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THEMA:   Bücher oder Filme?

 17 Antwort(en).

Dieter Wunderlich begann die Diskussion am 28.08.02 (16:35) mit folgendem Beitrag:

Hallo,
immer wieder werde ich mit der Meinung konfroniert, dass es sich bei Literatur um etwas Wertvolles handelt, bei Spielfilmen dagegen allenfalls um triviale Unterhaltung. Ich meine aber, dass es einige Filme gibt, die im künstlerischen Niveau einem hervorragenden Roman entsprechen, und ich schätze gute Filme ebenso wie gute Belletristik. Dabei denke ich nicht nur an geglückte Literaturverfilmungen wie Alexis Sorbas oder Die Klavierspielerin, sondern an eigenständige Filmkunstwerke wie Vanilla Sky oder Die fabelhafte Welt der Amélie (Inhaltsangaben und Kommentare auf meiner Website). Die Gestaltungsmöglichkeiten eines Filmregisseurs stehen mM denen eines Schriftstellers nicht nach; es handelt sich einfach nur um eine andere Ausdrucksweise. Was meint ihr dazu?
Viele Grüße,
Dieter

Internet-Tipp: https://www.dieterwunderlich.de/


angelika teil 1 antwortete am 28.08.02 (22:59):

Also abgesehen davon, dass ich den Amelie-Film einfach nur schlimm fand, hast Du grundsätzlich schon recht - Film ist eine Kunst für sich und hat andere Ausdruckmittel als das stehende Bild oder das geschriebene Wort. Nur habe ich immer mehr als nur ein ambivalentes Gefühl bei Literaturverfilmungen, weil sie sich an den Originalen eben nur ansatzweise orientieren - das fängt bei Klassikern wie Dr. Schiwago an und hört bei "Der Report der Magd" (übrigens ein sehr spannendes Buch) auf. Und ganz schlimm wird es dann, wenn man sich authentischen Stoffen widmet, sie im Buch schon verdreht und im Film dann vollends verzerrt, verändert und zusammenlügt. Ein gutes Beispiel dafür ist zB der Film "Der englische Patient"


angelika teil 2 antwortete am 28.08.02 (23:00):

Ich zitiere von Deiner Homepage:
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Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs erfährt die 20-jährige kanadische Krankenschwester Hana (Juliette Binoche) im Santa-Chiara-Lazarett von Pisa, dass ihr Vater Patrick in Frankreich gefallen ist.

Kurz darauf trifft sie auf einen am ganzen Körper verbrannten Mann, den man für einen Engländer hält (Ralph Fiennes). Im Frühling 1945 werden die Kranken, Verletzten und Verwundeten nach Süden verlegt. Hana aber hamstert Kodeintabletten und Morphium-Ampullen und bleibt mit dem todgeweihten Patienten in der zerbombten Villa San Girolamo in den Bergen nördlich von Florenz zurück, sechs Kilometer vom nächsten Dorf entfernt.

Auf einem Tischchen neben dem Bett liegt ein aus dem Feuer gerettetes Buch von Herodot mit Notizen und eingeklebten Texten, Skizzen und Karten. Sein Name steht nicht darin.

Nach einiger Zeit taucht David Caravaggio (Willem Dafoe) in der Villa San Girolamo auf. Der 45-Jährige kannte Hana vor dem Krieg in Toronto und war mit ihrem Vater befreundet. Damals lebte er von Diebstählen. Im Krieg war er als Spion für die Alliierten tätig. Als er sich bei einer Abendgesellschaft in Mailand als deutscher Offizier ausgab, übersah er, dass eine der anwesenden Damen Erinnerungsfotos knipste und drehte sich deshalb nicht schnell genug weg. In der Nacht drang er in ihr Zimmer ein, um die Kamera zu stehlen. Er überraschte sie beim Liebesspiel mit einem deutschen Offizier. Sie blickte ihn an, verriet ihn aber nicht. Als er aus dem Fenster sprang, wurde er entdeckt. Die Deutschen ahnten, wer er war, aber sie wollten, dass er seinen Namen bestätigte, banden seine Handgelenke an einen Tisch und schnitten ihm beide Daumen ab. Später ließen sie ihn laufen, wohl in der Hoffnung, er werde sie zu anderen Agenten führen.

Caravaggio wurde seit vier Monaten in einem Lazarett in Rom behandelt, als er zufällig von der kanadischen Krankenschwester Hana hörte, die mit einem am ganzen Leib verbrannten Patienten allein in einer toskanischen Villa zurückgeblieben war. Da machte er sich auf den Weg, um sie zu beschützen.

Ein 26-jähriger Sikh gesellt sich zu der Frau und den beiden Männern in der Villa. Kirpal ("Kip") Singh (Naveen Andrews) schlägt sein Zelt in einer entlegenen Ecke des verwüsteten Gartens auf. Er ist Pionier. Seine Einheit hat den Auftrag, nicht explodierte Bomben aufzuspüren und zu entschärfen. Kip, der sein Handwerk 1941 in England erlernt hatte, ist er erfahrenste unter den Technikern und kennt fast alle Tricks der deutschen Bombenbauer.

Der Patient weiß seinen Namen nicht mehr, aber Caravaggio vermutet, es könne sich um Ladislaus Graf von Almásy handeln. Während der Todgeweihte regungslos auf dem Bett liegt, treibt er auf einem "Floß aus Morphium" und erinnert sich bruchstückhaft an seinen Aufenthalt in der ägyptisch-libyschen Wüste.

Zu Beginn der Dreißigerjahre gehörte er zu einer Gruppe von Forschern, die das Gilf-Kebir-Plateau kartografierten und nach der verschollenen Oase Zarzura suchten. 1936 stieß das erst seit zwei Wochen verheiratete Ehepaar Clifton zu ihnen. Geoffrey Clifton (Colin Firth) war in "überströmender Flitterwochenfreude". Clifton war reich und besaß ein zweisitziges -- für die Gruppe sehr nützliches -- Flugzeug. Die alte Maschine, die einem von ihnen gehörte, ließen sie bei Uwenat stehen und deckten sie mit einer Plane ab.

Während einer kleinen Feier im Lager las Katherine Clifton (Kristin Scott Thomas) aus den Historien von Herodot vor, und zwar die Geschichte des lydischen Königs Kandaules, der seine Gemahlin für die schönste Frau der Welt hielt, das auch seinem Lieblings-Leibwächter Gyges beweisen wollte und ihn deshalb dazu überredete, sich hinter die geöffnete Schlafzimmertür zu stellen. Von diesem Platz aus konnte Gyges der Königin beim Entkleiden zusehen und sich von der Makellosigkeit ihres Körpers überzeugen. Die Königin bemerkte Gyges, als er das Schlafzimmer verließ, schlug aber keinen Alarm. Am nächsten Tag rief sie ihn und stellte ihn vor die Alternative, entweder Kandaules zu töten, sie zu heiraten und als König zu herrschen oder sich selbst das Leben zu nehmen. "Einer von euch darf nicht mehr leben, entweder er, der jenen Plan ersonnen hat, oder du, der mich nackt gesehen und getan hat, was sich nicht gebührt."

Almásy wollte es zuerst nicht wahrhaben, aber zwischen ihm und Katherine entwickelte sich eine leidenschaftliche Liebe. Eineinhalb Jahre dauerte die Affäre; Anfang 1938 bestand Katherine darauf, dass sie sich trennten.

Als 1939 der Krieg drohte, verließen sie alle das Land. Almásy kehrte im Spätsommer noch einmal nach Gilf Kebir zurück, um das Basislager bei Uwenat, nördlich des Ain-Dua-Brunnens, zu räumen. Anschließend sollte ihn Geoffrey Clifton mit dem Flugzeug abholen. Die Maschine tauchte über dem Plateau auf, dröhnte dicht über Almásy hinweg, kehrte dann um, hielt genau auf ihn zu und stürzte fünfzig Meter vor ihm in den Sand. Entsetzt stellte er fest, dass Geoffrey nicht allein, sondern mit Katherine in der Maschine saß. Geoffrey war tot. Offenbar hatte er sich, seine Frau und Almásy wegen der längst vergangenen Affäre töten wollen, denn zu dritt hätten sie in dem Flugzeug nicht Platz gehabt. Almásy zog Katherine aus dem Wrack. Ein Handgelenk und mehrere Rippen waren gebrochen. Er trug sie in eine nahe gelegene Höhle, zerschnitt Cliftons Fallschirm und bettete sie darauf.

Drei Tage lief er durch die Wüste. Dann sah er El Tadsch vor sich. Bevor er die Siedlung erreichte, ergriff ihn ein englisches Kommando. Verzweifelt wies er seine Bewacher auf die Frau hin, die 110 km entfernt in einer Höhle im Gilf Kebir lag und dringend Hilfe benötigte -- aber die Briten glaubten ihm kein Wort.

Er hatte Katharina versprochen, sie aus der Wüste zu holen. Almásy vergaß es nicht, auch nicht, als es längst zu spät war, um sie zu retten. Aber er musste drei Jahre lang warten, bis sich eine Gelegenheit dazu ergab. Zu Fuß schlug er sich zum Gilf Kebir durch. Die Tote lag auf dem Rücken. Er hüllte sie in die Fallschirmseide und trug sie zu dem alten Flugzeug, das mit Sand zugeweht war. Nachdem er es frei gegraben hatte, startete er mit der Leiche auf dem Rücksitz. Unterwegs wurde die Maschine beschossen und fing Feuer.

Beduinen fanden den Schwerverletzten und trugen ihn zu der Oase Siwa. Auf seine verbrannte Haut legten sie ölgetränkte Filzstücke. Im Lazarett von Pisa begegnete er dann Hana.

Am 6. August 1945 hört Kip Nachrichten. Von den Engländern lernte er, sich korrekt zu benehmen, und durch sie entwickelte er großen Respekt vor der westlichen Kultur. Nun zündeten die Amerikaner über Hiroshima eine Bombe, gegen die selbst Kip mit all seinem Wissen nichts ausrichten könnte. Die blanke Barbarei! Kip reißt die militärischen Abzeichen von seiner Uniform ab und fährt mit seinem Motorrad nach Süden, um sich in seine asiatische Heimat einzuschiffen.
Kommentar:

Diese großartige, teilweise authentische Geschichte über das Schicksal des Wüstenforschers Graf Ladislaus Almásy (1895 - 1951) erzählt der in Sri Lanka geborene holländische Schriftsteller in seinem 1992 erschienenen Roman. Dort heißt es: "Manche der Geschichten, die der Mann ruhig in das Zimmer hinein erzählt, gleiten wie Falken von Schicht zu Schicht." Das gilt auch für die fünf Jahre später mit Ralph Fiennes, Juliette Binoche und Kristin Scott Thomas in den Hauptrollen gedrehte Verfilmung, ein elegant zwischen den verschiedenen Handlungsebenen hin- und hergleitendes Meisterwerk.

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angelika 3 antwortete am 28.08.02 (23:01):

teil 3:
Da stimmt aber auch NICHTS mehr, ausser der Entdeckung der "Schwimmer in der Wüste" und der Oase zarzuela. Almásy war erst in 2. Linie Wüstenforscher sondern vor allem Testfahrer für eine österreich. Motorenfabrik und er war Pilot - der Flughafen kairo (der übrigens nach ihm benannt wurden sein soll) stellte ihm die Fluglehrerlizenz Nr. 1 aus ..

Er hatte auch niemals ein Verhältnis mit besagter Frau und wohl auch nicht mit einer anderen - er war nämlich schwul. Das geht aus seiner Biografie und seinen tagebüchern genau so hervor wie aus Überlieferungen von Freunden. Ein Neffe Rommels hat sogar einmal bestätigt, dass beide eine Liebschaft gehabt haben sollen.

Warum verleugnet das der Film? Auch wenn "Der englische Patient" für zwölf Oskars nominiert gewesen ist, hat er nicht neun davon wirklich erhalten und waren nicht Zuschauer rund um die Welt von seinen "beeindruckenden Wüstenaufnahmen" und seinen "herausragenden Darstellerleistungen" begeistert?

Das Problem besteht von allem Anfang darin, daß er angeblich eine fiktionale Geschichte über fiktionale Charaktere erzählt, dabei diesen fiktionalen Charakteren aber Namen von Personen gibt, die historisch sind, und die historisch eine ganz andere Rolle gespielt haben, als der Film uns glauben machen mag. Selbstverständlich hat ein Künstler das Recht, aus realen Personen Inspiration für seine fiktionalen Charaktere zu ziehen. Bei "Der englische Patient" besteht aber die Gefahr, daß die Fiktion mit der Realität verwechselt wird, eben weil das durch die unkritische und oberflächliche Benutzung realer historischer Gegebenheiten und Namen nahegelegt wird.

Der Film, der eigentlich von Art und Anlage her nichts anderes als ein perfekt inszeniertes Märchen sein kann, gerät zu einer Umdeutung historischer Tatsachen. Und wie die Zuschauerreaktionen und selbst die Bewertungen ausgebildeter Historiker zeigen, hat diese illusionäre Art der Umdeutung auch erhebliche Wirkung gezeigt.

László de Almásy, der Held des Films, wird als Wüstenforscher und Liebender vorgeführt, und dabei wird genehm unter den Tisch gekehrt, daß er

- ein Antidemokrat war, der 1921 einen monarchistischen Putschversuch in Ungarn unterstützte

- ein Nazi-Kollaborateur war, der der Wehrmacht in Nordafrika nicht nur freiwillig, sondern unter hohem persönlichem Einsatz diente und dafür mit zwei eisernen Kreuzen ausgezeichnet wurde

- 1943 ein Buch über Rommels Libyenfeldzug veröffenlicht hat, in dem er die Unbesiegbarkeit der Wehrmacht und die Qualitäten Rommels als Feldherr pries

Diese politischen Fakten sind Grund genug, die Romantisierung de Almásys in "Der englische Patient" kritisch zu begutachten; ein zweites Täuschungsmanöver betrifft dann den >romantischen< Aspekt des Films. Denn László de Almásy war wie gesagt homosexuell. Frauenaffären sind von ihm nicht bekannt, in seinem Nachlaß wurden aber 80 leidenschaftliche Liebesbriefe an einen deutschen Wehrmachtsoffizier namens Hans Enholt gefunden wurden, den er erfolglos vor seiner Verschickung an die "Ostfront" zu schützen versuchte.

Schwul sein ist bei Gott keine Verfehlung - es ist aber eine Frage der künstlerischen Aufrichtigkeit, ob ich als Regisseur aus einem historischen Homosexuellen einen filmischen Heterosexuellen mache, weil mir das dramaturgisch in den Kram paßt.

Mit dem echten Almásy, der seine beträchtlichen Fahigkeiten als Pilot und Wüstenforscher mit Erfolg der Wehrmacht andiente und der Männer liebte, konnte der Regisseur von "Der englische Patient" genau wie schon der Autor der Romanvorlage wenig anfangen, und so wurde aus dem historischen László de Almásy im Verlauf eines filmischen Schauprozesses mit bittersüß-tragischem Ausgang ein romantischer Frauenliebhaber und Wüstenheld. Ergebnis: neun Oskars, klingelnde Kinokasse weltweit.

Warum sich mit dem Film beschäftigen? In einer Zeit der Geschichtsblind- und -blödheit, mag es sinnvoll sein, hinter die Fassade zu sehen und nach der historischen Realität zu forschen. Beim englischen und bei anderen Patienten.

(text teilweise aus dem englischen aus einer streitschrift von Elisabeth Salett)


Nr. 8 antwortete am 28.08.02 (23:55):

Oh Gott - wer soll das alles lesen?


pilli antwortete am 29.08.02 (00:08):

@ Nr. 8

na ich zum beispiel, und zwar mit größtem interesse, und das sogar 2x!

danke, Angelika für klärende aussagen. :-)


Angelika antwortete am 29.08.02 (00:42):

aber immer doch :-)
ich selbst habe die bücher von Almásin verschlungen - zumal ich ein absoluter Fan der Lybischen Wüste bin , die ich vom Südosten kommen ein wenig bereisen konnte. Wenn Dich das Thema interessiert. Sein Buch heisst "Die Schwimmer in der Wüste" - phantastisch und interessant! Angelika


Edith antwortete am 29.08.02 (09:43):

Pilli, da schließ ich mich Dir an. Danke Angelika! Hochinteressant, Deine Ausführungen!


Nr. 8 antwortete am 29.08.02 (11:35):

@Pilli

Na, aber vielleicht nicht als "Diskussions-" Beitrag


Dieter Wunderlich antwortete am 29.08.02 (14:52):

Hallo Angelika,

danke für deinen engagierten Beitrag über das Buch und den Film "Der englische Patient". Dieses Beispiel habe ich in meinem Auftakt bewusst nicht gewählt, weil klar ist, dass es dazu geteilte Meinungen gibt. Da du dich mehr mit der Frage beschäftigst, ob halbauthentische Filme oder Bücher akzeptabel sind oder nicht, eröffne ich mit meiner Antwort einen neuen String mit dem Titel "Sind halbauthentische Geschichten erlaubt?"

Viele Grüße,
Dieter

Internet-Tipp: https://www.dieterwunderlich.de/


Heidelinde antwortete am 29.08.02 (15:29):

Hallo Dieter,
ob Bücher oder Filme? Kann ich nicht eindeutig beantworten. Beim Bücherlesen wird die Phantasie, beim Film werden die visuellen Sinne angeregt. Eine poetische Sprache im Buch wird man im Film in schöne Bilder umwandeln müssen. Leider ertappe auch ich mich immer wieder dabei, dass mir ein Film nicht so zusagt, wenn mich vorher das Buch so begeistert hat.
Vielleicht sollten wir erst Deine Kritiken lesen, dann den Film ansehen und zur Krönung das Buch. Was hälst Du davon!?
Heidelinde


Dieter Wunderlich antwortete am 29.08.02 (17:51):

Hallo Heidelinde,

jedenfalls freue ich mich über die zahlreichen Besucherinnen und Besucher meiner Website, denn das ist die Belohnung für die viele Arbeit, die ich reinstecke (ca. 600 Buch- und Filmtipps mit zumeist sehr ausführlichen Inhaltsangaben und Kommentaren). Wenn auch der/die eine oder andere dadurch angeregt wird, eines der empfohlenen Bücher zu lesen oder einen der Filme anzusehen, ist der Zweck erfüllt.

Viele Grüße,
Dieter

Internet-Tipp: https://www.dieterwunderlich.de/


Angelika antwortete am 29.08.02 (18:38):

Lieber Dieter - dass Du ausgerechnet den "Englischen Patienten" weggelassen haben willst, kann ich nicht so ganz glauben...zwinker...denn es gibt über jeden Film geteilte Meinungen - und das ist gut so!

Kommen wir aber noch mal zu "Dr. Schiwago" - sehr frei verfilmt nach dem grossartiben Buch von Borsi Pasternak, an dem er 10 Jahre schrieb und das ein sehr umfassendes Bild der russischen Revolution gibt. Sehr frei eben nur ist die Verfilmung... denn aus dem Geschichtsroman wurde eine der kitschigsten Hollywoodliebesfilme. Zugegeben - wunderschön - aber eben nur mit einem Hauch an das Buch erinnernd. Der Film besticht durch die grossartigen Darsteller und die Landschaftsaufnahmen Ich sah den Film mit 14 Jahren oder so und las den Roman Jahre später - und fragte mich, ob beides überhaupt miteinander zu tun hat.

Bevor ich mich aber an die von Dir aufgegebenen Hausaufgaben setze sei noch bemerkt, dass Du entweder schlecht recherchierst auf Deinen Seiten oder recherchieren lässt. Denn die Inhaltsangaben sind hier nicht ganz richtig. Du schreibst:

"Ihr Vater Juri A. Schiwago (Omar Sharif) war als Waise von reichen Verwandten aufgenommen worden. Er studierte Medizin und heiratete Tonja (Geraldine Chaplin), die Tochter seiner Pflegeeltern. Der Arzt wird 1903 zu der jungen, schönen Lara (Julie Christie) gerufen, die sich durch einen Selbstmord von ihrem Liebhaber, dem durchtriebenen Geschäftsmann Komarovski (Rod Steiger), befreien wollte."

Das ist nicht richtig: Juris späterer Schwiegervater, ein angesehener Moskauer Arzt, aus einer Abendgesellschaft wird von Komarowski zu dessen Geliebten gerufen, die einen Suizidversuch unternommen hat - diese ist nicht, wie Du schreibst, Lara, sondern deren Mutter. Juri als angehender Mediziner begleitet ihn und sieht das Mädchen Lara dabei wieder, dem er zuvor schon einmal begegnet war - zusammen mit Petja, der später als Revolutionsführer nur noch Strelnikov genannt wird. Erst in der weiteren Handlung nach dem Suizidversuch der Mutter wird Lara die Geliebte des reichen Komarowski - war aber sicher nur ein Vertipper von Dir.


Zu deiner Frage "ist halb authentisch" erlaubt - beziehst Du die Authenzität auf die Filmkunst, den Inhalt oder den Vergleich Buchvorlage/Libretto/Film?
Sicher kann kein Film je authentisch sein denn das hiesse 1:1 eine Dokumentation sehen. Nehmen wir noch mal das beispiel Dr. Schiwago - jeder erinnert sich an die Eisenbahnszenen zu den verschiedenen Jahreszeiten. Die Aufnahmen im Sommer wurden zum grossen Teil in Spanien, die Winteraufnahmen in Finnland gedreht, andere Szenen wiederum in den canadischen Rockys, die dann im Film zum Ural werden. Jedem Eisenbahnfan geht das Herz auf, denn er/sie kann die Loktypen so gut unterscheiden wie ein Autofan die Marken und Modelle. Keine der Loks fuhr je in Russland. Hier ein Eintrag aus einer entsprechenden Datenbank: "Ein erheblicher Teil der Eisenbahnszenen wurde in Spanien mit RENFE-Dampflok (2'D, 1'D der Reihe 140.2505 ff., ferner 141.2239 mit hölzerner "Panzerung") des Depots Soria gedreht, andere Szenen hingegen in Finnland (Winteraufnahmen...), finnisches Wagenmaterial ist eindeutig erkennbar; die VR-Dampflok 622 (Baureihe Tv2, 1'D) wurde für die Filmaufnahmen mit einem typisch russischen 'Wodka-Geländer' ausgestattet, das sie bis zu ihrer Verschrottung behielt. Ferner wurde ein Stück Dokumentarfilm aus Kanada verwendet, die dortigen Rocky Mountains sollten den Ural darstellen, und eine Dampflok der Canadian Pacific Rly. Co. ist auch kurz im Bild."
Also wie gesagt - authentisch kann ein Film nicht sein. Wenn aber an der Wahrheit dermassen herumgeschraubt wird wie bei "Der englische Patient" dann hat das nichts mehr mit halber Authenzität zu tun sondern mit - Lüge. Stell Dir vor, jemand würde heute einen Film über Hitler drehen und zeigen, wie er die Juden für sich gewinnen kann und diese seine stärksten verbündeten werden und es am Ende tatsächlich ein Reich gegeben hätte, in dem DIE Sonne nie untergeht ... auch das ist halb authentisch .....aber eben nur halb. Halb schwanger geht auch nicht ...

Angelika

Angelika


schorsch antwortete am 30.08.02 (12:54):

Da ich, wenn ich einen Roman gelesen habe, ihn später in der verfilmten Version enttäuschend fand, vermeide ich es grundsätzlich, Gelesenes in einen Film gepackt nochmals zu konsumieren. Denn es ist oft brutal sich etwas anzusehen, das man in seiner Fantasie irgendwie bunter in Erinnerung hat.


Geli antwortete am 30.08.02 (13:20):

Hallo Angelika,
ich bewundere Dich und Dein umfassendes Wissen (nicht nur hier)!

Hallo Schorsch,
genauso sehe ich es auch!


DorisW antwortete am 30.08.02 (14:40):

Ich habe einige Werke als Buch und als Film genossen, beispielsweise "Der Herr der Ringe", "Der Zauberberg", "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins"...
Jedes Medium hat seine Stärken und erzielt die besten Ergebnisse, wenn es sich auf diese Stärken konzentriert.

Ich meine, daß man einen Film am besten genießen kann, wenn man nicht mit der literarischen Vorlage im Hinterkopf ständig vergleicht und lauert, sondern den Film als eigenständiges Werk betrachtet. (Dies ist *nicht* als Anmerkung zu der weiter oben geführten Authentizitäts-Debatte gedacht.)

Was ich absolut schauderhaft finde, sind Bücher, die aufgrund eines Films nachträglich geschrieben werden. Ein Beispiel, "Der Rosenkrieg", war eines der ganz wenigen Bücher, von denen ich mich nach kurzer Lektüre abgewendet habe, ohne es ganz zu lesen und mir erst dann ein Urteil zu bilden.
Einen Film in ein Buch zu pressen, scheint nicht zu funktionieren, sondern ergibt nur ein schales Abbild, wie eine welke, ergraute, zwischen Buchdeckeln gepreßte Blume.


sonnenball antwortete am 30.08.02 (15:37):

Solche welken, ergrauten, gepreßten Blumen können aber von hohem Wert sein. Ich besitze auch noch eine.


Dieter Wunderlich antwortete am 30.08.02 (17:32):

Hallo Doris,
ja, genauso sehe ich das auch. Ich kenne eine ganze Reihe von Romanverfilmungen, die eigenständige Kunstwerke sind und mit der Vorlage auf gleichem Niveau.

Hallo Sonnenball,
um welches Buch zum Film handelt es sich da?

Viele Grüße,
Dieter

Internet-Tipp: https://www.dieterwunderlich.de/