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THEMA:   Selbstmord oder Freitod

 25 Antwort(en).

e-l-e-n-a begann die Diskussion am 08.07.01 (14:52) mit folgendem Beitrag:

Aus gegebenem sehr traurigen Anlass hatte die Presse, insbesondere die Bild-Zeitung, über ein prominentes Mitglied unserer Gesellschaft zu berichten, das sich selbst das Leben genommen hat.

Es wurde dabei – in großen Lettern, wie bei diesem Presseerzeugnis üblich – das Wort Selbstmord verwendet. Der Gebrauch dieser Vokabel bringt mich ins Grübeln – Mord ist ein schweres, das schwerste Verbrechen, das ein Mensch begehen kann.

Aber ist es ein Verbrechen, wenn ein Mensch sich entscheidet, Hand an sich selbst zu legen und freiwillig aus dem Leben zu scheiden? Ist es nicht ein Schritt, der den Mut beweist, eine verzweifelte und subjektiv empfunden auswegslose Situation zu beenden? Ist es richtig, dieses mit einem Wort zu belegen, das diese Entscheidung in die Nähe einer kriminellen Handlung rückt? Ich hätte mir in besagter Schlagzeile das Wort Freitod gewünscht

Es mag eine Hinterlassenschaft christlicher Ideologie sein, die Verfügung über Leben, und sei es das eigene, untersagt und das einer höheren Instanz überlassen zu sollen meint. Unser Sprachgebrauch mag davon noch – gedankenlos – geprägt sein. Eine solche Tat aber erschüttert uns und macht uns betroffen, verdient unsere Anteilnahme und nicht etwa eine unterschwellig womöglich immer noch vorhandene Verurteilung.

(Internet-Tipp: https://www.seniorentreff.de)


Horst Krause antwortete am 08.07.01 (16:13):

dem ist nichts hinzuzufügen, es ist alles gesagt, ich schließe mich kommentarlos an.


Heidi antwortete am 08.07.01 (16:23):

>>Ist es nicht ein Schritt, der den Mut beweist, eine verzweifelte und subjektiv empfunden auswegslose Situation zu beenden?<<

Selbstmord, Freitod, Suizid...

Ich halte es für sehr bedenklich in welchem Maße die Flucht aus dem Leben, um nichts anderes handelt es sich hier, verharmlost wird. Seid wann ist es mutig zu fliehen?

Die Neigung in unserer Gesellschaft, dem subjektiv Unerträglichen durch Selbstmord oder Mord auf Verlangen zu entfliehen, scheint immer mehr zuzunehmen

(Internet-Tipp: /seniorentreff/de/diskussion/threads/thread359.html)


M.Threin antwortete am 08.07.01 (18:37):

Selbst -Mord ist sicher nicht der richtige Begriff dafür, wenn Menschen den „Freitod“ wählen. Natürlich ist Freitod auch immer eine Flucht vor dem was noch kommen könnte und was man nicht erleben möchte. Für mich ist es ein Unterschied, ob jemand mit 68, oder mit 18 geht. Ich habe Respekt davor, wenn jemand sagt „Ich habe mein Leben gelebt, ich kann gehen und dann den Freitod plant und das dann auch erfolgreich umsetzt.“ Das ist für mich nicht feige, sondern mutig. Anders ist es, wenn jemand einen Selbstmord begeht, um auf sich aufmerksam zu machen und eher aus Versehen dabei umkommt, weil ihn keiner findet, oder wenn sich jemand umbringt, der sein Leben noch vor sich hat, weil er noch sehr jung ist. Ein Fremder kann und sollte nicht entgültig beurteilen, wie ein Freitod zustande kam. Hier sind Angehörige und Freunde in der Verantwortung.
Ich halte es für mich nicht für notwendig so lange zu leben, wie die Medizin es heute möglich machen kann. Das muss und will ich mir nicht antun und kann verstehen, wenn andere das auch nicht wollen. Wer das möchte, kann das ja für sich so entscheiden. Diese Entscheidung muss jeder für sich persönlich selbst treffen, die kann einem keiner abnehmen.


lisa antwortete am 08.07.01 (18:56):

hallo,
ganz recht, subjektiv empfundene verzweifelte ausweglose Situation. Niemand kann ein Urteil sprechen. Vorher, da ist derjenige sehr allein, selbst wenn von anderen umgeben. Immer erst danach ist "Aufgeregtheit", besonders wenn es sich um eine Person des sog. öffentlichen Lebens handelt, Prominente.
Ob es ein Trend ist, eine solche Flucht der gelebten Realität vorzuziehen, es wird nur in solchen Momenten darüber laut geredet.
Betroffenheit, Erschütterung. Vielleicht ringt gerade jemand ganz in der Nähe, von Bekannten, mit so einem Entschluß, da er sich, subjektiv, in einer hoffnungslosen Situation sieht und leidet. Die Stunde nutzen will, wo man noch selbst eine Entscheidung treffen kann. Ja, wo sind die jetzt Betroffenen - Vorher!
Im Alltag, wer will ernsthaft jemandem beistehen, wer kann es. Man wird immer weggeschickt zu angeblich Fachleuten, mit vielen Ratschlägen auf den Weg. Man sieht sich überfordert, allein schon von einfachster Mitmenschlichkeit, einmal zuzuhören. Etwas Beachtung und Aufmerksamkeit schenken. Man hat Angst vor "Verbindlichkeit". überhört die Bitten nach Hilfe gern, bis man nicht mehr bitten kann, sich getraut. man immer vor verschlossenen "Türen" steht.
Wer gestattet sich zu ermessen, wo die Grenze eines Menschen, im Aushalten von - es gibt so vieles was hier zu nennen wäre - liegt.
ich respektiere es, wenn es auch für mich "einfach" ist und die nahen Angehörigen, Freunde, sich Fragen stellen werden, auf die sie nun keine Antworten mehr bekommen, es sehr schwer wird.

lisa


KlausD antwortete am 08.07.01 (22:00):

Ich sehe das genau so wie Lisa und M.Threin.

Nur Mut zur eigenen Überzeugung!


Georg Segessenmann,alias Georg von antwortete am 09.07.01 (13:10):

Kein Mensch hat das Recht über etwas zu urteilen, das er nicht verstehen kann, weil ihm fremd. So könnten also auch nur jene jemandes Freitod verstehen, die selber schon diese Barriere überschritten haben.
Liebe Heidi, Deine sonstigen Ideen hier schätze ich sehr, ja bewundere sie manchmal. Aber gerade Du solltest doch "in Ausübung Deines Amtes" wissen und verstehen, dass dort, wo das Leben zur Marter wird, ein Mensch das Recht haben sollte, über seine "Flucht aus seinem unerträglich gewordenen Körper" selber zu entscheiden. Ich bewundere den Mut von Hannelore Kohl - und ich hoffe, dereinst den gleichen Mut aufbringen zu können!

Schorsch


Anni antwortete am 09.07.01 (14:30):

Lisa und Schorch muß ich vollkommen zustimmen. Jeder hat das Recht über sein Leben zu bestimmen. Jeder hat das Recht Schluß zu machen wenn er das Leben nicht mehr für lebenswert hält, egal aus welchen Gründen auch immer. Ich bewundere Frau Kohl. Es gehört sehr viel Mut dazu so zu handeln.


Horst antwortete am 09.07.01 (15:04):

Wissen wir denn, was in einem Menschen in einer solchen
Situation vorgeht? ich traue mir kein Urteil zu, weil ich ähnliches noch nicht selbst erlebt habe. Vor einem solchen Schritt steht Verzweiflung, und dann gehört viel Mut dazu.


Sammy antwortete am 09.07.01 (17:47):

Bei dem anstehenden Thema kommt es m.E. auf die Sichtweise des Einzelnen an.Wird dem Einzelnen eine freie Verfügung über sein eigenes Leben,aus welchen Gründen auch immer,nichtzugestanden,dann mordet er sein eigenes Leben (SELBSTMORD).
Wird ihm diese "Verfügungsgewalt" für sein eigenes Leben zugestanden,dann entscheidet er alleine (frei von gesellschaftlicher und religiöser Etik) über sein Leben (FREITOD).


Gisa Ruf antwortete am 09.07.01 (19:42):

Der Freitod, ein freier Tod, ist eine hochindividuelle Sache, die zwar niemals ohne gesellschaftliche Bezüge vollzogen wird, mit der aber letztlich den Mensch mit
sich allein ist, vor der die Sozietät zu schweigen hat!


Heidi antwortete am 09.07.01 (21:43):

Hallo Schorsch und alle anderen die mich meinen, wenn sie von "verurteilen" sprechen.

Ich muss wohl meinen Beitrag vom 8.7.01 noch ergänzen, damit er richtig verstanden wird .

1. Ich verurteile niemanden der, aus welchen Gründen auch immer, sich selbst tötet. Das steht mir nicht zu und das ist auch jedermanns eigene Entscheidung.

2. Für mich ist die Selbsttötung immer noch Flucht es gehört, aus meiner persönlichen Sicht heraus, kein Mut dazu sich zu töten, aber sehr viel Mut trotz aller "Unerträglichkeiten" weiter zu leben.

3. Was ich kritisiere ist nicht der Akt der Selbsttötung einer Person sondern die Reaktion, die Kommentare und die Art und Weise wie damit umgegangen wird. Die Selbsttötung wird verharmlost und durch Worte wie "mutig" auch noch verherrlicht.

Es gab an anderer Stelle hier eine kurze Diskussion über den Hang von Jugendlichen zur Selbsttötung. Hier waren die Kommentare anders. Niemand hat da von "Mut" gesprochen. Aber wie sollen Jugendliche den Mut finden, sich dem Leben zu stellen, wenn in der Gesellschaft das "Recht über das eigene Leben" oder "das Recht auf Selbsttötung oder Tötung auf Verlangen" als wünschenswert dargestellt wird.

Der Wert des Lebens wird zum persönlichen Eigentum ohne Rücksicht auf die Mitmenschen. Dabei wird vergessen, das wir keine Einzelmenschen sind. Wir leben in einer Gemeinschaft und die Handlungen eines Einzelnen betreffen auch immer andere Menschen.

Jeder hat das Recht über sein Leben zu bestimmen - wenn ich religiöse Vorschriften einmal ausschließe - Ja! Aber nur dann, wenn diese Handlungen andere Menschen nicht betreffen oder belasten. Und wann ist das jemals der Fall?

Wenn wir das gerade aktuelle Beispiel nehmen (das war wohl auch der Aufhänger für dieses Thema), glaubt einer, dass die Zurückgebliebenen sich jetzt wohl fühlen? Wird sich nicht jeder aus der direkten Umgebung der Verstorbenen insgeheim Vorwürfe machen? Wird sie nicht sehr vielen Menschen fehlen? Sehr viele Menschen sind in diesem Falle betroffen...

Ich sehe "in Ausübung meines Amtes" ,wie Schorsch so schön schreibt, täglich Menschen in einem Zustand den ihr alle für unerträglich halten würdet. Glaubt mir, die meisten dieser Menschen haben noch Lebensfreude, sie äußert sich vielleicht anders als die Lebensfreude der Jungen und Gesunden, aber es gibt sie noch!


Georg Segessenmann antwortete am 09.07.01 (22:07):

Zitat Heidi:

Jeder hat das Recht über sein Leben zu bestimmen - wenn ich religiöse Vorschriften einmal ausschließe - Ja! Aber nur dann, wenn diese Handlungen andere Menschen nicht betreffen oder belasten. Und wann ist das jemals der Fall?

Liebe Heidi, ich kenne Menschen, die sind durch das Wissen, dass ein Angehöriger von ihnen jahrelang furchtbar leiden muss, mehr belastet als sie es dann sind, wenn dieser geliebte Angehörige endlich seine irdischen Qualen los wird.

Schorsch


Heidi antwortete am 09.07.01 (22:16):

Schorsch, - ich kann nur meine eigene Einstellung und meine eigenen Erfahrungen darstellen. Ich kenne auch genügend Angehörige, die trotz oder vielleicht auch wegen dieser Erleichterung noch heute an Schuldgefühlen leiden.


brigitte8 antwortete am 09.07.01 (22:28):

Ich möchte Euch allen meine Anerkennung aussprechen über das hohe Niveau auf dem Ihr diese Debatte geführt habt.Ich denke es ist alles gesagt zu diesem Thema von ganz verschiedener Sicht aus aber ohne den anderen anzugreifen und das freut mich bei diesem Diskussionsforum. brigitte8


Heidi antwortete am 10.07.01 (00:18):

Noch ein Schlußbeitrag:

Der Ölbaumgarten


Er ging hinauf unter dem grauen Laub
ganz grau und aufgelöst im Ölgelände
und legte seine Stirne voller Staub
tief in das Staubigsein der heißen Hände.

Nach allem dies. Und dieses war der Schluss.
Jetzt soll ich gehen, während ich erblinde,
und warum willst Du, dass ich sagen muss,
Du seist, wenn ich Dich selber nicht mehr finde.

Ich finde Dich nicht mehr. Nicht in mir, nein.
Nicht in den andern. Nicht in diesem Stein.
Ich finde Dich nicht mehr. Ich bin allein.

Ich bin allein mit aller Menschen Gram,
den ich durch Dich zu lindern unternahm,
der Du nicht bist. o namenlose Scham...

Später erzählte man, ein Engel kam - .

Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht
und blätterte gleichgültig in den Bäumen.
Die Jünger rührten sich in ihren Träumen.
Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht.

Die Nacht, die kam, war keine ungemeine;
so gehen hunderte vorbei.
Da schlafen Hunde, und da liegen Steine.
Ach eine traurige, ach irgendeine,
die wartet, bis es wieder Morgen sei.

Denn Engel kommen nicht zu solchen Betern,
und Nächte werden nicht um solche groß.
Die Sich-Verlierenden lässt alles los,
und die sind preisgegeben von den Vätern
und ausgeschlossen aus der Mütter Schoß.


Rainer Maria Rilke


Hanna antwortete am 10.07.01 (10:37):


Danke allen, die mitgessprochen haben.
Jeder , wenn er aufrichtig ist, kann nur seine Sicht der Dinge beitragen. Und entscheiden muß jeder für sich selber. Aber: wenn er nicht mehr fähig ist seine Entscheidung austzführen und andere "meinen" es zu wissen? Wo gibt es eine Vorsorge?


lisa antwortete am 10.07.01 (15:26):

hallo Hanna,
du fragst nach Vorsorge. Es gibt die Patientenverfügung, als mir bekannte Möglichkeit, eigene Grenzen zu setzen für die Apparatemedizin.
Vorsorge hat für mich noch eine andere weitere Fassung. Sie liegt nach meinem Dafürhalten, zuallererst bei uns selbst, wie wir Nähe zulassen und uns anderen auf die Weise zuwenden. Es hört sich einfach an, ist es jedoch nicht. Das erfährt man immer erst zu spät, wenn man jemanden braucht, dem man vertrauen kann, sich mitteilen, anvertrauen.
Freunde. der Begriff "Nahestehende". Der sagt nicht das, was es sein Könnte. Ausgeklammert werden, aus welchen Gründen auch immer, doch persönliche Gefühle, Ängste, Sorgen. Um jemand nicht zu belasten, überfordern. Der sog. Freundeskreis für die frohen Stunden vorgehalten wird. Oder Freizeit verplant nach Terminen, immer beschäftigt, so auch etwas fernhaltend. Das andere, die Einsamkeit, ob allein oder in einer Partnerschaft. Auch das ist ein Tabuthema an das nicht gern gerührt wird, man darin wie gefangen ist und doch seinen Alltag bewältigt.
Wie "macht" man das nun, in dieser lauten Zeit. Wer nimmt sich die Zeit für derart Aufmerksamkeit, Hinwendung und wer ist bereit, dieses anzunehmen. Es ist leider! so, daß heut schon hinter jeder Aufmerksamkeit ein Zweck vermutet wird, NUR eine Forderung dahintersteht, dafür etwas "zahlen" zu müssen, gleichwertig leisten dafür. Wie das gewachsen ist, ich weiß es nicht. Für mich eine gräßliche Vorstellung, wenn ich jemandem ein Geschenk mache und dieser beim Auspacken schon in Gedanken den (Geld)Wert veranschlagt, um sich entsprechend zu revanchieren. Diesen Eindruck habe ich oft, von Herzen einfach freuen darüber, das ist selten.
Wie auch immer. Das Mißtrauen ist zu groß. Vielleicht auch, weil zu oft erfahren wurde, das Persönliches, in einer "schwachen" Stunde geäußertes, mal als Unterhaltungswert in Talkshows dient ? Man sich mit solchem Wissen "schmückt".
Ich finde solches abschreckend, Resultat: man trägt lieber an Kummer allein.
Wie lernt man Vertrauen zu schenken und anzunehmen. Sich darin frei zu bewegen, auf einen Freund so zugehen zu können. Wo Vertrauen und Diskretion noch zusammengehören, eine freie Verbindlichkeit, die für zwei Menschen etwas in ihrem Leben und Weg, befreiendes haben können.

Lisa


Gerlinde antwortete am 11.07.01 (21:22):

Was den freiwilligen Tod betrifft; ich sehe in ihm weder eine Sünde noch eine Feigheit. Aber ich halte den Gedanken, dass dieser Ausweg uns offensteht, für eine gute Hilfe in Bestehen des Lebens und seiner Bedrängnisse.... H.Hesse

Nur damit die Angehörigen sich besser fühlen weiter zu leben, finde ich nicht richtig. Wenigstens im Leiden sollte der Mensch an sich denken und frei entscheiden dürfen. Jeder, der einmal auf einer Intensiv-Station gelitten hat, weiss wie sehr man mit seinem Schmerz alleine ist. Egal wieviel Angehörige oder Freunde er hat.


Gerda antwortete am 13.07.01 (22:19):

Liebe Gerlinde!
Ja, genauso ist es! Da halte ich es so wie Hesses "Werwolf".

Liebe Heidi!
Ist das Verstehen,Zuwendung oder Liebe, wenn nahe Angehörige sich besser fühlen, wenn die betroffene Person leidet und das Leben so unerträglich findet, daß sie es beenden möchte, es aber lediglich den Angehörigen zuliebe nicht tut? Den Angehörigen zuliebe, die bei jedem Krankenbesuch zwar mit-leiden, im übrigen aber ein eigenständiges Leben führen (und auch sollen)? Nur wegen vielleicht schlechtem Gewissen(warum eigentlich?) oder der Scham, einen Selbst-MÖRDER in der Familie zu haben? Abgesehen davon, daß sich das meist in Gesprächen klären läßt, finde ich es als ziemliche Zumutung für einen bereits unerträglich leidenden Menschen, darauf auch noch Rücksicht nehmen zu müssen.
Noch etwas möchte ich sagen: Du hast schon in einigen Beiträgen geschrieben, daß auch schwer Pflegebedürftige Freude am Leben empfinden. Da auch ich viele Jahre mit alten Menschen, ihren Problemen, Pflegestationen und Sterbenden zu tun hatte, möchte ich auch meinen Eindruck sagen dürfen: die meisten dieser Menschen warten auf den Tod. Auch wenn sie keine Schmerzen haben, empfinden sie sich als Belastung und als unnütz. Selbstverständlich können sie sich über Kleinigkeiten freuen, lachen oder traurig sein. Selbstverständlich sind Tagesstruktur, Anregungen, kleine Pflichten, Kontakte mit Menschen etc. hilfreich. Aber die Grundstimmung bleibt und das hat nach meinem Dafürhalten nichts mit Depression zu tun. Könnte es sein, liebe Heidi, daß Du Gespräche über das Warten auf den Tod nicht zuläßt und sie deshalb nicht stattfinden?
Liebe Grüße, Gerda


Heidi antwortete am 13.07.01 (23:21):

>>Könnte es sein, liebe Heidi, daß Du Gespräche über das Warten auf den Tod nicht zuläßt und sie deshalb nicht stattfinden?
<<

Nein, Gerda, könnte es nicht.
Für mich und die meisten der alten Menschen mit denen ich kommuniziere ist der Tod allgegenwärtig, nicht als Schreckgespenst sondern sehr häufig als erwarteter Freund und wir sprechen auch darüber.
Mit den kleinen Freuden meine ich nicht die Aktivitäten unserer "Seniorenspielwiesen" sondern z.B. die Freude einer alten Dame die stundenlang vor dem Aquarium saß und den Fischen zusah. Sie liebte diese kleinen bunten Fische. Oder die Freude eines alten Mannes, dem ich die Lieder seiner Jugendzeit vorspielen konnte, die Freude einer verwirrten alten Dame, die ich jeden Abend zu Bett bringe , über einen kleine Gutenachtkuss auf die Wange - "Danke für Liebe" sagt sie dann immer und ist glücklich (ich auch). Die Freude einer alten Studienrätin, für die ihre Schmerzen "die tägliche Arbeit" sind, die sie leisten muss und die jeden Abend sagte, diesen Tag habe ich noch gehabt, wie schön.
Natürlich gibt es genauso viel Leid. ...

Was ich nicht verstehe ist, warum sich so viele hier durch meine Äußerungen angegriffen fühlen. Ich habe, glaube ich, betont, dass ich nur meine persönliche Einstellung zu diesem Thema darstelle. Nichts liegt mir ferner als diese Einstellung irgend jemanden aufzuzwingen. Warum also diese Verteidigungsaktionen?


Friedgard antwortete am 15.07.01 (18:04):

Ich stoße mich an dem Wort "Selbstmord". Warum nicht "Selbsttötung"?
Der Fall, an den wir hier alle denken: ich glaube, daß eine ungeheure Verzweiflung und Ratlosigkeit diesem Schritt vorausgegangen sind. Nicht Mut, sondern Verzweiflung sind meines Erachtens oft Auslöser zu dieser Handlung.
Trotz der Familie muß sie sich sehr verlassen gefühlt haben und außerdem: durch ihr Leben im Dunkel hat sie auch die Familie bedrückt, sie glaubte vielleicht, ihre Angehörigen von dem Dunkel, das ihr aufgezwungen war, befreien zu müssen.
Heidi: sicher haben Leidende auch Momente, in denen sie sich freuen - Augenblicke. Aber dazwischen liegen Tage, Stunden und vor allem: Nächte voller endlosem Leiden.
Leidende können sich vielleicht oft deutlicher freuen als Gesunde, die kleine Gesten übersehen oder als selbstverständlich hinnehmen.
Ich habe in der Familie ein 5 1/2 jähriges Warten auf den Tod erlebt und weiß, wovon ich spreche.


Heidi antwortete am 16.07.01 (05:31):

Wert und "Unwert" des Lebens..

Lesenswerter Artikel in der Frankfurter Rundschau heute:

"..Was unsere Gesellschaft von alt und unproduktiv gewordenen Menschen hält, können die Betroffenen sich täglich beim Blick in die Zeitung vergegenwärtigen, wo von "Vergreisung", "Rentenkrise" und einer "Explosion der Gesundheitskosten" die Rede ist.

Die Alten und Kranken haben längst angefangen, jenes gesellschaftliche Werturteil über ihr Leben zu verinnerlichen. Das dokumentieren eindrucksvoll die Aussagen von Euthanasiewilligen, die die Wissenschaftlerinnen Corrie Koppedraijer und Anne-Mei The gesammelt haben.Da sagt Els, eine 43jährige unheilbar lungenkranke Frau: "Was hab' ich vom Leben, wenn ich es nicht mehr genießen kann? Was ist dann der Wert des Lebens?" und läßt sich von ihrem Hausarzt beim Suizid helfen...."

https://www.fr-aktuell.de/fr/160/t160001.htm

(Internet-Tipp: https://www.fr-aktuell.de/fr/160/t160001.htm)


Rainer Schulze antwortete am 16.07.01 (10:11):

Es ist hier immer wieder von "SELBSTBESTIMMUNG" geschrieben worden. Genau diese Selbstbestimmung
gibt es aber in den wenigsten Fällen, wenn jemand sich selbst tötet odere es versucht. Und es sind ja nicht nur
alte, unheilbar köperlich kranke Menschen, sondern eher seelisch kranke Menschen und dabei auch Kinder,
Jugendliche usw., die sich überfordert fühlen. Und vielfach gar keinen Grund dazu haben, sich überfordert zu
fühlen, wie sie später evtl. herausfinden. Ich habe einen Selbstmordversuch hinter mir, er liegt noch gar nicht solange zurück. Ich kann nur jedem empfehlen, über Selbstmordgedanken mit Angehörigen, Freunden, Ärzten
zu sprechen. Wer weiß übrigens, warum sich Hannelore Kohl wirklich das Leben genommen hat?! Nur sie!
Vielleicht nicht einmal das, wie ich oben versucht habe darzulegen.

Suizid ist weder mutig noch feige, sondern schlicht und einfach eine Verzweiflungstat, weil der Betroffene
keinen Ausweg mehr sieht und nicht mehr frei über sein Leben entscheidet, also ganz das Gegenteil von dem,
was uns Medien oder auch Frau Meisel einreden.

(Internet-Tipp: https://go.to/Rainer.Schulze)


Gerlinde antwortete am 21.07.01 (23:18):

Lieber Rainer, ich denke wenn man, so wie Du es vorschlägst,zuerst mit Ärzten, Angehörigen oder Freunden spricht,macht man es ohnehin nicht. Es sind doch Verzweiflungstaten bei denen das logische Denken aussetzt. Wenige werden, wenn sie davor genau darüber nachdenken, es wirklich tun. Meist sehen Partner eine Suizid Ankündigung als Erpressungsversuch und nehmen sie gar nicht ernst.
Ich hoffe dass es Dir wieder besser geht und wünsche Dir alles Gute,Gerlinde

Trotz aller Enttäuschungen, Plackerei und zerbrochener Träume, das Leben ist schön!


Rainer.P.Schulze antwortete am 24.07.01 (20:31):

Hallo, Gerlinde(?),

da ich Dir nicht mit persönlicher Mail antworten kann, mache ich es öffentlich: Ja, es geht mir gut
und nicht nur besser! Wenn Du Dir meine Homepage ansiehst, dann wirst Du auch verstehen, daß
mich mein Engagement für psychisch Kranke ebenso wie die ehrenamtliche Arbeit für meine Kirchengemeinde
ausfüllen. Gerade bei der Arbeit mit meinen Probanden am PC bekomme ich auch Anerkennung, was ja z.B.
im Beruf nicht immer der Fall ist, wenn man den falschen Chef hat, so daß man sich fragt, was man falsch
macht und an seinem Können zweifelt. Das war mein Problem - und auch nach dem Ausscheiden aus dem Dienst
hat sich dies noch fortgesetzt. Ich habe meine Probleme schließlich dadurch überwunden (hoffe ich!), daß ich nachts über meinen Lebensweg nachgedacht habe - und einigen Leuten per email meine Gedanken mitgeteilt habe. So etwas wird ja auch in Kliniken gemacht, wo die Patienten aufschreiben sollen, wie Ihr Leben abgelaufen ist.

Natürlich hast Du recht, daß Suizidankündigungen oft als "Erpressungsversuch" interpretiert werden und nicht
als Hilfeschrei. Umso wichtiger ist es, darauf hinzuweisen, daß dies niemals der Fall ist! Und wehe, ein Suizidgefährdeter bekommt diese Einstellung mit, dann wird alles nur noch schlimmer!

Das Fatale an psychischen Erkrankungen und dem Suizid ist, daß es tausende (wen nicht mehr) Abläufe gibt,
so daß die Behandlung und das Erkennen der Krankheitsanzeichen auch für Ärzte nicht leicht ist.

---

Was ich über Hannelore Kohl denken soll, weiß ich auch nach den auszugsweisen Veröffentlichungen Ihres
Abschiedsbriefes nicht. Ich glaube auch nicht, daß er das wiedergibt, was letztendlich sie zum Suizid getriebn hat.

(Internet-Tipp: https://go.to/Rainer.Schulze)