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THEMA:   Ein schlechter Sommer - 1867

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Antonius begann die Diskussion am 21.04.03 (09:10) mit folgendem Beitrag:

Hermann Sudermann beschrieb das Notjahr 1867 so intensiv, wie ich mich in der Literatur selten an eine Naturkatastrophe - hier den extrem nassen und kalten Sommer - erinnert gefühlt habe. Wer kennt solche Umwelt-Beschreibungen, ob aus der Meteorologie oder der Literatur?
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H. S.: Das Notjahr

Zu jener Zeit stand's schlimm um meines Vaters Haus. Die Leute wollten sein Braunbier nicht trinken. Es war nicht schlechter als das der anderen Brauereien, aber er ermangelte der Fähigkeit, sich und sein Produkt in Szene zu setzen. Da war sein Konkurrent, Herr Münsterberg aus Werden, schon ein ganz anderer Kerl. Wenn der mit seinen flotten Vatermördern und der prallen, perlengestickten Zigarrentasche von Gasthaus zu Gasthaus fuhr, anpreisend und überredend, dann hätte ich den Wirt sehen mögen, der seinen Lei-stungen widerstand. Und wenn morgens der Werdener Bierwagen, mit Tonnen bergehoch beladen, auf der Chaussee an uns vorüber-fuhr, dann standen wir alle angstvoll hinter der Gardine, und Mama preßte die Hand aufs Herz und ging schweigend nach hinten.
Und dann kam das schwerste aller Jahre - dann kam das Notstands-jahr.
Das war im Sommer 67, da gab es überhaupt keine Sonne mehr. Vom Juni an Tag für Tag nichts wie sickernder, suppender, trom-melnder Regen. Das Erdreich weichte auf, der Roggen reifte nicht, die Erntefelder sahen aus wie Lehmtennen, denn alle Halme lagen
und braun und feuchtglänzend am Boden. Und das Schlimmste von allem: die Kartoffeln verfaulten. Was man zu Ende August als genießbar dem Boden entzog, hatte Haselnußgröße und war mit Propfen durchsetzt, die gingen querdurch bis ans andere Ende. Erst gegen Mitte September stellte zugleich mit dem Herbstreif blauer Himmel sich ein - aber da war schon alles verloren. Das hieß Hun-gern, und unter Umständen hieß es Verhungern. Wer hätte in sol-chen Zeiten, in denen jeder Groschen ein Schatz ist, Bier trinken mögen! Darum wurde auch im Sudermannschen Hause Schmalhans Küchenmeister. Freilich - wenn ich euch heute erzähle, daß die But-ter vom Tische verschwand, daß die Fleischtage rar wurden und daß die Semmeln zur Sonntagskost aufstiegen, so macht euch das verflucht wenig Eindruck, denn wir haben Schlimmeres kennengelernt, und die meisten stecken noch dick mitten drin. Aber vergeßt nicht, daß das, was wir heute erleben, unsern Enkeln, falls sie inzwischen nicht ein-gegangen sind, manche Gänsehaut über den Leib jagen wird. Wer heute Jungmädchen ist, braucht bloß in die Jahre zu kommen, um als Märchentante die Kinder das Gruseln zu lehren, nur daß ihre Mär-chen einst härteste Wirklichkeit waren.
Und es gab damals auch viele, die waren noch weit ärmer als wir. Im Chausseegraben lagen sie familienweise und konnten vor Schwäche nicht weiter. Die Tür stand tagsüber von Bettlern nicht still, und wenn man ihnen das übliche Zweipfennigstück gab, so schimpften sie, denn Kupfer kann man nicht essen. An den Markttagen war es besonders schlimm: dann belagerten sie die Haustür und prügelten sich um den Eintritt, und meine Mutter teilte unser Letztes mit ihnen. Die Kartoffeln, so schorfig, so klein wie sie waren, wurden in Kesseln gekocht und an die Draußenstehenden verteilt, die sie noch siedendheiß und mit den Schalen verschlangen.
In den Hausflur ließen wir sie ungern, denn was von ihnen zurückblieb, machte sich tagelang juckend bemerkbar. Jeden Abend gab's große Jagden in Hemden und Beinkleid, und hätte man damals schon gewußt, wo der Hungertyphus eigentlich herstammt, Mama wäre noch viel ängstlicher gewesen.
Als der harte ostpreußische Winter hereinbrach, wurde das Elend erst recht groß. Wahrhaftig, die eigene Not verschwand hinter der, die sich schlotternd und zähnefletschend tagtäglich rund um uns auftat. Und die Not erst, die sich nicht mehr sehen ließ! - Mama war tapfer wie immer. Mit den anderen Vorsteherinnen des Frauenvereins fuhr sie von Dorf zu Dorf, lindernd und helfend überall, wo Hilfe und Linderung gerade noch als Wunder vom Himmel herab-fallen konnten.
(Aus: H.Sudermann: Bilderbuch meiner Jugend. 1922)