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THEMA:   Michael Ende über "Religion und Poesie"

 3 Antwort(en).

Antonius begann die Diskussion am 12.02.03 (21:50) mit folgendem Beitrag:

Michael Ende über seine Dichtung und seinen Lebens-"Kampf":

Wir werden inzwischen auf unsere Art den Kampf weiterführen. Unsere Religion heißt ja Poesie. Wir glauben, das die Poesie für die Menschen eine elementare Lebens-notwendigkeit ist, bisweilen lebensnotwendiger als Essen und Trinken. Manche in unserem Reservat meinen, das Duerrs [alternativer Anthropologe und Physiker] Wissenschaft und unsere Poesie letzten Endes auf eines hinauslaufen. Das können wir getrost abwarten. Poesie ist die schöpferische Fähigkeit des Menschen, immer wieder auf neue Weise sich in der Welt und die Welt in sich zu erfahren und wiederzuerkennen. Darum ist alle Poesie ihrem Wesen nach »anthropomorphistisch«, oder sie hört auf, Poesie zu sein. Und aus eben diesem Grund ist alle Poesie mit dem Kindlichen verwandt. Wir Eingeborene sagen sogar: Sie ist das Ewig-Kindliche im Menschen.
Damit meinen wir nicht nur Gedichte und Bücher, sondern Lebensformen und erfahrbare, erlebbare Welterklärung. Es gibt in unserem Stamm eine alte Prophezeihung, die besagt, daß eines Tages auch die sogenannten Erwachsenen wieder erwachsen genug sein werden, sich von der Poesie sagen zu lassen, was wahr ist und was nicht. Dann wird es auch eine ganz anders geartete Wis-senschaft geben, die Wahrheiten findet, mit denen die Menschen nicht nur leben können, sondern die ihnen ihr wahres Menschsein erst enthüllt. (...)
Aus: Gedanken eines zentraleuropäischen Eingeborenen.
In: Das Michael Ende Lesebuch. 1983. Dtv 11133. S. 177)


sofia204 antwortete am 14.02.03 (14:00):

(...)
dann kann man den Spruch
"Wissen ist Macht" nicht mehr ganz ernst nehmen.


Marianne antwortete am 15.02.03 (23:25):

@ Antonius:

Was willst Du uns mit diesem Auszug im Klartext sagen?
anders formuliert:
Wie liest Du ihn?
wieder anders gefragt:
Worüber sollen wir nachdenken?
noch anders gefragt:
welcher Kampf soll fortgeführt werden?


mit Brecht: Soviele Fragen
als Marianne: und keine Tipps!


Antonius antwortete am 16.02.03 (13:52):

Ja, ganz einfach, sehr schwierig: die Fragen aller Fragen...: nach Gott, Sprache und Menschen

Im Zusammenhang mit meiner Geschichte von der brennenden und neu besetzten Kirche und im ST "Freimaurer" (Politik) habe ich in meinen Materialien gekramt, um mögliche Zusammenhänge von Literatur, Mythen und Gott oder besser: Gottes-BILDERN und Menschen-Fragen zu zeigen.
Ich glaube nicht an d e n Gott, oder die G ö t t e r, die/der Hiroshima (oder was auch immer an Katastrophen, allerschlimmst sicherlich für uns Christen: den Holocaust) zugelassen oder mitverantwortlich war/en, von ihm wußte/n oder hätte verhindern können. Oder dass Gebete an sie uns oder andere nutzen oder verändern. Das ist zwar beruhigend, aber es ist Gottesfechterei - und verstellt die menschliche und politische Verantwortung. Alle "Götter" sind Projektionen, die sich die Menschen seit dem Neandertal machen und für die sie nicht verantwortlich sein wollen...
Alle Gottesbilder aller Kulturen sind ähnlich und vergleichbar und gleich viel wert in ihren schönsten Beispielen - und sie bestehen darin, dass die Menschen die höchsten Ideen und Ziele - und die schlimmsten Verbrechen mit dem Gottesbegriff legitimieren können, s. das US-Bush-Feuer, zugedacht dem atheistischen Verbrecher Saddam. Es sind immer menschliche Machthabereien, Interessen und Verbrechen - neben den wunderbarsten Liebes- und Freiheitsideen (ob von Ghandi oder Mutter Theresa oder Drewermann) Ich will, ich glaube: Wir müssen diese Heils-Ideen als menschlich angeboren und in Sprache mitteilbar akzeptieren - und die Verantwortung aufzeigen. Bush hat den von ihm gewollten und mit den Ministern seines Vaters vorbereiteten Krieg de Plutokraten zu verantworten, nicht Gott oder irgendein Fatum (11. September oder die Moslem-Fundis), auf den oder das er sich berufen möchte - um die Verantwortung abzuschieben.
Also, statt Gottes-Missbrauch - die Erkenntnis, dass wir über zeitliche Gottesbilder verfügen, die kulturell und psychologisch legitimiert und veränderbar sind.
Die Juden in der Diaspora - und das ist ihr fast 2000-jähriges Friedensprogramm gewesen, egal wo sie lebten - bis sie in Palästina als Besatzer und Krieger einzogen - haben sich Gottes-BILDER verboten; weil sie immer Machtaneignungen sind, und die Ehrfurcht vor Gott und den Mitmenschen schwinden lassen.
Goethe ging in seinem Individualverständnis des Göttlich-Menschlichen am weitesten:
"Nenn's Glück! Herz! Liebe! Gott!" sagt Faust zu Goethe, als Antwort auf ihre Religionsfrage (Goethe: Faust. Vers 3454) -
*
In einer Geschichte lass ich folgendes passieren:
"Schreib dir diese Schlagzeile "Nenn's Glück! Herz! Liebe! Gott!" auf ein Plakat, das zu einer Predigt des Bischofs einlädt in den Fuldaer Dom. Wie hätte Erzbischof Dyba sich aufgeregt und das Plakat zerfetzt. - Sei nicht traurig: So was als Wunschvorstellung kannst du höchstens dem Nach-Nach-Nachfolger deines Bischof anvertrauen. Er liebt niemanden persönlich, bedroht und beschimpft Schwule, er weiss nicht, was Glück ist, über sein zölibatäre Schwudnstufe hinaus. Und am Herzen hat er es schon arg." (Als Dyba noch lebte...)
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Franz Alt sagte mal über die Gottesbilder, die zwischen den Menschen stehen und versöhnt werden sollten:
„Jesus und sein neues Gottesbild stehen im Gegensatz zum alten Gottesbild:

* individuell und nicht mehr kollektiv
* mütterlich-väterlich und nicht mehr patriarchalisch
* global und nicht mehr national
* gegenwartsorientiert und nicht mehr vertröstend
* dynamisch und nicht mehr statisch
* organisch und nicht mehr mechanisch
* angstbefreiend du nicht mehr angstmachend
* heilend und nicht mehr krankmachend
* freiheitlich und nicht mehr gesetzlich
* gewaltfrei und nicht mehr rachsüchtig
* liebevoll und nicht mehr bestrafend.
(F.A.: Jesus - der erste Mann. München 1989: Piper Verlag. S. 129)
*
Ich glaube, dass Michael Ende mit seinen existenziell und gleichzeitig phantastischen Romanen und Thaaterstücken und Gedichten, die viele Mythen aus der ganzen Welt aufnehmen und integrieren, diese Wurzeln des Menschlichen lebendig werden lässt und gleichzeitig neue poetische Blätter treibt: Erinnerung und Versöhnung durch Sprache; also Bilder und Wunder...