Archivübersicht | Impressum

THEMA:   Der Brief im Nachtschrank

 2 Antwort(en).

Angelika Schütz begann die Diskussion am 15.10.00 (21:04) mit folgendem Beitrag:

Marinus van den Berg

Der Brief im Nachtschrank

In der geriatrischen Abteilung eines englischen Krankenhauses starb kürzlich eine alte Frau. Als die Schwester, die sie in der letzten Lebensphase gepflegt hatte, ihren Nachtschrank leerte, fand sie darin keine wertvollen Dinge, wohl aber einen Bogen Papier, den die alte Frau mit mühsam geformten Buchstaben gefüllt hatte. Dort stand:

Was siehst Du, Schwester? Was siehst Du?

Eine starrsinnige alte Frau, schon etwas verwirrt, ein wenig unsicher, mit starrem Blick. Eine alte Frau, die beim Essen kleckert und die keine Antwort gibt, wenn man mit energischer Stimme sagt: "Ich wünschte, Du würdest Dir jetzt einmal Mühe geben." Eine alte Frau, die scheinbar keine Deiner Verrichtungen wahrnimmt. Die immer wieder etwas verlegt, einen Strumpf oder einen Schuh. Die Dich widerspruchslos alles machen läßt. Die mit Waschen und Essen die langen Tage ausfüllen läßt. Denkst Du das? Siehst Du das?

Dann öffne einmal Deine Augen, Schwester! Du schaust mich ja nicht einmal an. Ich werde Dir sagen, wer ich bin, ich, die hier sitzt. Die pinkelt, wenn Du es befiehlst, und ißt, wann Du es willst.

Ich bin ein kleines zehnjähriges Mädchen mit Vater und Mutter, mit Brüdern und Schwestern, die einander lieben.

Eine zwanzigjährige Braut bin ich, und mein schlägt schneller, wenn ich and das Versprechen denke, das ich gab.

Fünfundzwanzig bin ich und habe selber Kinder, für die ich ein sicheres, glückliches Haus schaffen muß.

Eine dreißigjährige Frau bin ich, und die Kleinen, durch bleibende Band miteinander verbunden, werden schnell groß.

Vierzig bin ich. Meine Söhne sind erwachsen und aus dem Hause gegangen. Aber mein Mann ist bei mir und sorgt, daß ich nicht trauere.

Fünfzig bin ich - und wieder spielen Kinder auf meinem Schoß.

Dann folgen dunkle Tage. Mein Mann ist tot. Ich sehe der Zukunft entgegen und erschauere vor Angst. Denn meine Kinder haben jetzt selbst Familie. Ich denke an die Jahre der Liebe, die ich erlebt habe. Jetzt bin ich eine alte Frau. Die Zeit ist grausam. Es ist ein böser Scherz der Zeit, Alte wie Toren aussehen zu lassen. Mein Körper ist hinfällig geworden, Grazie und Kraft sind verschwunden. An der Stelle, da ich ehemals ein Herz hatte, ist jetzt ein Stein.

Aber.... in diesem alten Gerippe wohnt noch jenes kleine Mädchen. Manchmal klopft das alte Herz etwas schneller. Ich erinnere mich der Freude und des Schmerzes. Ich liebe wieder. Ich lebe mein Leben aufs Neu. Ich denke an die entschwundenen Jahre - vorüber, zu schnell verflogen - und akzeptiere die bittere Wahrheit, daß nichts von Dauer ist.

Öffne die Augen, Schwester, und schau! Sieh nicht diese starrsinnige alte Frau an. Schau einmal genau hin, Schwester!

Schau.... mich .. an!


Gerlinde antwortete am 16.10.00 (09:21):

Liebe Angelika, zutiefst berührt habe ich diese Zeilen gelesen. Genau solche Gedanken hatte ich bei meiner Mama, als ich stundenlang an ihrem Bett verbrachte. Wir alle waren einmal Kinder, jung, fröhlich und voller Hoffnung.Danke für diesen schönen Beitrag!
Eine schöne Woche wünscht Dir
Gerlinde


Edith antwortete am 16.10.00 (13:40):

Liebe Angelika,
ein tief anrührender Brief. Danke!
Dir wünsche ich viel Kraft bei Deinem Engagement in der Krankenhaus-Arbeit.
Liebe Grüße,
Edith