe niemals vorher von Synaesthetikern oder Idiosynkrasie gehört.
Ist solches häufig verbreitet, können Eltern überhaupt erkennen, wenn ihre Kinder d a s ererbt haben - kann mir mit meinem simplen Verstand auch leider nicht vorstellen, wie man Zahlen in Farben sehen kann. Auch denke ich, daß es doch viel mehr an Zahlen gibt als an Farben zur Verfügung stehen. Muß mal versuchen, mich mit diesem Phänomen zu beschäftigen.


Hanne antwortete am 05.05.03 (09:18):

Gebt mal im ST-Google das Wort "Synaesthesie" ein. Demnach ist hier im ST schon einmal darüber diskutiert worden.


Antonius antwortete am 09.05.03 (06:09):

Zwei gefälligere Mörike-Widmungsgedichte:
(Für RoNa...?)

Mascha Grüne:
Wonnemonat

Der Killer des Unbewußten
als Stockrosenkönig
blutig verendet
der unterdrückte Eros
Drache zwischen den Beinen
haarigen
lieblosen Patriarchats
und das im Wonnemonat
in dem kein blaues Band
mehr flattern kann
denn Mörikes Lüfte
sind vergiftet
Anilinfarben geben
den Frühling nicht wieder
und unter schwarzen Augen
blühen lediglich
die blauen Ringe
der Nächte
in denen Getränke abfließen
stundenlang

Wie raschelndes Laub, sagst du,
wie raschelndes Herbstlaub im Mai.
Kein Liebesgebrüll,
keine Energie aus Staus
keine vibrierende Knie: Der
Heilige Michael hat einfach
nix gefunden bei mir
als ein Eidechslein:

Und der Mai ist für mich
der Monat der Waschtage
(Nach einem Bauernbild des Sankt Michael)

In: Mörikes Lüfte sind vergiftet. Lyrik aus der Frauenbewegung 197o - 1980. Gesammelt von Christel Göbelsmann. Bremen 1982. S. 172.

*

Karl Zettel:
Dem hingegangenen schwäbischen Sänger Mörike

Wir stehn an Deinem frischen Grabe,
Umkost von Lenz und Fliederduft;
Die jungen Blumen Deines Hügels
Durchspielt die würzigsüße Luft.

Der Frühling hat dich heimgerufen,
Du treuer, sangesmüder Schwan,
Doch Deine goldnen Lieder zogen,
Nicht auch hinab die dunkle Bahn.

Was aus des Herzens Dämmerungen
Dir an die heil’gen Lippen stieg,
Das klingt durch tausend Herzen wieder
Und fordert einen reichen Sieg.

Denn Deiner heitern Dichtung Welle
Spült leicht den Schmerz der Seele fort
Und wogt dann im gefeiten Reiche,
Wie sanfte Flut im stillen Port.

Schlaf wohl, Du letzter Schwabensänger
Aus jener ruhmbekränzten Zeit!
Schon bieten Uhland Dir und Kerner,
O Freund, unsterbliches Geleit.