Archivübersicht | Impressum

THEMA:   Gorkis 135. Geburtstag

 2 Antwort(en).

Antonius begann die Diskussion am 25.03.03 (10:31) mit folgendem Beitrag:

Die große Geschichte - wie endet sie in unseren Tagen...?
Gorkij (28.03.1898 - 18.06.1936) erzählte von einem Mädchen in (....?)
Maxim Gorkij: DAS MÄDCHEN

Eines Abends lag ich, müde von der Arbeit, auf der Erde an der Mauer eines grosses Steinhauses, eines traurigen alten Gebäudes; die roten Strahlen der untergehenden Sonne legten die tiefen Risse und den verkrusteten Schmutz an seinen Wänden bloß.
Im Inneren dieses Hauses hasteten - wie Ratten in einem dunklen Keller - halbverhungerte, schmutzige Menschen umher, deren Körper nur notdürftig mit Lumpen bekleidet und deren dunkle Seelen ebenso nackt und schmutzig waren wie ihre Körper.
Aus den Fenstern dieses Hauses drang, langsam und dick wie grauer Rauch über einer Brandstätte, das monotone Summen des Lebens, das in ihm flackerte. Ich hörte dieses mir seit langem bekannte, aufgeregte und verzagte Sum-men und nickte ein, da ich keinerlei neue Laute zu hören erwartete.
Aber dann erklang irgendwo in der Nähe, hinter einem Haufen leerer Fässer und zerbrochener Kisten hervor, eine leise, zärtliche Stimme:
„Schlaf, Liebling mein! Schlaf ein, Kindchen, schlaf ein!
Schlaf, schlaf, schlaf,
Schlaf, Mädchen mein ...“
Ich hatte bis dahin nicht gehört, dass die Mütter in diesem Haus ihre Kinder so liebevoll in den Schlaf wiegten. Ich stand leise auf und schaute hinter die Fässer. In einer der Kisten sass ein kleines Mädchen. Es hielt den blonden Krauskopf tief geneigt, schaukelte langsam hin und her und summte nachdenklich vor sich hin:
«Mach schon zu die Äuglein dein,
«Schlummer ein, schlummer ein ... »
In den kleinen, schmutzigen Händen des Mädchens lag ein hölzerner, in einen roten Lappen gewickelter Löffelstiel, den es mit grossen traurigen Augen anblickte.
Es waren hübsche, klare, weiche und keineswegs kindlich
traurige Augen. Als ich ihren Ausdruck sah, vergaß ich den Schmutz auf dem Gesicht und an des Mädchens Händen.
Über ihm wogten - gleich Wolken von Ruß und Asche - Schreie, Schimpfen, das Lachen von Betrunkenen und Weinen in der Luft, ringsum auf der schmutzigen Erde war alles vernichtet, zerbrochen, und die Strahlen der Abend-sonne, die die Trümmer der Kisten und Fässer mit rotem Licht übergossen, verliehen ihnen eine sonderbare, unheil-drohende Ähnlichkeit mit den Resten eines grossen, von der schweren und rauhen Hand der Armut zerstörten Organismus.(Fortsetzung folgt...)


Antonius antwortete am 25.03.03 (10:34):

Gorkij: Das Mädchen
(2. Teil)

Ich machte eine unbedachte Bewegung; das Mädchen sah auf, erblickte mich, und seine Augen verengten sich miss-trauisch; es schrumpfte, wie eine Maus beim Anblick einer Katze, ängstlich in sich zusammen.
Ich schaute lächelnd in ihr schmuddliges, trauriges, schüch-ternes Gesicht; ihre Lippen waren fest aufeinandergepresst, und ihre schmalen Augenbrauen zuckten.
Sie stand schließlich auf, strich sachlich das zerrissene, einst rosa Kleid zurecht, steckte ihre Puppe in die Tasche und fragte mich mit klingender, klarer Stimme:
«Was starrst du?»
Sie mochte elf Jahre alt sein; schmal und mager, musterte sie mich aufmerksam, und ihre Augenbrauen zitterten fortwährend.
«Nun», fuhr sie nach einer Pause fort, «was willst du von mir?»
«Nichts, spiel nur, ich geh schon ... », entgegnete ich.
Da tat sie einen Schritt auf mich zu, verzog geringschätzig das Gesicht und sagte laut und deutlich: «Komm mit ... für fünfzehn Kopeken ... »
Ich verstand nicht gleich und zuckte nur, wie ich mich noch erinnere, im Vorgefühl von etwas Abscheulichem zu-sammen.
Sie trat unmittelbar auf mich zu, schmiegte die Schulter an meine Seite und fuhr, das Gesicht abgewandt, so dass ich es nicht sehen konnte, mit dumpfer, gelangweilter Stimme fort: «Also gehen wir, oder was ist? Ich habe keine Lust, mir jemand auf der Strasse zu suchen. Ich bin auch nicht danach angezogen: Mutters Liebhaber hat mein Kleid vertrunken. Los, komm schon!»
Ich stieß sie wortlos, aber sanft zurück, während sie mir mit einem misstrauisch befremdeten Blick in die Augen sah; sie verzog sonderbar die Lippen und wiederholte, mit weit geöffneten Augen irgendwohin nach oben blickend, gedämpft und mit gelangweilter Stimme: «Hab dich nicht so! Du glaubst wohl, ich werde schreien, weil ich noch klein bin? Keine Angst, das hab ich früher getan ... während ich jetzt ... »
Sie vollendete nicht und spie gleichgültig aus. Ich ließ sie stehen und ging; ich trug in meinem Herzen ein böses Entsetzen und den traurigen Blick der klaren Kinderaugen mit mir davon.
*
(Aus: Russische Kinder. Hrsg. v. Ilma Rakusa u. Hugo Schmidt. Zürich 1979: Arche Verlag. S. 118 - 120)


hl antwortete am 25.03.03 (10:45):

Gorki. Maxim (l868-1936)

Früh elternlos, verdiente Maxim Gorki seinen Lebensunterhalt als Gelegenheitsarbeiter in vielen Berufen. Seine bitteren Erfahrungen beschrieb er in den autobiographischen Romanen Meine Kindheit (Detstvo, 1913), Unter fremden Menschen (V ljudjach, 1914) und Meine Universitäten (Moi universitety, 1923). Unter dem Pseudonym "Gorkij" (d. i. der Bittere) veröffentlichte der als Aleksej Peškov geborene Autor 1892 seine erste Erzählung Makar Tschudra. Gorki arbeitete zunächst als Zeitungsredakteur; 1898 erschien in hohen Auflagen die erste Gesamtausgabe seiner Erzählungen in zwei Bänden, die ihn weithin bekannt machte. Schon 1898 wegen revolutionärer Verbindungen in Polizeigewahrsam, wurde er 1901 wieder verhaftet. Inzwischen war er so berühmt, daß eine Protestaktion, an der sich auch Lev Tolstoj beteiligte, zu seiner Entlassung führte, zumal die Ärzte feststellten, daß er an Tuberkulose erkrankt war. Mit dem Poem Das Lied vom Sturmvogel (Pesnja o burevestnike, 1901) wurde der Dichter zum Symbol der Revolution.
Dramatisierte Fassungen seines ersten Romans Foma Gordeev (1899), der das Treiben der skrupellosen Provinzkaufleute charakterisiert, wurden von vielen russischen Bühnen gespielt, und im Ausland erschienen Übersetzungen seiner Werke (Erzählungen, 6 Bde., Jena 1901/02; Ausgewählte Erzählungen, 7 Bde., Berlin 1901/02). 1902 wurde Gorki, knapp 34jährig, zum Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften gewählt. Zar Alexander II. machte die Ernennung rückgängig, woraufhin Cechov und V. Korolenko aus der Akademie austraten. Dieser Skandal wie auch die Aufführungen seiner ersten Dramen festigten seine Popularität, besonders unter der revolutionär gesinnten Intelligenz. Nach dem Petersburger Blutsonntag 1905 verhaftet, aufgrund der Proteste aus ganz Europa und einer von einem russischen Industriellen hinterlegten Kaution freigelassen, ging er vor erneuten Verfolgungen durch das zaristische Regime 1906 ins Exil nach Capri, von wo er erst 1913 nach einer allgemeinen Amnestie zurückkehrte. Er verteidigte zwar die Oktoberrevolution, lehnte aber Terror und Diktatur ab und kritisierte die Auswüchse des Sowjetsystems. Als sich 1921 sein Gesundheitszustand wieder verschlechterte, drängte Lenin ihn, wieder ins Ausland zu gehen. Nach Aufenthalten in Deutschland (Bad Saarow) und der Tschechoslowakei lebte er von 1924 bis 1932 in Sorrent. Nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion gehörte er zu den Initiatoren des "sozialistischen Realismus", der 1934 auf dem Ersten sowjetischen Schriftstellerkongreß verkündet wurde