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THEMA: Bergengruen und Warschau
14 Antwort(en).
Antonius Reyntjes
begann die Diskussion am 23.01.03 (08:56) mit folgendem Beitrag:
Werner B e r g e n g r u e n hat 1918 eine Geschichte über das Schicksal eines armen jüdischen Mannes im Warschauer Stadtteil (oder einer Straße) "Nalewski" geschrieben, ein Gebiet, das von Juden bewohnt war. W.B.wörtlich: "Hier wohnte das Volk Israel Haus an Haus." Die Erzählung heißt "Der grüne Kasten" und wurde erst im Jahre 2000 in dem Erzählband "Baltische Geschichten" (bei nymphenburger)veröffentlicht. Kennt sich jemand in Warschau (literarisch oder geografisch) aus, ob die(s) "Nalewski" zum alten jüdischen Ghetto gehörte, das von den Nazi-SS-Truppen ausgelöscht wurde?
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Angelika
antwortete am 23.01.03 (11:15):
Das Jüdische Ghetto in Warschau heisst Nalewski Der Historiker Emanuel Ringelblum beschreibt in seinen Tagebüchern aus dem Ghetto in begeisternder Sprache das kulturelle Leben dort, die Atmosphäre zwischen Schulen, Universität und den vielen Geschäften entlang der Leschnostasse und Nalewski Strasse (Nalewski ist auch eine Strasse, die es immer noch gibt). Weiter schreibt er über die Atmosphäre nach Feierabend, von Konzerten und Dichterlesungen wie zB von Sholom Aleichim.Ringelblum wörtlich: "An jedem Tag in dieser Zeit wurde mit voller Kraft gelebt". Die schwersten Angriffe und grössten Vernichtungen durch die Nazis fanden zwischen Nalewsi und Muranowski Square statt - Wenn Du an einen Stadtplan kommst - die Nalewski Strasse geht vom Muranowski Square ab. Ich hoffe dir ein wenig geholfen zu haben.
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Angelika
antwortete am 23.01.03 (11:19):
noch ein kleiner Nachtrag: Ich habe zusammen mit anderen vor einigen Jahren mal einen jüdischen Reiseführer geschrieben und dabei das Thema Polen im speziellen recherchiert. Wenn Du ein paar tage Zeit hast, suche ich mir das Belegexemplar mal raus und werde versuchen, Dir noch eine Infos mehr zu geben. Ich muss nur suchen - die meisten meinr Bücher sind noch in Umzugskartons ...wenn Du andere Fragen hast - ich werde gerne versuchen, Deine Wissenslücken zu füllen.
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Antonius Reyntjes
antwortete am 23.01.03 (19:12):
An Angelika vollen, überraschten und herzlichen Dank, wenn Du magst, schick ich Dir die Geschichte, auch besonders mit der weiteren Frage, ob Du die Ausdrücke "Spitschki! Zapalki!" noch übersetzen kannst... - es gibt ja W(w)under-(bare) Menschen im Forum!!
Danke schön! Antonius
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Angelika
antwortete am 23.01.03 (20:00):
Also ZAPALKI heisst Streichholz auf Polnisch. Spi´cka (Spitschka gesprochen) heisst Streichholz auf Tschechisch ... sagt das vielleicht ein Strassenverkäufer? Das Mädchen vom Sterntalermärchen? :-) Ich hatte mal einen Kollegen aus Prag, der mit Familiennamen Spi´cka hiess, sprach man den Namen mit zuuu langer Betonung aus, hiess es eher etwas ziemlich unanständiges :-)
Eine doppelte Bedeutung weiss ich so ad hoc nicht, ich werde sie aber mal erfragen.
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Marianne
antwortete am 23.01.03 (20:47):
Die Nalewki ist eine einen großen Teil des jüdischen Hitlerghettos durchziehende Straße. Mit ihren Seiten- und nebenstraßen wurde das ganze Gebiet (Nowolipki- Swietojerski,Gesia - Franziskanska,Mila, Muranowska,Niska ) zum letzten Widerstandsnest in den grauenvollen Tagen des Aufstandes im Warschauer Ghetto. Hier stand nach der Befreiung Polens durch die Rote Armee kein Stein mehr auf dem anderen.Ganz wenige Häuser in der Panska ( Nähe Hauptbahnhof ) und eine Markthalle erinnern an die "echten " zeitgenössischen Häuser.- Ubrigens Jugendstilvorderhäuser mit vielen vielen Hinterhöfen- Vor der Ghettoisierung lebten in in dieser Gegend, die sich im Westen bis zur Mlynarska erstreckte sehr viele Juden, aber auch Menschen anderen Glaubens. Viele v.a. reichere assimilierte Juden wohnten aber auch in allen anderen Stadtteilen Warschaus, bis sie eben unter unmenschlichen Hygiene- Wohn- und Grundnahrungssicherungsverhältnissen in dem mit Mauer umgebenen Ghetto zu leben/ vegetieren gezwungen wurden.
Mein Mann und ich machten vor cirka 6 Jahren einen Sühnegang ( ich wage es nicht Spaziergang zu sagen ) durch das Gebiet. Es ist merkwürdig, dass das offizielle Polen recht wenig - nicht nichts - zum Gedenken ihrer jüdischen Mitbürger tut Meine Trauer war groß, meine Scham auch.Weiß ich doch nicht nur von Bergengruen, sondern vor allem aus der Lektüre der Werke Isaac B. Singers. An- Ski`s, Itzig Mangers, Manes Sperbers, Karl Emil Franzos ( Scholejm Alechem erwähnte Angelika schon) über das Leben im Städtl Bescheid.Ich weiß also, was Hitler vernichten ließ. Sehr gut theoretische Kenntnisse kannst Du Dir auch hier besorgen.
Zborowski, Mark. Herzog, Elisabeth " Das Städtl" Die untergegangene Welt der osteuropäischen Juden
Beck, 1992
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Antonius Reyntjes
antwortete am 24.01.03 (16:59):
Herzlichen Dank für die Angaben zu "Nalewski"! Was ich in der Geschichte, die ja im ersten Weltkrieg spielt, nur ahnte, kann ich jetzt mit der Hilfe von Marianne und Angelika belegen - auch mit der genannten Literatur, von der ich bisher nur Singer und Francos kannte. Diese Geschichte "Der grüne Kasten" ist völlig untypisch für Werner Bergengruen und von ihm selber gar nicht veröffentlicht worden, sondern erst von seiner Tochter im Jahre 2000. Tatsächlich muss der Krüppel Chaim täglich mit einigen Päckchen Streichhölzern in einem Weidenkörbchen los und muss sie in der Bahnhofsgegend tschechisch und polnisch anpreisen. Den Bezirk Nalewski hat W.B. als Zentrum des jüdischen Lebens in Warschau beschrieben, der auch schon beim damaligen Einmarsch der Russen sehr gelitten hat. Und der Chaim wird von den Granaten "der weichenden Russen" noch getroffen und getötet. Eine Erzählung, die lange v o r dem Holocaust spielt und uns schon von den Leiden der einfachen und armen Juden in ihrem Viertel damals mitteilt; lange bevor 1943 der SS-General Stroop das Ghetto kriegsmäßig liquidieren ließ und nach dem Massaker abschließend mitteilte: "Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr."
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Angelika
antwortete am 24.01.03 (18:15):
Hallo Antonius,ich freue mich immer, wenn über so ein Forum tatsächlich auch einmal ganz praktisch geholfen werden kann - eigentlich ist es fast schade, dass bei der Vielzahl der Teilnehmer so wenig an Wissen ausgetauscht und hinterlegt wird. Es gibt da ein grossartiges Projekt "H2G2" von dem leider viel zu früh verstorbenen Autor Douglas Adams. Ein Handbuch des wissens, in dem jeder sein Wissen niederschreiben kann .... https://www.pbs.org/wnet/heritage/episode6/atlas/map3.html
Zu Deinen Recherchen hier noch ein Link in englischer Sprache, der Dir sicher noch einiges an Infos geben kann. Es gibt dort auch historische Bilder und Filmsequenzen.
Internet-Tipp: https://www.pbs.org/wnet/heritage/episode6/atlas/map3.html
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Antonius Reyntjes
antwortete am 24.01.03 (22:17):
Dank an Angelika! Ich bin immer auf der Suche nach verloren gegangenen Autoren oder Themen oder vergessenen Orten. Z.Zt. suche ich nach "Winniza" (West-Ukarine), wo Hitler sein östlichstes Hauptquartier hatte, das er auch früh aufgab. Einige Texte zu diesem Un-Ort, den die Ukrainer als ein Touristenziel verkaufen möchten,- von Albrecht Goes und von A. Stahlberg ("Die verdammte Pflicht") - dazu habe ich schon. Weiß jemand mehr...? Ich habe jetzt zum ersten Mal so eine spezielle Frage hier im Forum untergebracht - und bin überrascht von dem Wissen und Reaktionen; auch mit der engl. URL habe ich schon Glück gehabt. Ich kann noch empfehlen die "Enzyklopädie des Holocaust" (4 Bände; Serie Piper); dort habe ich jetzt auch den Stadtplan vom Warschauer Ghetto gefunden... (Und wenn Du, Angelika, mir den Führer (natürlich den Reise-F.) noch finden könntest...? Die Geschichte von W.B. als word-Datei kannst Du sofort haben, wenn Du mir direkt mailen willst.) Auf meiner web-site sind bisher nur olle Balten vertreten; nächstens aber mehr aus dem mittleren und östlichen Europa... Dank und Gruß - Antonius!
Internet-Tipp: https://www.reyntjes.de
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Angelika
antwortete am 25.01.03 (00:33):
Hallo Antonius - zur Nacht werde ich nachher Deine Seite besuchen und lesen, danke für den Link :-) Zu Winniza: Versuch es mal mit einer aneren Schreibweise "Vinnitsa" - Das kyrillische V, wie B geschrieben, wird oft auch als W gedruckt ... Vinnitsa war so ein bisschen die Wiege der chassidischen Juden - der Name Natan Sterngart ist Dir in dem Zusammenhang vielleicht einmal begegnet?
Die Ukraine - im speziellen auch die alten jüdischen Viertel von Kiev, erfahren zur Zeit eine interessante Rennessance - so kommen viele Juden, die eigentlich nach israel ausgewandert waren zurück und selbst aus den USA kommen junge Juden, die in der heimat ihrer Väter leben wollen. Natürlich ist der Antisemitismus bei der Restbevölkerung noch vorhanden aber die Regierung unterstütz die Wiederbelebung jüdischer gemeinden und Kultur. Und wenn durch Tourismus Geld ins Land kommt - vielleicht ist es gar nicht so schlecht. Das Geschäft mit "kosher Travel" ist seit einigen Jahren ein gutes Geschäft. Ich habe für eine US-Organisationdas Büro in der Schweiz geleitet und neue "Jewish Trail Tours" durch Europa organisiert. Dabei ging es nicht nur um historische Orte sondern eben auch um koscheres Catering bzw Restaurants. In Deutschland war das vor 4 oder 5 Jahren noch gar nicht so leicht - sooo viele koshere restaurants gibt es nicht, aber guten Catering-Service bundesweit.Hingegen gibts in der Schweiz im berner Oberland ein ganzes Hotel. das sich auf die speziellen Bedingungen gläubiger Juden auf Reisen eingestellt hat. Polen, Tschechien, Niederlande, Österreich und Ungarn sind den Deutschen da um Nasen voraus :-)
Ich schau mal, was ich noch für dich finden kann.
Anbei ein Link zur URL von Vinniza - keine Angst, es gibt auch englische Texte, nicht nur russisch :-) Nur die Ladezeit ist elendig lang ...
Internet-Tipp: https://www.jewish.vinnitsa.com/main_english.html
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angelika
antwortete am 25.01.03 (11:15):
Ich hab noch ein üaar Links für Dich: Zunächst die jewish Virtual Library, in der Du jede Menge Informationen über alte und neue jüdische Literatur und Biografien jüdischer Autoren aus allen Zeiten und Ländern findest.
https://www.us-israel.org/index.html
Dann, eine kostenlose jüdische Encyclopedia (englisch):
https://www.jewishencyclopedia.com
Einiges interessantes für deine Recherchen findest Du vielleicht auch bei https://www.juden.de/
und auf dem populärsten deutschsprachigen jüdischen Portal Hagalil https://www.hagalil.com/
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Angelika
antwortete am 27.01.03 (18:48):
Hallo Anton, vielen Dank für den Link zu Deiner Seite - die Geschichte "Weihnachtsbesuch bei der Vergänglichkeit" hat michsehr angerührt. Übrigens, seiner Biografie kannst Du noch hinzufügen, dass er 1958 ebenfalls Mitglied des "pour le mérite" ordens in nachfolge seines Freundes Reinhold Schneider antrat - nur um Deine Infos noch vollständiger zu machen :-)
Angelika
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Antonius Reyntjes
antwortete am 30.01.03 (19:10):
Noch ein Nachtrag:
Ich sah gestern Abend den Film "Der Pianist"; und war sofort im Warschauer Ghetto... Nach bestialischem Morden gab es für den Pianisten ein glückliches Ende mit der Eroberung Warschaus durch die Russen und ponische Aufständische. Der Pianist Szpilman (hieß wahrhaftig so) wurde zuletzt "gerettet" durch einen deutschen Offizier, einen katholischen Volksschullehrer - wie ein Wunder... (dessen Tagebuchaufzeichnungen auch noch erhalten blieben durch seine Familie). Buch: W. Szpilman: Das wunderbare Überleben. (Ullstein TB)
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Angelika
antwortete am 30.01.03 (21:56):
Antonis - dann solltest Du heute abend nicht verpassen: "Der Sohn des Pianisten" - läuft seit 21.45 in HESSEN 3
Der polnische Autor Wladyslaw Szpilman stellte am 26.2.1998 in Hamburg sein Buch "Das wunderbare Überleben - Warschauer Erinnerungen 1939-1945" vor, Erinnerungen an eine wundersame Rettung.
Vielleicht liest Du das hier noch rechtzeitig ...
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Antonius Reyntjes
antwortete am 30.01.03 (23:03):
Leider schon - nach 23 h! - zu spät! Aber die Dritten-Programm-Sendungen werden ja häufig auch anderswo noch gesendet, z.B. im wdr. Aber neben den Erinnerungen des Pianisten forsche ich jetzt nach dem Lehrer Wilm Hosenfeld - ein anderer Lehrer, als ich sie nach 1949 kennen lernen "konnte". (Hauptsächlich Angsthasen oder vergessliche Bollerköppe! Grammatik-Pauker!) Und finde gleich: Dirk Henrichs: Hauptmann d.R. Wilm Hosenfeld: Retter in Warschau. In: "Retter in Uniform". Hrg. v. W. Wette. Fischer TB 15221. Manchmal ergibt sich ja ein Gewebe von Namen, Stoffen und geschichtlichen "Wundern" - da möchte ich am liebsten wieder - täglich! - in die Schule - zu den Jungs und Mädchen - laufen... Wenn ich den "alten Herrschaften" in der Sowieso-Akademie was von Adolfs Zeiten etcetera erzähle, winken sie ab - aber sie "wissen", dass heutzutage alles schlechter wird: Immer, alles - alle jungen Menschen sowieso - s. PISA! Da habe ich einen guten Spruch gehört: "Das Gerede von der guten, alten Zeit beruht auf der schlechten Erinnerung derer, die davon reden." Aber e i n Volksschullehrer namens Wilm - von dem hätte ich gerne meiner Mutter noch berichten können. Vielleicht klappt's im Traum. (Sorry, ich werde sentimental.)
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