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THEMA:   Ein kleiner großer oder ein großer kleiner Tag?

 4 Antwort(en).

Gila begann die Diskussion am 02.07.01 (22:39) mit folgendem Beitrag:

Folgende Erzählung habe ich in einem Forum gelesen. Nach einiger Recherche habe ich herausgefunden, dass sie von Wolfram Eicke stammt. Ob der vorliegende Text der Originaltext oder nacherzählt ist, weiß ich nicht. Die Geschichte hat mir aber so gut gefallen, dass ich sie euch nicht vorenthalten will.

Der kleine Tag
Es war einmal ein kleiner Tag. Er lebte mit seinen Eltern und Geschwistern dort, wo alle Tage leben, bevor sie auf die Erde kommen, und wo sie auch nachher bleiben, wenn die Nächte sie wieder von der Erde verscheucht haben. - Kein Mensch weiß, wo dieser Ort ist, denn wer könnte schon sagen, wo die Tage bleiben, wenn sie ihren Dienst erfüllt haben? Jeder von ihnen kommt nur ein einziges Mal auf die Erde und nie wieder. Ein Tag ist einmalig. Es wäre ja auch ganz unmöglich, dass ein und derselbe Tag zweimal geschieht.
Jeder Tag möchte in seiner Zeit etwas ganz besonderes sein. Jeder Tag, der von der Erde wiederkommt, wird von den anderen ganz gespannt erwartet und erzählt, was er so erlebt und geleistet hat.
Die Eltern des kleinen Tages waren sehr berühmte Tage gewesen. Sein Vater hatte Königskinder geboren und Kaiserhochzeiten gefeiert, mit vor Stolz geschwellter Brust erzählte er jedem, der es gerne hören wollte, und auch denen, die es nicht interessierte, was er denn geleistet hatte.
Auch seine Mutter war etwas ganz besonderes gewesen. In der Zeit, die seine Mutter auf der Erde verbracht hatte, waren Vulkane ausgebrochen und Millionen von Menschen gestorben, Kriege wurden geführt und viele Menschen erinnerten sich mit Schaudern an die Mutter des kleinen Tages.
So konnte es der kleine Tag nicht abwarten, selbst auf die Erde zu kommen, jeden Tag fragte er seine Mutter, wann er denn dran sei, und seine Mutter antwortete jedes Mal: "Bald mein Sohn, bald."
Und eines Tages war es so weit. Der kleine Tag war an der Reihe, auf die Erde zu kommen. Er konnte es gar nicht abwarten. Voller Freude sprang er runter auf die Erde und war...... enttäuscht.
An seinem Tag schien noch nicht mal die Sonne. So lange er wartete, die Sonne kam nicht zwischen den Wolken hervor, es war kalt, trübe und regnerisch. Keine Kriege wurden geführt, keine Kaiserkinder getauft und die Könige sahen es auch nicht ein, zu sterben.
Vor lauter Langeweile begann der kleine Tag die einfachen Menschen zu beobachten. Er beobachtete, wie Kinder geboren wurden, wie Menschen sich verliebten und küssten, er sah, wie Menschen sich gegenseitig Kraft gaben und kleine Feste feierten. Er sah, wie Menschen, die in Qualen gelebt hatten, in Frieden starben und letzte kleine glückliche Stunden im Kreise ihrer Angehörigen und Freunde verbrachten.
Menschen lebten... .
Und gegen Abend ging die Sonne unter, ohne dass sie sich je dem kleinen Tag gezeigt hätte. Doch der kleine Tag war glücklich.
Der kleine Tag kam zurück und wurde von den anderen Tagen erwartet, sie verhöhnten ihn und lachten ihn aus, weil er keine Kaiserkinder geboren oder getötet hatte, er hatte nichts besonderes vollbracht.
Der kleine Tag versuchte zu protestieren, er wollte ihnen erzählen, wie schön er doch gewesen sei, aber keiner hörte ihm zu. Ein Tag ohne Sonnenaufgang und -untergang war kein großer Tag.
So war der kleine Tag ganz traurig, weil die anderen Tage nicht sahen, wie groß er doch gewesen war... .
Ein Jahr strich vorüber und an dem Jahrestag seines Daseins auf der Erde kam ein GANZ GROSSER TAG von der Erde wieder.
Der kleine Tag horchte auf, denn es war ja sein Jahrestag.
Mit Stolz geschwellter Brust kam der Tag von der Erde und berichtete, dass er ein GANZ GROSSER TAG gewesen sei. Er war ein WELTFEIERTAG gewesen, die ganz Welt hätte gefeiert, alle zusammen.
Der kleine Tag drängte sich nach vorne, um besser hören zu können.
"Genau vor einem Jahr", erzählte der Weltfeiertag, "war ein ganz besonderer Tag gewesen. An diesem Tag wurden keine Kriege geführt, keine Verbrechen begangen und alle Menschen lebten in Frieden miteinander. Einen solchen Tag hatte es noch nie gegeben und deshalb haben ihn alle Menschen gefeiert."
Die anderen großen Tage wichen ehrfürchtig vor dem kleinen Tag zurück, sie hatten nicht bemerkt, wie groß doch der kleine Tag gewesen war, und schämten sich deshalb.

Mir fällt dazu ein alter Eskimospruch ein:
„Mögen alle meine Fehler sich auf ihre Plätze begeben und möglichst wenig Lärm dabei machen.“

Auf das Märchen übertragen:
„Mögen alle großen Tage sich auf ihre Plätze begeben und möglichst wenig Lärm dabei machen.“

Eine schöne Woche mit vielen kleinen großen Tagen wünscht euch Gila.


Werner antwortete am 03.07.01 (07:58):

Hallo, Gila!

Gefällt mir gut, die Geschichte. Hier hast Du sie ganz:

https://www.fortunecity.de/lindenpark/klimt/111/geschichten/tag.htm

Gruß von Werner.


Georg Segessenmann antwortete am 03.07.01 (08:38):

Ja, wenn wir doch nur mehr daran denken würden, dass wir keine grossen Taten vollbringen müssen um Daseinsberechtigung zu haben. Ein Jeder tue doch einfach das, was seine Aufgabe als kleines Rädchen im grossen Getriebe ist. Auch wenn wir dabei hin und wieder trocken laufen. Merke: Geschmiert werden ohnehin nur jene Räder, die am lautesten giexen!

Schorsch


Gila antwortete am 05.07.01 (00:12):

Hallo Werner,
herzlichen Dank für deinen Tipp. Ich habe mir die vollständige Geschichte gleich kopiert. Sie ist wunderschön. Rolf Zuckowski hat übrigens ein Musical dazu geschrieben. Ich habe mir die CD schon bestellt.
Die Website, die du empfohlen hast, gefällt mir sehr.
Herzl. Gruß
Gila


Werner antwortete am 05.07.01 (07:49):

Hallo, Gila!

Aber gerne doch! Wenn ich etwas suche, "google" ich, finde meistens, was ich suche.
Übrigens ist die Geschichte aus dem Büchlein "Wieviele Farben hat die Sehnsucht?" (Lucy Körner Verlag). Diese Märchenbuch-Reihe finde ich super!

Ich finde Zuckowski auch toll (wg. meiner Enkel). Da findet sich auch allerlei im Netz (Texte z. B.)hier:
https://lyrics.lipetsk.ru/search.php3?band_id=7978

Schönen Tag Dir, und Gruß von Werner.