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THEMA:   Eine Kurzgeschichte

 6 Antwort(en).

hl begann die Diskussion am 22.01.03 (22:11) mit folgendem Beitrag:

Ein Tisch ist ein Tisch.

Ich will von einem alten Mann erzählen, von einem Mann, der kein Wort mehr sagt, ein müdes Gesicht hat, zu müd zum Lächeln und zu müd, um böse zu sein. Er wohnt in einer kleinen Stadt, am Ende der Straße oder nahe der Kreuzung. Es lohnt sich fast nicht, ihn zu beschreiben, kaum etwas unterscheidet ihn von anderen. Er trägt einen grauen Hut, graue Hosn, einen grauen Rock und im Winter den langen grauen Mantel, und er hat einen dünnen Hals, dessen Haut trocken und runzelig ist, die weißen Hemdkragen sind ihm viel zu weit. Im obersten Stock des Hauses hat er sein Zimmer, vielleicht war er verheiratet und hatte Kinder., vielleicht wohnte er früher in einer andern Stadt. Bestimmt war er einmal ein Kind, aber das war zu einer Zeit, wo die Kinder wie Erwachsene angezogen waren. Man sieht sie so im Fotoalbum der Großmutter. In seinem Zimmer sind zwei Stühle, ein Tisch, ein Teppich, ein Bett und ein Schrank. Auf einem kleinen Tisch steht ein Wecker, daneben liegen alte Zeitungen und das Fotoalbum, an der Wand hängen ein Spiegel und ein Bild.

Der alte Mann machte morgens einen Spaziergang und nachmittags einen Spaziergang, sprach ein paar Worte mit seinem Nachbarn, und abends saß er an seinem Tisch.

Das änderte sich nie, auch sonntags war das so. Und wenn der Mann am Tisch saß, hörte er den Wecker ticken, immer den Wecker ticken.

Dann gab es einmal einen besonderen Tag, einen Tag mit Sonne, nicht zu heiß, nicht zu kalt, mit Vogelgezwitscher, mit freundlichen Leuten, mit Kindern, die spielten - und das besondere war, daß das alles dem Mann plötzlich gefiel.

Er lächelte.

"Jetzt wird sich alles ändern", dachte er. Er öffnete den obersten Hemdknopf, nahm den Hut in die Hand, beschleunigte seinen Gang, wippte sogar beim Gehen in den Knien und freute sich. Er kam in seine Straße, nickte den Kindern zu, ging vor sein Haus, stieg die Treppe hoch, nahm die Schlüssel aus der Tasche und schloß sein Zimmer auf.

Aber im Zimmer war alles gleich, ein Tisch, zwei Stühle, ein Bett. Und wie er sicht hinsetzte, hörte er wieder das Ticken, und alle Freude war vorbei, denn nichts hatte sich geändert. Und den Mann überkam eine große Wut. Er sah im Spiegel sein Gesicht rot anlaufen, sah, wie er die Augen zukniff; dann verkrampfte er seine Hände zu Fäusten, hob sie und schlug mit ihnen auf die Tischplatte, erst nur einen Schlag, dann noch einen, und dann begann er auf den Tisch zu trommeln und schrie dazu immer wieder:
"Es muß sich etwas ändern."
Und er hörte den Wecker nicht mehr. Dann begannen seine Hände zu schmerzen, seine Stimme versagte, dann hörte er den Wecker wieder, und nichts änderte sich.

"Immer derselbe Tisch", sagte der Mann, "dieselben Stühle, das Bett, das Bild. Und dem Tisch sage ich Tisch, dem Bild sage ich Bild, das Bett heißt Bett, und den Stuhl nennt man Stuhl. Warum denn eigentlich?" Die Franzosen sagen dem Bett "li", dem Tisch "tabl", nennen das Bild "tablo" und den Stuhl "schäs", und sie verstehen sich. Und die Chinesen verstehen sich auch. "Warum heißt das Bett nicht Bild", dachte der Mann und lächelte, dann lachte er, lachte, bis die Nachbarn an die Wand klopften und "Ruhe" riefen.

"Jetzt ändert es sich", rief er, und er sagte von nun an dem Bett "Bild".

"Ich bin müde, ich will ins Bild", sagte er, und morgends blieber oft lange im Bild liegen und überlegte, wie er nun dem Stuhl sagen wolle, und er nannte den Stuhl "Wecker". Hie und da träumte er schon in der neuen Sprache, und dann übersetzte er die Lieder aus seiner Schulzeit in seine Sprache, und er sang sie leise vor sich hin.

Er stand also auf, zog sich an, setzte sich auf den Wecker und stützte die Arme auf den Tisch. Aber der Tisch hieß jetzt nicht mehr Tisch, er hieß jetzt Teppich. Am Morgen verließ also der Mann das Bild, zog sich an setzte sich an den Teppich auf den Wecker und überlegte, wem er wie sagen könnte.

Dem Bett sagte er Bild.
Dem Tisch sagte er Teppich.
Dem Stuhl sagte er Wecker.
Der Zeitung sagte er Bett.
Dem Spiegel sagte er Stuhl.
Dem Wecker sagte er Fotoalbum.
Dem Schrank sagte er Zeitung.
Dem Teppich sagte er Schrank.
Dem Bild sagte er Tisch.
Und dem Fotoalbum sagte er Spiegel.

Also:

Am Morgen blieb der alte Mann lange im Bild liegen, um neun läutete das Fotoalbum, der Mann stand auf und stellte sich auf den Schrank, damit er nicht an die Füße fror, dann nahm er seine Kleider aus der Zeitung, zog sich an, schaute in den Stuhl an der Wand, setzte sich dann auf den Wecker an den Teppich, und blätterte den Spiegel durch, bis er den Tisch seiner Mutter fand.

Der Mann fand das lustig, und er übte den ganzen Tag und prägte sich die neuen Wörter ein. Jetzt wurde alles umbenannt: Er war jetzt kein Mann mehr, sondern ein Fuß, und der Fuß war ein Morgen und der Morgen ein Mann.

Jetzt könnt ihr die Geschichte selbst weiterschreiben. Und dann könnt ihr, so wie es der Mann machte, auch die andern Wörter austauschen:

läuten heißt stellen,
frieren heißt schauen,
liegen heißt läuten,
stehen heißt frieren,
stellen heißt blättern.

So daß es dann heißt: Am Mann blieb der alte Fuß lange im Bild läuten, um neun stellte das Fotoalbum, der Fuß fror auf und blätterte sich aus dem Schrank, damit er nicht an die Morgen schaute. Der alte Mann kaufte sich blaue Schulhefte und schrieb sie mit den neuen Wörtern voll, und er hatte viel zu tun damit, und man sah ihn nur noch selten auf der Straße. Dann lernte er für alle Dinge die neuen Bezeichnungen und vergaß dabei mehr und mehr die richtigen. Er hatte jetzt eine neue Sprache, die ihm ganz allein gehörte. Aber bald fiel ihm auch das Übersetzen schwer, er hatte seine alte Sprache fast vergessen, und er mußte die richtigen Wörter in seinen blauen Heften suchen. Und es machte ihm Angst, mit den Leuten zu sprechen. Er mußte lange nachdenken, wie die Leute zu den Dingen sagen.

Seinem Bild sagen die Leute Bett.
Seinem Teppich sagen die Leute Tisch.
Seinem Wecker sagen die Leute Stuhl.
Seinem Bett sagen die Leute Zeitung.
Seinem Stuhl sagen die Leute Spiegel.
Seinem Fotoalbum sagen die Leute Wecker.
Seiner Zeitung sagen die Leute Schrank.
Seinem Schrank sagen die Leute Teppich.
Seinem Spiegel sagen die Leute Fotoalbum.
Seinem Tisch sagen die Leute Bild.

Und es kam soweit, daß der Mann lachen mußte, wenn er die Leute reden hörte.

Er mußte lachen, wenn er hörte, wie jemand sagte: "Gehen Sie morgen auch zum Fußballspiel?" Oder wenn jemand sagte: "Jetzt regnet es schon zwei Monate lang." Oder wenn jemand sagte. "Ich habe einen Onkel in Amerika."

Er mußte lachen, weil er all das nicht verstand.

Aber eine lustige Geschichte ist das nicht. Sie hat traurig angefangen und hört traurig auf. Der alte Mann im grauen Mantel konnte die Leute nicht mehr verstehen, das war nicht so schlimm.

Viel schlimmer war, sie konnten ihn nicht mehr verstehen. Und deshalb sagte er nichts mehr.

Er schwieg, sprach nur noch mit sich selbst, grüßte nicht einmal mehr.

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Von Peter Bichsel, Kindergeschichten, Berlin und Neuwied 1969


schorsch antwortete am 23.01.03 (09:31):

Schmunzel (;--)))

Zuerst dachte ich: Endlich findet die Heidi wieder Zeit und Lust, uns eine Geschichte zu schreiben.

Und dann las ich zu meiner Enttäuschung den Namen meines Landsmannes darunter (:--(((((

Als Anregung: Falls keine eigene Geschichte, dann immer den Autor Oben angeben.


Katharina antwortete am 23.01.03 (10:16):

Das ist eine Geschichte, die ich sehr gern habe, weil sie mit sparsam verwendeten Mitteln (also ohne irgendwie "literarisch aufzutrumpfen") einen wichtigen Aspekt der Sprache aufzeigt, nämlich den, dass Sprache auf Konsens beruht. Also auf einer zwar nicht individuell getroffenen, so doch vorhandenen Übereinkunft, wem/was Lautfolgen zuzuordnen sind.

Schön, dass du die Geschichte hier hereingestellt hast! Weist sie ja auch indirekt darauf hin, dass Begriffe, wenn sie über Gegenstandsbezeichnungen hinausgehen, oftmals einer Klärung bedürfen. Damit man nicht aneinander vorbei redet.

liebe Grüße
Katharina


hl antwortete am 24.01.03 (09:25):

sprache ist ein wichtiges und spannendes kapitel. diese geschichte gefiel mir auch deshalb so gut, weil sie vielfältige gedankengänge zulässt.

zuerst musste ich lachen, beim lesen der verwandelten begriffe.

solange bis mir einfiel, dass ich genau diese "verwirrung der sprache" täglich in meinem Beruf erlebe. ja, es ist eine traurige geschichte.

traurig, weil sie wahr ist. traurig, weil der alte mann nicht mehr verstanden wird.

traurig, weil alte verwirrte menschen die "richtigen" worte nicht mehr finden, satzteile durcheinander werfen, verzweifelt versuchen sich zu verständigen und nicht mehr verstehen, warum sie nicht verstanden werden.

die alltagswelt hat nicht die phantasie, das einfühlungsvermögen, das gefühl, um diesen alten mann und alle anderen verwirrten alten menschen zu verstehen.

darum schweigen sie ..


Marianne antwortete am 24.01.03 (20:08):

Für mich ist diese Kurzgeschichte auch ein Beweis, wie sehr
sprachliche Übereinkunft das Leben regelt.Und dass es lebenswichtig ist, die jeweiligen Übereinkünfte nicht nur zu kennen, sondern auch zu benutzen.

Es nutzt nicht, wenn für mich ein Tisch zwar ein Tisch ist, aber für alle anderen eben ein Teppich.

Die sprachliche Isolation ist wahrscheinlich eine inhumane Folter, unabhängig davon, ob selbst gewollt ( der alte Mann) oder von der Gesellschaft zugewiesen ( Migranten )

Das ist keine so scharfsinnige Analyse wie von Katharina geliefert, auch nicht so anteilnehmend kommentiert wie es h.l. tut, es soll aphoristisch einen weiteren Aspekt der "Sprachlosigkeit" zeigen.


Tessy antwortete am 24.01.03 (21:52):

Ich möchte nicht daß die Geschichte so traurig endet!
Mein Vorschlag:

Der alte Mann konnte die anderen Menschen nicht mehr verstehen so wenig wie sie ihn verstanden.
Da er aber weiterhin aus dem Haus ging und auf seinen Spaziergängen die Menschen aus der Nachbarschaft traf, entdeckte er neue Möglichkeiten der Verständigung. Ein Lächeln das erwidert wurde,ein sich Zunicken und ab und zu auch einen Handschlag. Ein Streicheln über den Kopf eines weinenden Kindes - in der Hoffnung daß es auch für ihn solch ein Streicheln in Stunden der Not gibt...........


hl antwortete am 24.01.03 (22:05):

ja, das war auch ein weiterer gedankengang von mir. wie wichtig ist die Sprache für die kommunikation bzw. funktioniert kommunikation auch ohne sprache? ..ich denke schon, allerdings nur für die grundbedürfnisse eines menschen.