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Zwischen den Fronten

 

Was nun folgte, das war kein Rückzug mehr. Das war Flucht. Die Aussicht, wieder auf deutsche Truppenverbände zu stoßen, war gleich Null. Was uns noch blieb, war die vage Hoffnung, in den Händen der Partisanen am Leben zu bleiben. Man durfte nicht darüber nachdenken.

Wir waren es nicht allein, die den Ort Lovas fluchtartig verließen. Auch Teile der Dorfbevölkerung hatten sich mit hochbeladenen Pferdegespannen, mit Kind und Kegel, auf den Weg gemacht. Vielleicht wollten sie sich vor den zu erwartenden Kampfhandlungen in Sicherheit bringen, um hinterher wieder zurückzukehren. Diese Kampfhandlungen haben nicht stattgefunden.

Wie wir sehr viel später erfuhren, waren zu dieser Zeit unvorstellbar viele Menschen auf der Flucht; als Vertriebene aus den Ostgebieten, als Deutsche und Deutschstämmige, als Volksdeutsche aus den südöstlichen Staaten; die Kollaborateure in den ehemals von uns eroberten Gebieten und natürlich nicht zuletzt die Amtsträger und Gesinnungsgenossen im Gefolge jenes 'großen Führers'.

Wie schlimm das für jeden einzelnen gewesen sein mag, sie befanden sich immerhin durchweg als Zivilisten in ihrem Sprachraum. Man konnte unters Volk. Es fanden sich Möglichkeiten unterzutauchen. Wir dagegen hetzten in Uniform und ohne Sprache durch fremdes und inzwischen feindliches Gebiet. Uns blieb nur völlig abzutauchen. Das aber hieß Hunger, Durst und absolute Ruhelosigkeit. Diese Tage waren für uns so finster, dass ich mich nicht zu erinnern weiß, wie lange wir diese Tauchfahrt durchgestanden haben.

Irgendwann stießen wir auf eine Gruppe Männer, die von Oberleutnant Roßbach angeführt wurde. Von da an machten wir wenigstens wieder einen kampffähigen Eindruck. So geschah es denn noch am gleichen Tage, dass wir auf etwa zweihundert Metern Abstand an einer Partisaneneinheit vorbeizogen und wir allesamt so taten, als sähen wir uns gegenseitig nicht. Wozu auch? Die da drüben würden uns schon noch einfangen. Das geschah dann auch an einem Mittag, ganz in der Nähe des kroatischen Städtchens Vinkovci.

Tags zuvor hatten wir am Nachmittag Deckung in einem Weingarten gefunden. Dort verweilten wir erst einmal, um neue Kräfte zu sammeln. Viel Sichtschutz boten die unbelaubten Weinstöcke nicht; aber so, wie wir erschöpft am Boden lagen, waren wir so leicht nicht auszumachen. Neben einem gemauerten Doppelbecken für die Spritzmittelzubereitung fand sich eine Wasserzapfstelle, an der wir unseren Durst löschen konnten.

Von diesem Weingarten bis zur Landstraße waren es höchstens dreihundert Meter. Dazwischen lag unbebautes und sichtfreies Gelände. Auf der Straße zogen und rollten ununterbrochen Militärkolonnen und Kettenfahrzeuge vor uns vorüber. Zumindest bei den Marschkolonnen schien es sich um russisches Militär zu handeln, was wir an ihrem vielstimmigen Marschgesang zu erkennen glaubten.

Ich weiß nicht so recht, ob es ein Glück für uns war, dass sich uns ein Feldwebel der Pioniere angeschlossen hatte, der mit Sicherheit zu sagen wusste, dass das vor uns liegende Ackerland bis zur Straße vor kurzem von seiner Einheit dicht vermint worden sei. Diesem offenen Gelände schloss sich zur Rechten ein weitläufiges Sumpf- oder Moorgebiet an. Da hatten wir nun die Wahl: Sumpf oder Minen. Wir entschieden uns für den Sumpf.

Wir warteten noch bis zum Einbruch der Dunkelheit. Dann bewaffneten wir uns mit Pfählen, an denen man ursprünglich die Rebstöcke angebunden hatte, und auf ging's, mit Oberleutnant Roßbach an der Spitze. Er hatte sich als Pfadfinder angeboten. Aber mit dem Pfad war das so eine Sache.

Es war inzwischen stockfinster geworden, so dass man absolut nichts mehr erkennen konnte. So war jeder mit seiner Angst allein. Allerdings achtete ich darauf, zum Vorder- wie zum Hintermann soviel Abstand zu halten, dass niemand haltsuchend nach mir greifen konnte. Zum Schluss suchte ich mir meinen eigenen Weg. Immer hatte ich den Eindruck, dass sich unser Vermittlungstrupp in meiner Nähe befand.

Als wir nach einer knappen Stunde wieder festen Boden unter unseren Füßen verspürten, waren von den etwa hundert Männern noch zweiunddreißig, die sich wieder bei Oberleutnant Roßbach einfanden. Wo alle anderen geblieben sein mochten, wusste niemand zu sagen. Hatte der Sumpf sie verschlungen oder hatten sie sich an anderer Stelle gesammelt? Wir sind keinem dieser Männer mehr begegnet.

Weiter ging's, und schon bald standen wir am Ufer eines Flüsschens, das wir nicht einzuordnen wussten. Nicht weit von uns entfernt, wir glaubten eine Brücke ausgemacht zu haben, vernahmen wir jugoslawische Gesprächsfetzen. Da waren sie schon wieder, die Tito-Partisanen. Also auf und durchs Wasser, das da träge vor uns dahinfloss. Bei einer maximalen Wassertiefe von etwa eineinhalb Metern, war das kein Problem. Im Gegenteil, dieses Wasser säuberte uns von dem Morast unserer Sumpfwanderung. Schon bald hatten wir wieder festen Boden unter den Füßen. Aber was war das? Wir waren keine fünf Minuten unterwegs, da standen wir wieder an einem Flussufer. Waren wir im Kreis gelaufen? Also wieder zurück. Als wir dann aus dem Wasser stiegen, hatten wir wieder die serbokroatischen Gesprächsfetzen im Ohr. Irgendwann hatten wir es dann endlich kapiert. Genau an der Stelle, an der wir den Flusslauf zu durchqueren versuchten, landete man zuerst einmal auf einer kleinen Insel. Das erklärte alles. Als wir dann endlich dieses Flüsschen hinter uns hatten, vermisste ich meinen Stahlhelm. Er musste sich im Wasser von meinem Koppel gelöst haben. Nun dümpelte er vermutlich in Richtung Donau. Da hatte ich also ungewollt bereits mit meiner Abrüstung begonnen.

Es muss dann mitten in dem Ort Mirkovci gewesen sein, als uns ein Trupp Partisanen laut schwadronierend entgegenkam. Ein Ausweichen war uns nicht mehr möglich. Also legten wir uns in Reihe auf den Boden, dicht an die Häuserwände gepresst. Durch die Finsternis des regenverhangenen Himmels blieben wir unentdeckt. Dass niemand über uns gestolpert ist, so dicht zogen diese Partisanen an uns vorüber, grenzte schon an ein Wunder.

In jener Nacht hatten wir uns dann im dichten Buschwerk eines jungen Buchenbestandes verkrochen, um etwas zu verschnaufen. Gegen den Durst leckten wir den Frühtau von den zarten Blättern. Einige zerkauten das junge Grün, um einen Geschmack auf die Zunge zu bekommen. Da wir die letzten Tage nicht mehr zum schlafen gekommen waren, plagte uns neben Hunger und Durst lähmende Müdigkeit. In der Dunkelheit narrten Halluzinationen unsere schmerzenden Augen. Eine plötzlich auffliegende Taube jagte uns lähmenden Schrecken in die Glieder. Als dann der Morgen graute, trieb ein leichter Wind milchige Nebelfetzen auf uns zu, die sich ebenfalls in bedrohliche Gestalten zu formieren schienen.

Mit einem Mal waren es dann doch keine Spukvorstellungen mehr. Eine kleine Gruppe von Partisanen hatte uns wohl ganz zufällig aufgestöbert. So unvermittelt, wie sie lärmend aufgetaucht waren, verschwanden sie wieder im Nebel. Wir waren entdeckt. Wenn sich im Augenblick auch nichts weiter tat, diese kurze Begegnung leitete die nächste und wohl auch letzte Runde ein.

Wir machten also auf und weiter. Nach zwei Stunden etwa begegnete uns ein halbwüchsiger Bursche auf einem Pferd. Er schien zu Tode erschrocken, als wir uns unvermittelt vor ihm aufbauten.

Den Weg der nächsten halben Stunde legten wir gemeinsam zurück, bis wir dann endlich offenes Gelände vor uns hatten. In dieser ersten Aprilhälfte waren die Felder für die Bestellung hergerichtet oder die Aussaat bereits im Boden. Aber es gab nichts, was einem Deckung bot. Hinter leichten Bodenwällen lag ein einzelnes Gehöft. Ob es bewohnt war, ließ sich nicht ausmachen. Es rührte sich nichts. Um uns darüber Klarheit zu verschaffen, schickten wir unseren jungen Reitersmann nach drüben. Der Junge machte keinerlei Umstände und setzte sich unverzüglich und ohne Furcht, wie uns schien, in Trab. Er verschwand bald hinter diesen Mauern und ward nicht mehr gesehen.

Zeit darüber nachzudenken blieb uns nicht. Die Gruppe, die in der Früh zum Wecken erschienen war, hatte sich zu einer kampfstarken Einheit aufgefüllt und griff uns aus dem Wald heraus an. Fast zur gleichen Zeit wurden wir aus einer Bodensenkung, etwa auf dem halben Wege zum Gehöft, unter heftiges MG-Feuer genommen. Die Angreifer vor und hinter uns waren kaum zweihundert Meter voneinander entfernt. Ein Optimist hätte annehmen mögen, dass diese Partisanen untereinander einen Streit austrügen. Solange wir aber genau dazwischensteckten, hätte uns auch das keinen Vorteil verschafft.

Einer von unserer Stabskompanie war mit einem Zielgerät ausgerüstet. Er nahm sich die MG-Stellung vor. Als diese merkten, dass sie im offenen Gelände nichts mehr ausrichten konnten, sprangen sie aus der Deckung, um an uns vorbei den Wald zu erreichen. Es waren drei Mann, die zwei MGs deutscher Bauart mitführten. Offensichtlich war ein vierter Schütze getroffen in der Deckung liegengeblieben. Aber die drei erreichten den Wald auch nicht mehr. Unsere letzte Handgranate traf einen dieser Schützen im Rücken, wo sie in gleicher Sekunde explodierte. So streckte sie auch die beiden anderen MG-Schützen nieder.

Jetzt hatten wir auch noch zwei MGs mit Munition. Bei einem dieser Geräte war allerdings das Zweibein durch einen Granatsplitter abgerissen worden. Aber, in welchem Zustand auch immer, was wollten wir jetzt überhaupt noch mit diesem Zeugs. Was wir brauchten, war etwas gegen den Hunger und gegen den Durst. Und endlich, endlich zur Ruhe kommen wollten wir, unter welchen Bedingungen auch immer.

Brot und Wasser gab es ganz in der Nähe, dort drüben im Gehöft. Ohne diese unverhoffte Aufrüstung wären wir aber wohl gar nicht mehr bis dorthin gekommen. Als unsere Angreifer im Wald feststellten, dass wir jetzt auch noch über Maschinenwaffen verfügten, verschwanden sie genau so schnell wie ihre Vorhut am frühen Morgen.

Wir haben an diesem Vormittag einen Mann verloren. Es war einer von meinen Vermittlungsleuten. Eine Kugel war ihm in die Kehle eingedrungen und hatte ihm offensichtlich das Genick zerschlagen. Er war sofort tot. Ich bin zu ihm, habe seinen Brotbeutel und den spärlichen Inhalt seiner Taschen an mich genommen. In seinem Brotbeutel befanden sich ein Stück Kunsthonig und drei Packungen Zigaretten zu je hundert Stück Inhalt. Es waren die Verpflegungszigaretten unserer Truppenversorgung. Der eichenlaubverzierte Markenaufdruck auf den dünnwandigen Schachteln lautete "SIEG". Nicht nur alle Räder rollten für den Sieg; auch unsere Rauchzeichen sollten ihn verkünden.

Soldbuch, Erkennungsmarke und einige unbedeutende Kleinigkeiten aus seinen Taschen packte ich zu den Zigaretten. In seinem Soldbuch befand sich auch der an ihn ausgehändigte Nachweis, wonach er als 'Wehrunwürdiger' in einem Strafbataillon Wehrdienst geleistet hatte. Der Gesichtsausdruck des Toten war der eines friedlich Schlafenden. Man mochte ihn in unserer jetzigen Situation beneiden.

Wir mussten ihn an der Stelle zurücklassen, wo es ihn getroffen hatte. Wir brachten ihn in eine würdige Haltung und deckten ihn mit einer dicken Schicht Buchenlaub ab. Mir war bekannt, dass er ein gläubiger Christ war. In einem stillen Gebet bat ich Gott, dass er ihm die Verheißungen seines Glaubens erfüllen möge.

"GOTT MIT UNS" stand damals auf den Koppelschlössern unserer Soldaten. Daran hat sich später mancherlei dumme und überflüssige Polemik entzündet. Ein ganz persönliches "Gott mit MIR" wäre sicherlich eingängiger gewesen. So jedenfalls habe ich das immer aufgefasst und das ganz bewusst an jenem Vormittag.

Der Weg am Waldrand entlang, auf dem nun noch die drei toten MG-Schützen lagen, führte nach etwa hundert Metern über eine steile Böschung hinunter zu einem Bahndamm. Der Höhenunterschied mochte etwa acht bis zehn Meter betragen. Hier unten wollten wir zur Ruhe kommen und abwarten. Es sah so aus, als ob wir hier nicht mehr wegkämen. Zwei von uns bezogen an der Böschungskante Beobachtungsposten.

War's das nun gewesen? -

Zwei Dinge geschahen fast zur gleichen Zeit. Oben, zwischen Waldrand und Gehöft, gingen starke Partisanenverbände in geschlossener Front in Stellung. Mindestens ein halbes Dutzend Maschinengewehre waren in Stellung gebracht worden. In diese Richtung waren also keine Überlegungen mehr anzustellen. Trotzdem ließen wir unsere Beobachter in ihren Positionen.

Aber auch hier unten am Bahnkörper tat sich etwas. Zwei Männer mit geschulterten Karabinern kamen eilig über die Bahnschwellen auf uns zu.

"Kamerad, nicht schießen!"- Sie riefen es uns schon von weitem zu.

Beim Näherkommen sahen wir, dass beide Eisenbahneruniformen trugen. Wir ließen sie also an uns herankommen.

Ein Kommissar der hier eingesetzten Partisanen hatte sie bewaffnet, um mit uns Verbindung aufzunehmen. Der Stab befände sich drüben im Gehöft. Wir sollten unsere Waffen ablegen und mit ihnen kommen.

Wir schickten die beiden mit der Anfrage zurück, ob dieser Kommissar uns eine den Konventionen entsprechende Gefangennahme garantiere. Schon bald erschienen sie wieder mit der Versicherung, dass eine regelgerechte Gefangennahme garantiert werde.

Wohl mehr um für unsere Entscheidung Zeit zu gewinnen, schickten wir sie mit der weiteren Frage los, ob wir jetzt und sofort etwas zu essen bekämen. Angesichts unserer Lage grenzte das schon an Hochstapelei.

Was war zu tun?- Ich war mit meinen 'Wehrunwürdigen' bereits dabei, abzuschnallen. Unserem Oberleutnant ging das entschieden zu hastig, so dass er seine Waffe auf mich richtete. Ich steckte aber so voller Angst vor dem Kommenden, dass ich das kaum registrierte. Ein Feldwebel seiner Stabskompanie lenkte ein. Diesen forderte er dann auf, mit ihm auszubrechen. Ein voluminöses Entwässerungsrohr, welches den Bahndamm unterquerte, benutzten sie als Ausschlupf. Der Verbleib aller anderen machte diesen Ausstieg überhaupt erst möglich. Und wir harrten der Dinge, die da auf uns zukamen.

Wir brauchten nicht lange zu warten. Die beiden Eisenbahner richteten uns aus, dass wir auch zu essen bekämen. Allerdings nur Brot und Wasser. Nun ja, wo wir nicht angemeldet waren, musste das genügen.

Und dann standen wir vor dem Kommissar. - Er sah aus wie ein ganz normaler Mensch. Nicht einmal unsympathisch. Sympathisch konnte er uns in dieser Situation natürlich auch nicht sein. Er saß ohne jede Begleitung auf einem Klappstuhl und befragte uns nach unseren Einheiten und nach unserem letzten Einsatzort. Als einige von uns etwas näher an ihn herantreten wollten, wies er sie barsch zurück. Der Abgang von Oberleutnant Roßbach und seinem Feldwebel blieb unbemerkt.

Brot und Wasser gab es reichlich auf diesem Bauernhof, zu dem wir vor Stunden den berittenen jungen Burschen hingeschickt hatten. Wir bekamen ihn aber nicht mehr zu sehen.

Während wir noch gierig unser weißes Brot verschlangen, begann die nicht abgesprochene Wertsachenübergabe ohne jede Feierlichkeit.

Eine recht junge Frau, fast noch ein Kind, rammte mir den Lauf einer englischen Maschinenpistole gegen den Bauch und schrie mich, mit Blick auf meinen Verlobungsring, an:

"Hajde skidai!" Das sollte ohne Zweifel "Los, ausziehen!" heißen. Woher sollte ein anständiger Christenmensch das wissen. Frauen, die einem solches abverlangten, gehörten nicht zu meinem Umgang.

Aber dieses Ausziehen war gar nicht so einfach. Mein Verlobungsring wollte auch mit Gewalt nicht über meinen Fingerknöchel. Dieser war, wie die meisten meiner Glieder, durch die Anstrengungen der letzten Tage angeschwollen. Aber das zählte nicht. "Hajde skidai!", schrie sie immer wieder, dass sich ihre Stimme dabei überschlug. Endlich hatte ich es geschafft, mit viel Spucke und mit meinen Zähnen. Noch während sie meinen Ring wegsteckte, ging sie auf ihr nächstes Opfer los.

Doch war das erst der Anfang. Nachdem wir reichlich Brot gegessen hatten, mussten wir Rücken an Rücken in Zweierreihe antreten. Jetzt kam der Inhalt der Taschen an die Reihe.

Da musste mir jetzt schnell etwas einfallen, sonst war ich meine persönlichsten Dinge los. Es fiel mir auch etwas ein. Ich hatte in beiden Innentaschen meiner Feldbluse je eine Brieftasche stecken. Die wertvollere enthielt meine persönlichen Dinge, vor allem Fotos meiner Braut und meiner Familie. In einer Stecktasche, ebenfalls aus Leder, ein Werbepräsent der Firma, bei der ich bis zu meiner Einberufung gearbeitet hatte, in dieser Stecktasche waren meine Papiere. Selbstverständlich auch mein Soldbuch.

Ich guckte mir also einen halbwegs sympathischen Burschen aus und bot ihm meine Schätze an. Was ich anzubieten hatte, das war schon was. Aus einem kleinen eleganten Etui aus Saffianleder zauberte ich einen silberglänzenden Rasierapparat hervor und veranstaltete eine regelrechte Vorführung. Was wusste ich, womit er bisher seinen Bart bearbeitet hatte. Er war jedenfalls entzückt von diesem Schmuckstück. Aus meiner Brusttasche zog ich einen wertvollen MONTBLANC-Füllhalter hervor, dessen Vorzüge und Qualität ich wie auf einem Jahrmarkt anpries. Einen passenden Drehbleistift des gleichen Herstellers legte ich zum gleichen Preis noch oben drauf. Er hatte schon eine Hand voll verschiedenen Schreibzeugs. Dieses Qualitätsangebot aus meinen Taschen steckte er aber sofort weg.

Jetzt wurde es allmählich eng mit meiner Offerte. Ich zog die Stecktasche heraus und zeigte ihm deren Inhalt. Die Tasche fand er annehmbar;  meine Papiere, auch mein Soldbuch, wirbelten durch die Luft in den Straßengraben. Ich durchsuchte noch einmal alle meine Taschen nach weiteren Gegenständen und hätte weinen mögen, dass ich nichts mehr für ihn fand. Ich zeigte noch den Inhalt des Brotbeutels, den ich am Vormittag an mich genommen hatte. Mit diesem Kunsthonig wusste er nichts anzufangen. Die Papiere landeten ebenfalls im Graben. Die Zigaretten, oh Wunder, die ließ er mir. Ich musste wohl an einen Nichtraucher geraten sein. Statt dessen klopfte er mir auf die Schulter und fand, dass ich ein 'dober', ein guter Kamerad sei. - So blieb ich wohl der Einzige, dessen Taschen nicht weiter kontrolliert wurden. Meine wertvolle Brieftasche war mir geblieben. Außerdem hatte ich für die nächste Stunde einen freundlichen Beschützer an meiner Seite. Das sind so die Wirkungen 'vertrauensbildender Maßnahmen'.

Wie wir in das Städtchen Vinkovci hereingeführt wurden, mussten wir an einer langen Kolonne russischer T34-Panzer vorbei. Die Besatzungen saßen an oder auf den Panzertürmen und riefen immer wieder "Fritzi, Fritzi!", so wie wir die Russen schon immer  "Iwan" nannten. Einige stiegen von ihrem Gerät herunter und machten sich einen Spaß daraus, diesen oder jenen von uns zusammenzuschlagen. Dabei waren wir in einer Verfassung, wo wir fast von selbst umfielen. Ich blieb von diesen Angriffen verschont, weil eben jener Partisan mich wirksam abschirmte. Er ließ niemanden an mich heran.

Als dann aber ein dekorierter Kämpfer auf mich zusprang, seine gewaltige Pistole zog und mich anschrie "Ti ßi Offizier!", "du bist Offizier" also, da ging mein Beschützer und Universalerbe endgültig auf Tauchstation. Und warum sollte ausgerechnet ich ein Offizier sein? Die Luftwaffenuniform war es, die einzige auf dieser Bühne. Jetzt musste ich meinen Text können und zwar sofort. Also griff ich ganz tief in meinen bulgarischen Wortschatz und machte ihm mit Gesten aus der Stummfilmzeit klar, dass ich zur Luftwaffe gehörte, und dass es auf dem Rückzug meine Aufgabe war, bei Luftoperationen die Zivilbevölkerung, die Greise und die alten Weiber, die Frauen und die Kinder, in sichere Unterstände zu bringen.

Ob er mir's geglaubt hat? Ich weiß es nicht. Vielleicht hat es sich schon damals lustig angehört, wenn ich balkanesisch redete. Jedenfalls ließ er von mir ab.

Es waren nur Minuten vergangen, da bekam ich aber wirkliche Probleme. Ohne Ankündigung und unverhofft sprang jemand auf mich zu, riss mir die Brille von der Nase und zerkrümelte sie unter seinem Stiefel:

"Tako, Intelligenzia kapuut!" -

Spontanität und Dummheit in einer Person, dem sollte man weit aus dem Wege gehen. Das hat sich in der nachfolgenden Zeit noch des öfteren erwiesen. Es brauchte länger als ein Jahr, bis ich wieder zu einer brauchbaren Brille kam. Helmut Tietze, mit dem ich zu dieser Zeit wieder zusammen war, schenkte sie mir zu meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag. Er erwarb diese Brille für zwanzig Brotportionen, seine Brotportionen wohl bemerkt. Eine Opfer- und Hilfsbereitschaft dieses Ausmaßes kann man sich heute kaum noch vorstellen. Ich werde später noch darauf zu sprechen kommen. Jetzt fehlte nur noch, dass man mir die Zähne einschlug. Es wurde höchste Zeit, dass wir von der Straße wegkamen.

Ehe ich dieses Kapitel abschließe, möchte ich noch einige Eindrücke wiedergeben, die sich beim Zug durch die Straßen von Vinkovci einprägten. Vinkovci war immer eine blitzsaubere Kleinstadt mit überwiegend mittelständischer Bevölkerung. Es gehörte zum Samstagsputz, die Sockel der Häuserfronten zur Straßenseite immer wieder frisch zu kälken. Die Frauen, die diese Arbeit verrichteten, nannten dies "witschen". Auf die Mehrzahl dieser Häuser hatten die Partisanen bei ihrem Einzug in die Stadt mit roter Farbe in großen Lettern ihre Kampfparolen aufgemalt: Šivio Drug Tito! Es lebe der Genosse Tito! Es lebe Genosse Stalin und die KPDSU! Es lebe die KPJ! - Es wurde reichlich Farbe verwendet, so dass sich die Buchstaben auf den Bürgersteig austränten. Man gewann den Eindruck, als seien dies die Tränen der geschundenen Häuser.

Zerstörte und zerschossene Häuser waren mittlerweile für uns ein gewohntes Bild. Dies hier war etwas ganz anderes. Das waren die äußeren Zeichen der Revolution, einer Revolution, bei der es kein Eigentum mehr geben sollte, bei der Eigentum mit Diebstahl gleichgesetzt wurde. Das war ein Fest für Schwachköpfe und Habenichtse.- Die einheimische Bevölkerung ließ das alles stumm über sich ergehen.

*


 

 

Im Gefängnis von Vinkovci

 

Der Ort, zu dem man uns brachte, war für die Sicherheit geschaffen: Man steckte uns in das Ortsgefängnis. Wir waren nicht die Ersten, die in den vergangenen Tagen hier eingezogen waren. 'Die vom Bahndamm', wie es künftig hieß, wir neunundzwanzig also, wurden im zweiten Stock auf zwei Haftzellen verteilt. Einziges Mobiliar: Eine durchgehende Holzpritsche und ein gusseiserner Ofen. Man brauchte sich nicht einmal zu waschen. Die Pritsche wäre mit sechs Mann belegt gewesen. Wir aber waren vierzehn. Das hieß, dass sich die Hälfte dicht bei dicht auf der Pritsche einrichtete. Der Rest suchte sich einen Platz auf dem Fußboden.

Meine vier von der Festungsbrigade reservierten mir erst einmal den einzigen Fensterplatz, damit ich in vollen Zügen "karierte Luft" genießen könne.

Mit vergitterten Fenstern hatte ich in der Tat keinerlei Erfahrung, aber sie brachten mich momentan auf eine Idee. Sie betraf meine Brieftasche. Ich löste meine Erkennungsmarke von der Halsschnur, an der auch eine ziemlich große Medaille mit dem Abbild der Gottesmutter hing. In gewissem Sinne war das ja auch eine Erkennungsmarke. Mit dieser Schnur befestigte ich meine Brieftasche an den Gitterstäben, so dass meine wertvollen Erinnerungen außen in der Fensternische hingen. Von der Zelle her war dieses Versteck nicht einzusehen.

Was diese Mutter-Gottes-Medaille betrifft, man hat sie mir in den folgenden Jahren nicht weggenommen. Ich habe sie mit nach Hause gebracht. Für meine treue Braut, die bald meine Frau wurde, behielt  diese Medaille, die mich durch Krieg und Gefangenschaft begleitet hatte, zeitlebens große Bedeutung. Bei der Geburt unserer sechs Kinder hielt sie sie fest und vertrauensvoll in ihrer Hand, während ich kümmerlichen Beistand zu leisten versuchte. So sind alle unsere Kinder zu Hause auf die Welt gekommen. Und alle haben sie, im zweiten Rang, den Vornamen Maria mit auf ihren Lebensweg bekommen.

Als hätte ich es geahnt: Noch am gleichen Nachmittag mussten wir alle auf dem Gefängnishof antreten. Die erste Aufforderung lautete: Schuhe ausziehen! Die auf dem Hof anwesenden Partisanen machten sich gleich daran, die Schuhe anzuprobieren. Wenn sie passten, sah man strahlende Gesichter. Es wurde aber auch auf Vorrat anprobiert. Nach einer Weile hatte alles Schuhzeug seinen Besitzer gewechselt.

Anschließend mussten die Uniformen ausgezogen werden. Röcke und Hosen wurden getrennt gebündelt und weggeschafft. Als wir wieder in unseren Zellen waren, bestand meine ganze Habe noch  aus einer Feldmütze und einer graugrünen Garnitur Unterwäsche. Ach ja, Socken besaß ich auch noch.

Insgesamt hatten wir auf der Zelle noch fünf oder sechs Kochgeschirre. Ich selbst besaß weder Geschirr noch Besteck. Mit den Kochgeschirren konnten wir auf dem Hof Wasser zapfen. Auf dem Weg dorthin, treppauf, treppab, gab es regelmäßig Prügel. Auf jedem Treppenpodest stand so ein Bursche und prügelte mit einem Knüppel auf uns ein. Das führte dazu, dass wir sparsam mit dem Wasser umgingen. - Die Zigaretten hatte man uns gelassen. Unsere dreihundert 'SIEG'Zigaretten halfen uns über den Hunger hinweg.

Die Tage vergingen, ohne dass von Verpflegung die Rede war. Fragte man den Wachtposten auf dem Gang, holte man sich grinsend dumme Antworten ein. "Deutsche Mensch nix mehr essen." Oder im Jargon der hier lebenden deutschstämmigen 'Schwaben':"Warum willscht esse? Brauchst nix arbeide, konnscht ganze Dog schloofe."

Als man uns am dritten Tag solches und ähnliches immer noch anbot, gerieten die ersten von uns in Panik.

"Die lassen uns hier eiskalt verrecken!" -

Einer hatte das ausgesprochen, was allmählich jeder von uns dachte. Dabei war zu bedenken, dass wir, außer der Brotgabe bei unserer Gefangennahme, auch Tage vorher nichts gegessen hatten. Zum quälenden Hunger gesellte sich jetzt die Angst. Einer schlug mit wirrem Blick schon wild um sich, wenn man ihn bei dieser Enge auch nur versehentlich anrührte. Da musste recht bald etwas geschehen.

Es dauerte noch weitere zwei Tage, bis endlich die Zellentür zur Brotverteilung aufgeschlossen wurde. Jeder erhielt eine Feldmütze voll dunkler, harter Brotstücke. Es hieß, dass dies eine russische Notverpflegung sei. Im Vergleich dazu war unsere einstige Notverpflegung, die mit Kümmel gewürzte Hartknäcke, schon ein Festtagsgebäck.- Aber wir waren an diesem Tag nicht wählerisch.

Die harten, völlig entwässerten Brotwürfel beschädigten momentan unsere empfindlich gewordenen Mundschleimhäute so sehr, dass uns das Blut in die Mundwinkel trat, und sich die Zähne rot einfärbten.

Nicht lange danach, wir waren noch mit unserem Brot beschäftigt, mussten wir wieder auf dem Gefängnishof antreten. Was sich uns dann darbot, verschlug uns die Sprache. Etwa ein Dutzend englischer und amerikanischer Offiziere und Berichterstatter stellten uns zu einem Interview. Während Kameras liefen, wurden wir nach unseren Heimat- und Einsatzorten befragt. Natürlich fehlte nicht die verständliche Frage nach der Mitgliedschaft in NS-Organisationen. Eine Kamera war voll auf mich gerichtet, als man etwas über mein Befinden erfahren wollte. Ich versuchte ein strahlendes Gesicht, kaute mit blutendem Mund lustvoll auf den harten Brotstücken und brachte mich in meiner Restbekleidung voll ins Bild:

"Wie Sie doch sehen, ganz ausgezeichnet." - Insgeheim kam mir der verwegene Gedanke, dass diese Filmaufnahmen dem deutschen Kinopublikum zugänglich gemacht würden und man mich so vielleicht zufällig entdecken könnte. - Ach ja, ich war schon immer ein Optimist.

Sie sind sich doch alle gleich, diese 'Berichterstatter', bis auf den heutigen Tag! Der geschundene und gedemütigte Mensch liefert immer noch die besten Bilder.

Von der 'Gepäckaufnahme' abgesehen, kamen wir nicht mehr auf unsere Haftzellen zurück. Diese wurden jetzt dringend für die Unterbringung ortsansässiger Bürger mit ihren Familien benötigt. Im Nu war das Haus wieder voll belegt. Wir dagegen wurden auf den Dachboden umquartiert. Der Boden hier oben war grob gepflastert, die gesamte Fläche durch schweres Dachstuhlgebälk mehrfach unterteilt. Vier hochklappbare Dachluken spendeten spärliches Licht.

*

Von nun an wurden wir jeden Morgen zur Arbeit auf Außenkommandos eingeteilt. Dort erhielten wir auch unsere Verpflegung. Qualität und Menge dieser Beköstigung waren, je nach Einsatzort, sehr unterschiedlich. Da sich die 'fetten' und die 'mageren' Kommandos rasch herumgesprochen hatten, gab es auf dem Gefängnishof allmorgendlich heftiges Gedränge und Gestubse, das gelegentlich zu einer handfesten Prügelei ausarten konnte. Für die dabeistehenden Partisanen war das immer ein Fest. In solchen Situationen sah ich zu, dass ich eilig aus dem Bild verschwand. Ich muss allerdings gestehen, dass immer mindestens einer aus meiner Crew an diesen fetten Kommandos partizipierte, und dass da stets etwas für mich abfiel.

Ich war zu Anfang einem Einsatz zugeteilt worden, der so nichts brachte, um den man sich also auch nicht zu prügeln brauchte. Umso sinnvoller erschien mir die dort zu verrichtende Tätigkeit.

In einer ehemaligen Klosterschule befand sich ein noch stark frequentiertes Frontlazarett. Die Verwundeten, die hier täglich in großer Zahl eingeliefert wurden, ließen erkennen, dass derzeit in dieser Gegend noch heftige Kämpfe stattfanden. Die Erstversorgung der Verwundeten auf den Verbandsplätzen erschien mir katastrophal. So mancher Anblick war zum Gotterbarmen.

Wir waren zu dritt in dieses Lazarett abgestellt. Der Eine, ganz hier in der Nähe beheimatet, fungierte außerdem als unser Dolmetscher. Als Volksdeutscher hatte er der legendären Division "Prinz Eugen" angehört. Mit dem Zweiten, einer eher unauffälligen, aber sympathischen Erscheinung, mochte man sich gerne unterhalten. Sein bevorzugtes Thema war die Fotografie, wozu ich auch einiges beisteuern konnte.- Ich hätte diese Begegnung vergessen, wenn ich mit diesem Mann drei Jahre später nicht noch einmal zusammengetroffen wäre. Da war er noch in Begleitung eines Soldaten, allerdings nicht zu seiner Bewachung. Das war sein Fahrer, der Chauffeur seines Dienstwagens. Da war er auch nicht mehr so unauffällig, und sein bevorzugtes Thema war auch nicht mehr die Fotografie. Doch kehren wir in jenes Lazarett zurück.

Wir drei führten hier die Entlausungen durch. Die Kleidungsstücke kamen ungereinigt, blut- und dreckverschmiert, in einen Desinfektionsbehälter, den wir mit Holz aufzuheizen hatten. An diesem Druckbehälter befand sich eine Temperaturanzeige. War die desinfektionswirksame Hitze erreicht, musste diese eine Stunde aufrechterhalten bleiben. Wenn wir anschließend die brühheißen Lumpen mit spitzen Fingern herausnahmen, stank dieses Gelumpe ganz abscheulich.

Zwischen den Verwundeten und uns gab es keinerlei Berührungsängste. Wenn diese Partisanen körperlich noch oder wieder dazu fähig waren, setzten sie sich zu uns. Wir verständigten uns etwas mühsam über unsere Erlebnisse, versuchten festzustellen, ob oder wo wir uns vielleicht einmal gegenübergestanden hatten. - Ich werde nicht vergessen, wie sich eines Tages ein ganz ungewöhnlicher Krieger bei uns einfand. Er litt an einer Schulterverletzung, die ihn aber nicht sonderlich zu behindern schien. Bekleidet war er mit einer englischen Uniformhose und einem knallroten Hemd. Spendabel verteilte er Zigaretten und erzählte von seinen Kampferfahrungen. Dieser notorische Krieger hatte bereits 1936 in Spanien bei einer internationalen Freiwilligen-Brigade auf Seiten der Republikaner für mehr Gerechtigkeit auf Erden gekämpft. Jetzt, wo die 'Faschisten' offensichtlich in den letzten Zügen lagen, schien man aus seiner Sicht dieser Vision ein gewaltiges Stück nähergekommen zu sein. Er zog sein Hemd, das also doch mehr eine Fahne war, aus und zeigte stolz seine Blessuren. Diese Schnitte und Stiche stammten ganz offensichtlich nicht alle von einem Operationsskalpell. Er muss ganz ohne Zweifel ein großer Held gewesen sein. Seine "Oma", eine Italienerin aus Fiume, dem heutigen Rijeka, hatte ihn zweisprachig aufgezogen, in italienisch und serbokroatisch. Mit dieser anerzogenen Sprachbegabung konnte er sich als Legionär schnell mit dem Spanischen vertraut  machen. Dies und seine Art, wohl immer gleich in 'die Vollen zu greifen', hatten ihn dort bald zu einem Kommandoführer avancieren lassen. Sein Deutsch kam aber auch von keiner Klosterschule. In Pristina war er dabei, als man uns anständig Feuer unter den Hintern legte, und in Kragujevac, wo man uns selbigen bis an den Kragen aufgerissen hatte.

Die Frage nach unseren Meriten musste ja kommen. Vorlaut äußerte ich den Verdacht, dass meine Einberufung ein einziges Versehen gewesen sei. Ob er jetzt darüber lachen müsse? Natürlich nicht. Er wollte von mir auch gar nichts wissen. Hier, sein volksdeutscher Landsmann, der sollte ihm erzählen. Ich hielt die Luft an. Nicht so unser 'Schwabe'. Er brachte locker und unbefangen, dass er bei der 'Prinz Eugen' gedient und somit oft genug erlebt habe, dass nicht nur deutsche Ärsche aufgerissen worden seien.- Wer konnte so etwas noch begreifen. Wie zwei Preisboxer saßen nun die beiden zusammen und ergingen sich genüsslich in Details.

Unser Lazaretteinsatz nahm ein abruptes Ende. Auf dem Dachboden unserer derzeitigen Unterkunft war uns ein schlimmes Missgeschick passiert. - Wenn es schon im Bereich der Haftzellen keine Toiletteneinrichtungen gab, brauchte man auf dem Dachboden nicht danach zu suchen. Da auf den Podesten im Treppenhaus nach wie vor munter geprügelt wurde, erledigten wir unsere großen Verrichtungen auf den Arbeitskommandos. Für unsere Nierentätigkeit reichte das aber nicht völlig aus.

Dieser Notstand führte geradewegs zu den vier Dachluken. Dort standen wir also, wenn es die Not verlangte und entleerten unsere Blasen in die Dachrinne. Was war passiert? - An irgendeinem Widerstand hatte sich unser 'Altöl' gestaut. Zu dieser späten Stunde hatte dieses Hindernis wohl mit einem Mal resigniert, und was dann plötzlich dem Fallrohr zustrebte, muss wohl munter geplätschert haben. Doch das wäre nicht weiter schlimm gewesen. Aber dieses Fallrohr reichte gar nicht bis zum Boden. Es war über dem Erdgeschoss zu Ende. Und ausgerechnet an dieser Ecke musste nun gerade ein Wachposten stehen. Vielleicht stand er auch immer dort.

Das war zuviel! - Die ganze Wachmannschaft stürmte den Dachboden und verprügelte uns mit Knüppeln nach Strich und Faden. Von dem Anlass dieser Exekution nichts ahnend, waren wir völlig fassungslos. Als wir dann aber gleich darauf, es war schon finster, auf dem Hof antreten mussten, erfuhren wir von unserem Missgeschick.

Wieder hieß es 'Gepäck aufnehmen'. Jetzt steckte man uns in den Keller des Verwaltungsgebäudes.

Eigentlich war dieser Keller schon belegt, was aber in der Dunkelheit im ersten Augenblick nicht zu erkennen war. Im zweiten waren es die Fußtritte und Flüche, die auf neue Nachbarn hinwiesen.

Der Fußboden war nicht befestigt. Alles war lockerer Sand. Da standen wir im Dunkeln dicht gedrängt.- Versuchte man sich hinzulegen, dann lag dort schon jemand. Versuchte man bescheiden in die Hocke zu gehen, bekam man einen Tritt in den Hintern.

Jetzt nur keine Prügelei! Das hatten wir gerade hinter uns. Mal stehend, mal sich auf die Oberschenkel stützend, sich hinkniend oder wie es die Verhältnisse zuließen, warteten wir das Licht des Morgens ab.

Der Morgen zog herauf, aber viel heller wurde es im Keller trotzdem nicht. Es wurden keine Arbeitskommandos aufgerufen. Es tat sich absolut nichts. War etwa die nächste Abmagerung fällig?

Wir versuchten mit unseren Nachbarn ins Gespräch zu kommen, mit geringem Erfolg. Trotzdem blickten wir allmählich etwas durch. Die zunehmende Lichtempfindlichkeit unserer Augen half uns dabei.

Wir waren in eine Ansammlung gefangener Ustaschi geraten, kroatische Freischärler, die wegen ihrer gnadenlosen Kampfweise gefürchtet und verrufen waren. Dass sie nun hier wie handverlesen herumlagen, ließ auf nichts Gutes schließen.

An der langen Wand lagen ehemals russische Soldaten. Sie waren als 'Hiwis', als Hilfswillige, den deutschen Truppen nach Westen gefolgt, aus welchen Gründen auch immer. Es gibt ja so beflügelnde Hoffnungen wie: Schlimmer kann es nirgendwo sein. Das mag mitunter zutreffen; allerdings muss man sich dann auch die richtigen Wirtsleute aussuchen. Als sich diese Russen unseren Truppen anschlossen, mochte das auch noch so ausgesehen haben. Deshalb haben sie unsere Pferde versorgt, die Kartoffeln geschält und die Motorfahrzeuge betreut. Nun lagen sie hier. Wenige von vielen. Gewissermaßen die 'Retouren' dieses fürchterlichen Krieges. Soweit solche 'Hiwis' aus den demokratischen Ländern des Westens kamen, konnten sie in der Heimat, wenn sie überhaupt dorthin gelangten, mit einem Prozess rechnen. Die Leute aus dem Osten wussten, dass der Tod schon auf sie wartete.

Wer mochte ihnen in dieser Situation verdenken, dass sie uns am liebsten allesamt erschlagen hätten. Wir hatten das schnell begriffen und hielten uns von ihnen fern.

Jetzt wurde doch ein Arbeitskommando zusammengestellt. Allerdings konnten sich nur Leute melden, die noch über Schuhzeug verfügten. Erstaunlicherweise gab es das noch. Auch die russischen 'Hiwis' besaßen noch ihr Schuhzeug. Aber man nahm sie nicht. Mit ihnen hatte man wohl anderes vor.

Als dieses 'Schuhkommando' abgerückt war, hatten wir etwas mehr Bewegungsfreiheit, so dass wir uns wenigstens einigermaßen unbehelligt niedersetzen konnten.

Kurze Zeit danach wurde ein Schreibmaschinenmechaniker aufgerufen. Das war doch etwas für mich, wo ich doch immerhin flott auf der Schreibmaschine schreiben konnte. Da sich keine Konkurrenz auftat, hatte ich den Job.

Wenn ich gehofft hatte, dass ich auch an diesem Morgen das Gefängnis verlassen konnte, so hatte ich mich getäuscht. Die lädierte Schreibmaschine stand hier in der Gefängnisverwaltung, im Vorzimmer des Kommandanten oder Kommissars, der den Gefängnisdirektor abgelöst hatte. Ich nehme an, dass sich dieser zu der Zeit ebenfalls in irgendeiner Haftzelle unter Verschluss befand. - Im Vorzimmer stand ich einer jungen und bildschönen Frau gegenüber. Ich wusste gar nicht, dass es so Schönes überhaupt noch gab. Barfuss, meine Socken waren längst nicht mehr, stand ich ihr in Unterhemd und Unterhose gegenüber und fragte sie beklommen, wo es denn fehlt. -

Ja, die Schreibmaschine. Zuerst hatte sie geklemmt, und jetzt tat sie es überhaupt nicht mehr. Bei genauerem Hinsehen war das nicht verwunderlich, da ein Anker, der den schrittweisen Wagenvorschub bewirkte, abgebrochen war. Bei meinem Sachverstand war das schon gut so. Da brauchte ich gar nicht erst tätig zu werden.

Die junge Frau hatte eine Tüte Kirschen auf ihrem Schreibtisch liegen. Sie forderte mich freundlich auf, zuzugreifen. Ich möge Verständnis dafür haben, dass sie mir die Kirschen nicht herübergeben könne, da sie jeden Augenblick mit dem Erscheinen ihres Chefs rechnen müsse.

Ich werde ein, zwei Kirschen genommen haben. Aber dann habe ich sie nur noch angeschaut. Dies schien mir eine Situation zu sein, in der man dies durfte. Sie blieb freundlich. Sie reichte mir Papier und Bleistift für eine kurze Nachricht an meine Eltern.

In den nächsten Tagen werde sie mit ihrem Chef  eine Dienstreise nach Szeged unternehmen. Von Ungarn aus fände sich möglicherweise eine Gelegenheit, meine Nachricht weiterzuleiten. Ich gab ihr dankbar die Anschrift meiner Eltern mit einem kurzen Lebenszeichen. Ich wollte nicht übertreiben. Den Bleistift ließ sie mir. Als ich mich aufmachte, ging sie mit bis an die Treppe. Völlig unerwartet ergriff sie meine beiden Hände, wünschte mir Gesundheit und sprach mir  guten Mut zu.

Noch ganz benommen schlich ich in den Keller zurück.

Weiter als bis zum Kellereingang kam ich nicht. Nachdem das Arbeitskommando abgezogen war, konnten sich die anderen wenigstens einen Sitzplatz einrichten. Viel zu eng blieb es nach wie vor. Bei meinem Versuch in den Kellerraum vorzudringen, steckte ich so viele Fußtritte ein, dass ich es gleich aufgab und mich auf der Kellertreppe einrichtete.

Hier tat sich gleich eine Aufgabe für mich auf. Auf einer dieser Treppenstufen saß ein Kumpel mit einem Brustdurchschuss. Unser Sanitäter, ein wahrer Engel aus Konstanz, hatte ihn mit allem Verbandszeug, was er noch besaß, gut versorgt. Ein- und Ausschiss waren mit Kompressen abgedeckt. Mehr konnte er nicht für ihn tun. Das Wehklagen dieses Ärmsten hatte ich schon die ganze Nacht über vernommen. Jetzt befand ich mich an seiner Seite. Er hatte Durst, unsäglichen Durst. Also bat ich den erstbesten Posten, mir doch Gelegenheit zu geben, diesem armen Hund Wasser zu besorgen. Der Posten war ein guter Kerl. Er brachte mir das Wasser in einer großen Aluminiumkanne, wie wir sie aus den Kasernen für den Frühstückskaffee kannten. Ich ging natürlich davon aus, dass der Ärmste einen Bauchschuss abbekommen habe. Also dachte ich, soll er Wasser saufen, bis er tot umfällt. Hier hat er eh nichts Gutes mehr zu erwarten. - Er hat wirklich gesoffen, wie ein Pferd, aber daran ist er nicht gestorben. Ein Bauchschuss war's also nicht.- Etwa sechs Wochen später ist er auf einem Arbeitskommando fleckfieberkrank im Fieberdelirium kopfüber in einen Brunnen gesprungen. Das war dann doch zu viel Wasser für ihn.

Für mich sollte dieser Tag wohl ein Glückstag sein. Es dauerte nicht lange, da wurden am Kellereingang zwanzig Mann abgezählt. Ein neues Kommando? - Nein, man brachte uns in einen hellen Raum im Erdgeschoss.

Jetzt mussten alle verbliebenen Kleidungsstücke ausgezogen und für eine Entlausung gebündelt abgeliefert werden. Das galt sowohl für uns, als auch für jene, die im Keller verblieben waren.

Nackend wurden wir auf den Hof getrieben. Dort hatte man Bänke aufgestellt, bei denen etliche Friseure in weißen Kitteln auf uns warteten. Wir bekamen die Köpfe kahl geschoren. Was hatte ich für einen verbogenen Schädel. Ein Glück, dass ich meinen Besuch bei der Schönen schon hinter mir hatte.

Von den inhaftierten Zivilisten erfuhren wir, dass besagtes 'Schuhkommando' am frühen Morgen mit einem Erschießungskommando abgerückt sei. Mein Gott! - Für einen kurzen Augenblick war ich glücklich, dass ich keine Schuhe mehr besaß. Einige Tage später wollte wieder einer jener Zivilisten wissen, dass unsere Leute nicht mehr zurückkommen würden. Ganz in der Nähe seien in größerem Umfange Erschießungen durchgeführt worden. Die Gefangenen hätten dabei die notwendigen Schanzarbeiten verrichtet. Am Ende sollen sie selbst erschossen worden sein. Zurück zu uns sind sie tatsächlich nicht mehr gekommen.

Zu essen gab es während des ganzen Tages nichts. Am frühen Nachmittag erhielten wir unsere entlauste Bekleidung zurück. Auf unserer Komfortstation hatten wir keine Mühe, aus dem stinkendem Bündel unsere Sachen herauszufinden. Wie mochte das aber jetzt unten im Keller zugehen? Zwar waren nur die 'Neuzugänge' entlaust worden, aber das waren doch immerhin weit mehr als hundert Mann. Wie das zugegangen ist, das erfuhren wir am folgenden Morgen.

Wieder hieß es: "Mit Gepäck auf dem Hof antreten." Jetzt hätte dieses angloamerikanische Interview noch einmal wiederholt werden müssen. Wenn jemand seine eigene Wäsche zurückbekommen hatte, so war das Zufall. Einige waren immer noch nackend. Das eine Hemd, die andere Unterhose, waren bei der Klamottenkeilerei zerfetzt worden. Was nun? Dieses Problem wurde auf ganz einfache Weise gelöst. Die fehlenden Hemden und Unterhosen wurden durchgezählt Dann ging eine Gruppe Partisanen hinunter in den Keller, wo es für Augenblicke recht laut wurde. Wenig später konnte die fehlende Unterwäsche an unsere Nackedeis verteilt werden. Statt dessen waren jetzt einige Ustaschi etwas spärlicher bekleidet. Es wurde wieder einmal Zeit, dass wir von hier wegkamen.

Aber das war bereits beschlossen. Man brachte uns an den Stadtrand in ein geräumiges, ehemaliges Eisenbahnsilo.

*

Hier waren überwiegend Leute aus dieser Gegend festgesetzt worden. Man hatte sie aus ihren Häusern geholt, so dass an ihrer Kleidung nicht ohne weiteres festzustellen war, ob sie irgendeinem Truppenverband angehört hatten. Es waren aber auch Leute von der 'Prinz Eugen' unter ihnen.

Nun war erstmals reichlich Platz vorhanden. Sogar eine Kochstelle war eingerichtet, von der wir von nun an versorgt wurden. Ob früh, ob spät, es gab nur ungesalzene Suppen. Es fehlte noch das Salz. Die Salinen an der Adriaküste waren bis vor wenigen Tagen noch von deutschen Truppen besetzt gewesen. Jetzt musste alles erst wieder in Gang kommen. Statt mit Salz würzte unser Koch mit gehacktem Dill. Das schmeckte gar nicht schlecht. Auch Brot wurde täglich verteilt. Die Portionen waren allerdings sehr klein.

Gleich am nächsten Tag gab es zu feiern. Der Krieg war zu Ende! "Hitler kapuut!"- Die Glocken der Pfarrkirche läuteten, und alles was noch Waffen trug, ballerte wild in die Luft. Uns aber war nicht nach feiern zumute.

Die Glocken waren noch nicht verstummt, da geschah etwas Merkwürdiges. Aus dem Städtchen bewegte sich eine Prozession auf unser Lager zu. An der Spitze der Ortspfarrer, mit einer weißen Albe bekleidet. Dieses liturgische Gewand verlieh der Aktion einen offiziellen kirchlichen Charakter, was den Lagerkommandanten zuerst einmal ziemlich verwirrte. Mittlerweile standen an die hundert Menschen vor dem Lagertor. Entweder trugen sie Körbe im Arm oder zogen sogar Handleiterwagen hinter sich her, beladen mit Lebensmitteln aller Art.

Nach kurzem Überlegen gab der Kommandant seiner Wachmannschaft Anweisung, jedwede Geschenkübergabe nur zuzulassen, wenn der Gabenempfänger namentlich benannt werde. Das war natürlich jetzt ein Problem. Die Kroaten, die diesen Disput aufmerksam verfolgt hatten, bildeten im Nu kleine Gruppen, unter denen eiligst auf irgendeinem Fetzen Papier Namenslisten erstellt wurden. Es dauerte nicht lange, bis jenseits der Lagerabsperrung Namen aufgerufen wurden, und der jeweils Benannte 'seine' Liebesgaben in Empfang nehmen konnte. Die deutschen Lagerinsassen hatten sich von dieser Aktion überhaupt nicht angesprochen gefühlt. Sicherlich hoffte manch einer, dass sich die kroatischen Mitgefangenen etwas spendabel zeigen würden. Und so war es auch.

Diese forderten uns aber auf, unsere Namen aufzuschreiben und während der Nacht auf die Bahngleise zu werfen. Als sich dann einige Tage später die Aktion wiederholte, wurden tatsächlich auch unsere Namen bei der Gabenverteilung aufgerufen. Fortan erschienen fast täglich kleine Gruppen am Lagertor, und immer wieder waren auch unsere Leute unter den Beschenkten. Es schienen sich regelrechte Patenschaften gebildet zu haben.

Unser nächstes Arbeitskommando führte zu einer nahegelegenen Ziegelei. Was unsere Arbeit betraf, so schien mir das hier alles ein sinn- und zielloses Hinundherräumen zu sein. Aber was verstand ich schon davon. Zwei Dinge sind mir in Erinnerung geblieben. Auf einem Schutthaufen entdeckte ich eine grobgewebte und zerfranste Hirtentasche, einen blauen Emaillekrug und ein kurzes Textilband mit einem Karabinerhaken. Das war fortan mein Gepäck.

Meine kostbare Brieftasche, die ich mir bisher um den Leib gebunden hatte, konnte ich jetzt bequemer unterbringen. Der Emaillekrug war von der Form her als Kochgeschirr zwar wenig geeignet, doch unsere Suppen konnte man problemlos daraus trinken. Mir fehlte ja auch jegliches Essbesteck.

Das andere, was mir in Erinnerung geblieben ist, hatte mit meiner Arbeit direkt nichts zu tun. Ich saß nämlich auf dem Klo, eines von der ganz bescheidenen Machart. Plötzlich ein Geräusch. Eine Schlange hatte sich bis zur Kniehöhe vor mir aufgerichtet. Sie fixierte mich neugierig züngelnd. Natürlich ging ich davon aus, dass sie giftig sei, denn ich wollte es auf nichts ankommen lassen. Ich getraute mich kaum zu atmen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie endlich von mir abließ, zu Boden ging und rasch wieder verschwand. Huch, ich wischte mir den kalten Schweiß von der Stirn.

Im Silo ging es recht gesittet zu. Die Wachmannschaft ließ uns in Ruhe. Den Kommandanten bekamen wir selten zu sehen.

Bei der Ziegelei arbeitete ich nur wenige Tage. - Ich bekam die Ruhr. Etliche im Lager waren plötzlich an ihr erkrankt, so dass man uns schleunigst isolierte. Abseits vom Wohngebiet, auf einem geräumten Bauernhof improvisierte man ein Lazarett. Als Pflegepersonal waren ein deutscher Arzt und zwei Sanitäter abgestellt. Geleitet wurde diese Krankenstation von einem jugoslawischen Sanitäter, dem man den Titel 'Intendant' verpasst hatte. Seine Entscheidungen und Befunde hatte unser Arzt unbesehen zu akzeptieren.

Mein Zustand verschlechterte sich rapide. Nach wenigen Tagen wurde ich auf die 'Abkratzkammer' verlegt. Hier standen auf engem Raum acht Betten. Unser bisschen Bekleidung hatte man uns weggenommen. Splitternackt waren wir zwischen zwei große Decken gepackt.

Einige meiner Zimmergenossen sahen beängstigend aus. Nie zuvor hatte ich ein solches Ausmaß an Abmagerung gesehen. Der Schädelansatz im Nacken zeichnete sich deutlich zur Wirbelsäule ab. Die Lippen spannten sich dünn um ein viel zu groß erscheinendes Gebiss. Das Hinterteil hatte sich auf ein paar schlaffe Hautfalten reduziert. Da kein Spiegel in der Nähe war, wusste man nicht, wie man selbst aussah. Wurde ich nach meinem Befinden gefragt, so sagte ich ohne jede Ironie, dass ich keinerlei Beschwerden habe. Es war eine eigenartige und wohltuende Ruhe über mich gekommen.

Der Zimmergenosse neben mir war um einiges älter als ich. Er besaß, oder hatte zu Hause eine Druckerei besessen. Wann würden wir erfahren, was uns geblieben war? Mein Bettnachbar litt zeitweilig an sehr großen Schmerzen. Unser Arzt diagnostizierte Blasensteine. Wenn er seine Anfälle bekam, versuchte ich, ihm etwas an die Hand zu gehen. Sonst bewegte ich mich nicht aus dem Bett.

Bei seiner täglichen Visite fragte ich den Arzt, ob er mir Papier und etwas zum Schreiben besorgen könne. Ob ich etwa mein Testament aufschreiben wolle. Dieser Witzbold. Mir war etwas ganz anderes in den Sinn gekommen. Nachdem ich Papier und Bleistift hatte, plante und organisierte ich meine Hochzeit. Ich begann mit einem Verzeichnis aller einzuladenden Gäste, die ich dann um imaginäre Tische platzierte. Zwei Tage sollte gefeiert werden. Dementsprechend stellte ich den Speisezettel zusammen. Alle meine Lieblingsgerichte kamen darin vor. Da gab es nicht nur Schweine- und Rinderbraten. Da mein Schatz aus einem Forsthaus kam, fehlten auch  Rehrücken und Wildschweinkeule nicht. Mein Lieblingsgemüse, Rotkohl und Erbsen mit Möhren, waren beschlossene Sache. Als Nachtisch sollte es Weincreme geben. Rotwein und weißen, Rhein und Mosel, lieblich und trocken, wurden exakt nach Anzahl Flaschen disponiert. Nach dieser wunderschönen Beschäftigung versank ich wieder in eines meiner vielen wohltuenden Nickerchen.

An diesem Tage bekam ich kurz nach Mittag Besuch. Erich Tautenhahn von unserer Festungsbrigade setzte sich ans Bett. Ihn hatte es auch erwischt, aber längst nicht so heftig. Erich erzählte, was alles für ulkige Typen auf seinem Zimmer lägen und kam dann auch auf unser Essen zu sprechen. Das war doch wenigstens ein Essen. - Ich fand es ja grundsätzlich auch nicht schlecht, aber man könnte doch wenigstens an Sonntagen etwas Fleisch dazugeben. Erich machte runde Augen. Wie solle er das denn jetzt verstehen. Es gäbe doch alle Tage reichlich Fleisch, sonst wäre er doch gar nicht darauf zu sprechen gekommen. - War so etwas möglich?

Vorbei war's mit meiner Hochzeit. Da war doch irgend eine Schweinerei im Gange. Die nächste Visite war schon bald. Auch der Intendant würde dabei sein. Als Erich sich von mir verabschiedete, war er nicht so sicher, ob mir sein Besuch sonderlich bekömmlich war.

Wie hätte er wissen können, dass seine Aufwartung mir möglicherweise das Leben gerettet hat.

Mein Zorn hatte alle meine Lebensgeister mobilisiert. Jetzt stand ich auf Rabatz. Als sich wenig später Arzt und Intendant nach meinem Befinden erkundigten, motzte ich, dass es mir erst wieder besser ginge, wenn ich dahinterkäme, wer uns jeden Tag die Fleischzuteilung wegfressen würde. Die beiden Sanitäter im Hintergrund blühten sichtbar auf. Dann tanzten auch schon die Puppen. Unser Intendant zog eine gewaltige Schau ab, die er sichtlich genoss. Diese Diebe, Lumpen und Faschisten würden ihn schon noch kennenlernen. Die Zwei wurden sofort abgelöst. Ob und wie sie hernach bestraft wurden, weiß ich nicht. Es hat mich auch nicht interessiert. Ich hatte meine Wut, hatte meinen Krach, ich blieb den Rest des Tages munter auf den Beinen. Ich war's nun, der hier endlich einmal aufgeräumt hatte. Dabei wussten meine Zimmergenossen in ihrem Dämmerzustand gar nicht, worum es ging. Noch am Abend stellten sich neue Sanitäter vor, die uns baldige Genesung wünschten. An unserer Fleischzuteilung hat sich niemand mehr vergriffen.

Auch ich fühlte mich wie ausgewechselt. Wie konnte ich mich nur so durchhängen lassen? - Es war noch keine Woche vergangen, da war auch unser Intendant der Ansicht, dass ich eigentlich doch wieder kerngesund sei. Was sollte ich dazu sagen?- Mir wurden Hemd und Unterhose ausgehändigt. In meiner Hirtentasche fehlte nichts. Darüber hinaus erhielt ich ein Kochgeschirr, italienischer Herkunft, und ein zusammenklappbares Essbesteck. Der Vorbesitzer brauchte beides nicht mehr.

Nun saßen wir, etwa an die zehn Mann, auf dem Hof und warteten auf die Posten, die uns ins Lager zurückbringen sollten. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie endlich aufkreuzten. Sogleich ertönte das vertraute "Hajde, postroj!" Los antreten! Wir standen schon in Zweierreihe, als einer noch wie abwesend an der Ziehbrunnenverkleidung sitzen blieb. Als dann ein Posten ihn anstieß, kippte er zur Seite weg. Er war tot.

***

Fortsetzung

 


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