Zwischen den
Fronten
Was nun folgte, das
war kein Rückzug mehr. Das war Flucht. Die Aussicht, wieder auf
deutsche Truppenverbände zu stoßen, war gleich Null. Was uns noch
blieb, war die vage Hoffnung, in den Händen der Partisanen am Leben
zu bleiben. Man durfte nicht darüber nachdenken. Wir waren es nicht allein, die den Ort Lovas fluchtartig
verließen. Auch Teile der Dorfbevölkerung hatten sich mit
hochbeladenen Pferdegespannen, mit Kind und Kegel, auf den Weg gemacht.
Vielleicht wollten sie sich vor den zu erwartenden Kampfhandlungen in
Sicherheit bringen, um hinterher wieder zurückzukehren. Diese
Kampfhandlungen haben nicht stattgefunden. Wie wir sehr viel später erfuhren, waren zu dieser Zeit
unvorstellbar viele Menschen auf der Flucht; als Vertriebene aus den
Ostgebieten, als Deutsche und Deutschstämmige, als Volksdeutsche aus
den südöstlichen Staaten; die Kollaborateure in den ehemals
von uns eroberten Gebieten und natürlich nicht zuletzt die Amtsträger
und Gesinnungsgenossen im Gefolge jenes 'großen Führers'. Wie schlimm das für jeden einzelnen gewesen sein mag, sie befanden
sich immerhin durchweg als Zivilisten in ihrem Sprachraum. Man konnte unters
Volk. Es fanden sich Möglichkeiten unterzutauchen. Wir dagegen
hetzten in Uniform und ohne Sprache durch fremdes und inzwischen feindliches
Gebiet. Uns blieb nur völlig abzutauchen. Das aber hieß Hunger,
Durst und absolute Ruhelosigkeit. Diese Tage waren für uns so finster,
dass ich mich nicht zu erinnern weiß, wie lange wir diese Tauchfahrt
durchgestanden haben. Irgendwann stießen wir auf eine Gruppe Männer, die von
Oberleutnant Roßbach angeführt wurde. Von da an machten wir
wenigstens wieder einen kampffähigen Eindruck. So geschah es denn noch am
gleichen Tage, dass wir auf etwa zweihundert Metern Abstand an einer Partisaneneinheit
vorbeizogen und wir allesamt so taten, als sähen wir uns gegenseitig
nicht. Wozu auch? Die da drüben würden uns schon noch einfangen. Das
geschah dann auch an einem Mittag, ganz in der Nähe des kroatischen
Städtchens Vinkovci. Tags zuvor hatten wir am Nachmittag Deckung in einem Weingarten
gefunden. Dort verweilten wir erst einmal, um neue Kräfte zu sammeln. Viel
Sichtschutz boten die unbelaubten Weinstöcke nicht; aber so, wie wir
erschöpft am Boden lagen, waren wir so leicht nicht auszumachen. Neben
einem gemauerten Doppelbecken für die Spritzmittelzubereitung
fand sich eine Wasserzapfstelle, an der wir unseren Durst löschen
konnten. Von diesem Weingarten bis zur Landstraße waren es höchstens
dreihundert Meter. Dazwischen lag unbebautes und sichtfreies Gelände.
Auf der Straße zogen und rollten ununterbrochen Militärkolonnen
und Kettenfahrzeuge vor uns vorüber. Zumindest bei den Marschkolonnen
schien es sich um russisches Militär zu handeln, was wir an ihrem
vielstimmigen Marschgesang zu erkennen glaubten. Ich weiß nicht so recht, ob es ein Glück für uns war,
dass sich uns ein Feldwebel der Pioniere angeschlossen hatte, der mit
Sicherheit zu sagen wusste, dass das vor uns liegende Ackerland bis zur
Straße vor kurzem von seiner Einheit dicht vermint worden sei. Diesem
offenen Gelände schloss sich zur Rechten ein weitläufiges Sumpf- oder
Moorgebiet an. Da hatten wir nun die Wahl: Sumpf oder Minen. Wir entschieden
uns für den Sumpf. Wir warteten noch bis zum Einbruch der Dunkelheit. Dann bewaffneten wir
uns mit Pfählen, an denen man ursprünglich die Rebstöcke angebunden
hatte, und auf ging's, mit Oberleutnant Roßbach an der Spitze. Er hatte
sich als Pfadfinder angeboten. Aber mit dem Pfad war das so eine Sache. Es war inzwischen stockfinster geworden, so dass man absolut nichts mehr
erkennen konnte. So war jeder mit seiner Angst allein. Allerdings achtete ich
darauf, zum Vorder- wie zum Hintermann soviel Abstand zu halten, dass niemand
haltsuchend nach mir greifen konnte. Zum Schluss suchte ich mir meinen
eigenen Weg. Immer hatte ich den Eindruck, dass sich unser Vermittlungstrupp
in meiner Nähe befand. Als wir nach einer knappen Stunde wieder festen Boden unter unseren
Füßen verspürten, waren von den etwa hundert Männern noch
zweiunddreißig, die sich wieder bei Oberleutnant Roßbach
einfanden. Wo alle anderen geblieben sein mochten, wusste niemand zu sagen.
Hatte der Sumpf sie verschlungen oder hatten sie sich an anderer Stelle
gesammelt? Wir sind keinem dieser Männer mehr begegnet. Weiter ging's, und schon bald standen wir am Ufer eines Flüsschens,
das wir nicht einzuordnen wussten. Nicht weit von uns entfernt, wir glaubten
eine Brücke ausgemacht zu haben, vernahmen wir jugoslawische
Gesprächsfetzen. Da waren sie schon wieder, die Tito-Partisanen. Also auf
und durchs Wasser, das da träge vor uns dahinfloss. Bei einer maximalen
Wassertiefe von etwa eineinhalb Metern, war das kein Problem. Im
Gegenteil, dieses Wasser säuberte uns von dem Morast unserer Sumpfwanderung.
Schon bald hatten wir wieder festen Boden unter den Füßen. Aber was
war das? Wir waren keine fünf Minuten unterwegs, da standen wir wieder an
einem Flussufer. Waren wir im Kreis gelaufen? Also wieder zurück. Als
wir dann aus dem Wasser stiegen, hatten wir wieder die
serbokroatischen Gesprächsfetzen im Ohr. Irgendwann hatten wir es dann
endlich kapiert. Genau an der Stelle, an der wir den Flusslauf zu durchqueren
versuchten, landete man zuerst einmal auf einer kleinen Insel. Das
erklärte alles. Als wir dann endlich dieses Flüsschen hinter uns hatten,
vermisste ich meinen Stahlhelm. Er musste sich im Wasser von meinem
Koppel gelöst haben. Nun dümpelte er vermutlich in Richtung Donau. Da
hatte ich also ungewollt bereits mit meiner Abrüstung begonnen. Es muss dann mitten in dem Ort Mirkovci gewesen sein, als uns ein Trupp
Partisanen laut schwadronierend entgegenkam. Ein Ausweichen war uns
nicht mehr möglich. Also legten wir uns in Reihe auf den Boden, dicht an
die Häuserwände gepresst. Durch die Finsternis des regenverhangenen
Himmels blieben wir unentdeckt. Dass niemand über uns gestolpert ist,
so dicht zogen diese Partisanen an uns vorüber, grenzte schon an ein
Wunder. In jener Nacht hatten wir uns dann im dichten Buschwerk eines jungen
Buchenbestandes verkrochen, um etwas zu verschnaufen. Gegen den Durst
leckten wir den Frühtau von den zarten Blättern. Einige zerkauten das
junge Grün, um einen Geschmack auf die Zunge zu bekommen. Da wir die
letzten Tage nicht mehr zum schlafen gekommen waren, plagte uns neben Hunger
und Durst lähmende Müdigkeit. In der Dunkelheit narrten
Halluzinationen unsere schmerzenden Augen. Eine plötzlich auffliegende
Taube jagte uns lähmenden Schrecken in die Glieder. Als dann der
Morgen graute, trieb ein leichter Wind milchige Nebelfetzen auf uns zu,
die sich ebenfalls in bedrohliche Gestalten zu formieren
schienen. Mit einem Mal waren es dann doch keine Spukvorstellungen mehr. Eine
kleine Gruppe von Partisanen hatte uns wohl ganz zufällig
aufgestöbert. So unvermittelt, wie sie lärmend aufgetaucht
waren, verschwanden sie wieder im Nebel. Wir waren entdeckt. Wenn sich im
Augenblick auch nichts weiter tat, diese kurze Begegnung leitete die
nächste und wohl auch letzte Runde ein. Wir machten also auf und weiter. Nach zwei Stunden etwa begegnete uns
ein halbwüchsiger Bursche auf einem Pferd. Er schien zu Tode erschrocken,
als wir uns unvermittelt vor ihm aufbauten. Den Weg der nächsten halben Stunde legten wir gemeinsam
zurück, bis wir dann endlich offenes Gelände vor uns hatten. In
dieser ersten Aprilhälfte waren die Felder für die Bestellung
hergerichtet oder die Aussaat bereits im Boden. Aber es gab nichts, was
einem Deckung bot. Hinter leichten Bodenwällen lag ein einzelnes
Gehöft. Ob es bewohnt war, ließ sich nicht ausmachen. Es rührte
sich nichts. Um uns darüber Klarheit zu verschaffen, schickten wir unseren
jungen Reitersmann nach drüben. Der Junge machte keinerlei
Umstände und setzte sich unverzüglich und ohne Furcht, wie uns
schien, in Trab. Er verschwand bald hinter diesen Mauern und ward nicht
mehr gesehen. Zeit darüber nachzudenken blieb uns nicht. Die Gruppe, die in der
Früh zum Wecken erschienen war, hatte sich zu einer kampfstarken
Einheit aufgefüllt und griff uns aus dem Wald heraus an. Fast zur gleichen
Zeit wurden wir aus einer Bodensenkung, etwa auf dem halben Wege zum
Gehöft, unter heftiges MG-Feuer genommen. Die Angreifer vor und hinter
uns waren kaum zweihundert Meter voneinander entfernt. Ein Optimist
hätte annehmen mögen, dass diese Partisanen untereinander einen
Streit austrügen. Solange wir aber genau dazwischensteckten, hätte
uns auch das keinen Vorteil verschafft. Einer von unserer Stabskompanie war mit einem Zielgerät
ausgerüstet. Er nahm sich die MG-Stellung vor. Als diese merkten, dass sie
im offenen Gelände nichts mehr ausrichten konnten, sprangen sie aus der
Deckung, um an uns vorbei den Wald zu erreichen. Es waren drei Mann, die
zwei MGs deutscher Bauart mitführten. Offensichtlich war ein vierter
Schütze getroffen in der Deckung liegengeblieben. Aber die drei
erreichten den Wald auch nicht mehr. Unsere letzte Handgranate traf einen
dieser Schützen im Rücken, wo sie in gleicher Sekunde explodierte.
So streckte sie auch die beiden anderen MG-Schützen nieder. Jetzt hatten wir auch noch zwei MGs mit Munition. Bei einem dieser
Geräte war allerdings das Zweibein durch einen Granatsplitter abgerissen
worden. Aber, in welchem Zustand auch immer, was wollten wir jetzt
überhaupt noch mit diesem Zeugs. Was wir brauchten, war etwas gegen den
Hunger und gegen den Durst. Und endlich, endlich zur Ruhe kommen wollten wir,
unter welchen Bedingungen auch immer. Brot und Wasser gab es ganz in der Nähe, dort drüben im
Gehöft. Ohne diese unverhoffte Aufrüstung wären wir aber
wohl gar nicht mehr bis dorthin gekommen. Als unsere Angreifer im Wald
feststellten, dass wir jetzt auch noch über Maschinenwaffen
verfügten, verschwanden sie genau so schnell wie ihre Vorhut am
frühen Morgen. Wir haben an diesem Vormittag einen Mann verloren. Es war einer von
meinen Vermittlungsleuten. Eine Kugel war ihm in die Kehle eingedrungen
und hatte ihm offensichtlich das Genick zerschlagen. Er war sofort tot.
Ich bin zu ihm, habe seinen Brotbeutel und den spärlichen Inhalt seiner
Taschen an mich genommen. In seinem Brotbeutel befanden sich ein Stück
Kunsthonig und drei Packungen Zigaretten zu je hundert Stück Inhalt. Es
waren die Verpflegungszigaretten unserer Truppenversorgung. Der
eichenlaubverzierte Markenaufdruck auf den dünnwandigen Schachteln lautete
"SIEG". Nicht nur alle Räder rollten für den Sieg; auch
unsere Rauchzeichen sollten ihn verkünden. Soldbuch, Erkennungsmarke und einige unbedeutende Kleinigkeiten aus seinen
Taschen packte ich zu den Zigaretten. In seinem Soldbuch befand sich auch der
an ihn ausgehändigte Nachweis, wonach er als 'Wehrunwürdiger' in
einem Strafbataillon Wehrdienst geleistet hatte. Der Gesichtsausdruck des Toten
war der eines friedlich Schlafenden. Man mochte ihn in unserer jetzigen
Situation beneiden. Wir mussten ihn an der Stelle zurücklassen, wo es ihn getroffen
hatte. Wir brachten ihn in eine würdige Haltung und deckten ihn mit einer
dicken Schicht Buchenlaub ab. Mir war bekannt, dass er ein gläubiger
Christ war. In einem stillen Gebet bat ich Gott, dass er ihm die Verheißungen
seines Glaubens erfüllen möge. "GOTT MIT UNS" stand damals auf den Koppelschlössern
unserer Soldaten. Daran hat sich später mancherlei dumme und
überflüssige Polemik entzündet. Ein ganz persönliches
"Gott mit MIR" wäre sicherlich eingängiger gewesen. So
jedenfalls habe ich das immer aufgefasst und das ganz bewusst an jenem
Vormittag. Der Weg am Waldrand entlang, auf dem nun noch die drei toten
MG-Schützen lagen, führte nach etwa hundert Metern über eine
steile Böschung hinunter zu einem Bahndamm. Der Höhenunterschied mochte
etwa acht bis zehn Meter betragen. Hier unten wollten wir zur Ruhe kommen und
abwarten. Es sah so aus, als ob wir hier nicht mehr wegkämen. Zwei
von uns bezogen an der Böschungskante Beobachtungsposten. War's das nun gewesen? - Zwei Dinge geschahen fast zur gleichen Zeit. Oben, zwischen Waldrand und
Gehöft, gingen starke Partisanenverbände in geschlossener Front in
Stellung. Mindestens ein halbes Dutzend Maschinengewehre waren in Stellung
gebracht worden. In diese Richtung waren also keine Überlegungen mehr
anzustellen. Trotzdem ließen wir unsere Beobachter in ihren Positionen. Aber auch hier unten am Bahnkörper tat sich etwas. Zwei Männer
mit geschulterten Karabinern kamen eilig über die Bahnschwellen auf
uns zu. "Kamerad, nicht
schießen!"- Sie riefen es uns
schon von weitem zu. Beim Näherkommen sahen wir, dass beide Eisenbahneruniformen trugen.
Wir ließen sie also an uns herankommen. Ein Kommissar der hier eingesetzten Partisanen hatte sie bewaffnet, um
mit uns Verbindung aufzunehmen. Der Stab befände sich drüben im
Gehöft. Wir sollten unsere Waffen ablegen und mit ihnen kommen. Wir schickten die beiden mit der Anfrage zurück, ob dieser
Kommissar uns eine den Konventionen entsprechende Gefangennahme garantiere.
Schon bald erschienen sie wieder mit der Versicherung, dass eine
regelgerechte Gefangennahme garantiert werde. Wohl mehr um für unsere Entscheidung Zeit zu gewinnen, schickten
wir sie mit der weiteren Frage los, ob wir jetzt und sofort etwas zu essen
bekämen. Angesichts unserer Lage grenzte das schon an Hochstapelei. Was war zu tun?- Ich war mit meinen 'Wehrunwürdigen' bereits dabei,
abzuschnallen. Unserem Oberleutnant ging das entschieden zu hastig, so
dass er seine Waffe auf mich richtete. Ich steckte aber so voller Angst vor dem
Kommenden, dass ich das kaum registrierte. Ein Feldwebel seiner
Stabskompanie lenkte ein. Diesen forderte er dann auf, mit ihm auszubrechen.
Ein voluminöses Entwässerungsrohr, welches den Bahndamm
unterquerte, benutzten sie als Ausschlupf. Der Verbleib aller anderen
machte diesen Ausstieg überhaupt erst möglich. Und wir harrten
der Dinge, die da auf uns zukamen. Wir brauchten nicht lange zu warten. Die beiden Eisenbahner richteten
uns aus, dass wir auch zu essen bekämen. Allerdings nur Brot und Wasser.
Nun ja, wo wir nicht angemeldet waren, musste das genügen. Und dann standen wir vor dem Kommissar. - Er sah aus wie ein ganz
normaler Mensch. Nicht einmal unsympathisch. Sympathisch konnte er uns in
dieser Situation natürlich auch nicht sein. Er saß ohne jede Begleitung
auf einem Klappstuhl und befragte uns nach unseren Einheiten und nach unserem
letzten Einsatzort. Als einige von uns etwas näher an ihn herantreten
wollten, wies er sie barsch zurück. Der Abgang von Oberleutnant
Roßbach und seinem Feldwebel blieb unbemerkt. Brot und Wasser gab es reichlich auf diesem Bauernhof, zu dem wir vor
Stunden den berittenen jungen Burschen hingeschickt hatten. Wir bekamen
ihn aber nicht mehr zu sehen. Während wir noch gierig unser weißes Brot verschlangen,
begann die nicht abgesprochene Wertsachenübergabe ohne jede Feierlichkeit. Eine recht junge Frau, fast noch ein Kind, rammte mir den Lauf einer
englischen Maschinenpistole gegen den Bauch und schrie mich, mit
Blick auf meinen Verlobungsring, an: "Hajde skidai!"
Das sollte ohne Zweifel "Los, ausziehen!" heißen. Woher sollte
ein anständiger Christenmensch das wissen. Frauen, die einem solches abverlangten,
gehörten nicht zu meinem Umgang. Aber dieses Ausziehen war gar nicht so einfach. Mein Verlobungsring
wollte auch mit Gewalt nicht über meinen Fingerknöchel. Dieser war,
wie die meisten meiner Glieder, durch die Anstrengungen der letzten Tage
angeschwollen. Aber das zählte nicht. "Hajde skidai!", schrie sie immer wieder, dass sich ihre Stimme
dabei überschlug. Endlich hatte ich es geschafft, mit viel Spucke und mit
meinen Zähnen. Noch während sie meinen Ring wegsteckte, ging sie
auf ihr nächstes Opfer los. Doch war das erst der Anfang. Nachdem wir reichlich Brot gegessen
hatten, mussten wir Rücken an Rücken in Zweierreihe antreten. Jetzt
kam der Inhalt der Taschen an die Reihe. Da musste mir jetzt schnell etwas einfallen, sonst war ich meine
persönlichsten Dinge los. Es fiel mir auch etwas ein. Ich hatte in
beiden Innentaschen meiner Feldbluse je eine Brieftasche stecken. Die
wertvollere enthielt meine persönlichen Dinge, vor allem Fotos meiner
Braut und meiner Familie. In einer Stecktasche, ebenfalls aus Leder,
ein Werbepräsent der Firma, bei der ich bis zu meiner
Einberufung gearbeitet hatte, in dieser Stecktasche waren meine Papiere.
Selbstverständlich auch mein Soldbuch. Ich guckte mir also einen halbwegs sympathischen Burschen aus und bot
ihm meine Schätze an. Was ich anzubieten hatte, das war schon was. Aus
einem kleinen eleganten Etui aus Saffianleder zauberte ich einen
silberglänzenden Rasierapparat hervor und veranstaltete eine regelrechte
Vorführung. Was wusste ich, womit er bisher seinen Bart bearbeitet hatte.
Er war jedenfalls entzückt von diesem Schmuckstück. Aus
meiner Brusttasche zog ich einen wertvollen MONTBLANC-Füllhalter
hervor, dessen Vorzüge und Qualität ich wie auf einem Jahrmarkt
anpries. Einen passenden Drehbleistift des gleichen Herstellers legte
ich zum gleichen Preis noch oben drauf. Er hatte schon eine Hand voll verschiedenen
Schreibzeugs. Dieses Qualitätsangebot aus meinen Taschen steckte er aber
sofort weg. Jetzt wurde es allmählich eng mit meiner Offerte. Ich zog die
Stecktasche heraus und zeigte ihm deren Inhalt. Die Tasche fand er
annehmbar; meine Papiere,
auch mein Soldbuch, wirbelten durch die Luft in den Straßengraben. Ich
durchsuchte noch einmal alle meine Taschen nach weiteren Gegenständen
und hätte weinen mögen, dass ich nichts mehr für ihn fand. Ich
zeigte noch den Inhalt des Brotbeutels, den ich am Vormittag an mich genommen
hatte. Mit diesem Kunsthonig wusste er nichts anzufangen. Die Papiere
landeten ebenfalls im Graben. Die Zigaretten, oh Wunder, die
ließ er mir. Ich musste wohl an einen Nichtraucher geraten sein.
Statt dessen klopfte er mir auf die Schulter und fand, dass ich ein 'dober', ein guter Kamerad sei. - So blieb ich wohl der
Einzige, dessen Taschen nicht weiter kontrolliert wurden. Meine wertvolle
Brieftasche war mir geblieben. Außerdem hatte ich für die
nächste Stunde einen freundlichen Beschützer an meiner Seite. Das
sind so die Wirkungen 'vertrauensbildender Maßnahmen'. Wie wir in das Städtchen Vinkovci hereingeführt wurden,
mussten wir an einer langen Kolonne russischer T34-Panzer vorbei. Die
Besatzungen saßen an oder auf den Panzertürmen und riefen immer
wieder "Fritzi, Fritzi!", so wie wir die Russen schon immer "Iwan" nannten. Einige
stiegen von ihrem Gerät herunter und machten sich einen Spaß
daraus, diesen oder jenen von uns zusammenzuschlagen. Dabei waren wir in
einer Verfassung, wo wir fast von selbst umfielen. Ich blieb von
diesen Angriffen verschont, weil eben jener Partisan mich wirksam
abschirmte. Er ließ niemanden an mich heran. Als dann aber ein dekorierter Kämpfer auf mich zusprang, seine
gewaltige Pistole zog und mich anschrie "Ti ßi
Offizier!", "du bist
Offizier" also, da ging mein Beschützer und Universalerbe endgültig
auf Tauchstation. Und warum sollte ausgerechnet ich ein Offizier sein? Die
Luftwaffenuniform war es, die einzige auf dieser Bühne. Jetzt
musste ich meinen Text können und zwar sofort. Also griff ich ganz
tief in meinen bulgarischen Wortschatz und machte ihm mit Gesten aus der
Stummfilmzeit klar, dass ich zur Luftwaffe gehörte, und dass es auf dem
Rückzug meine Aufgabe war, bei Luftoperationen die Zivilbevölkerung,
die Greise und die alten Weiber, die Frauen und die Kinder, in sichere Unterstände
zu bringen. Ob er mir's geglaubt hat? Ich weiß es nicht. Vielleicht hat es
sich schon damals lustig angehört, wenn ich balkanesisch redete.
Jedenfalls ließ er von mir ab. Es waren nur Minuten vergangen, da bekam ich aber wirkliche Probleme.
Ohne Ankündigung und unverhofft sprang jemand auf mich zu, riss mir die
Brille von der Nase und zerkrümelte sie unter seinem Stiefel: "Tako, Intelligenzia kapuut!" - Spontanität und Dummheit in einer Person, dem sollte man weit aus
dem Wege gehen. Das hat sich in der nachfolgenden Zeit noch des öfteren
erwiesen. Es brauchte länger als ein Jahr, bis ich wieder zu einer
brauchbaren Brille kam. Helmut Tietze, mit dem ich zu dieser Zeit wieder
zusammen war, schenkte sie mir zu meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag. Er
erwarb diese Brille für zwanzig Brotportionen, seine Brotportionen wohl bemerkt. Eine Opfer- und
Hilfsbereitschaft dieses Ausmaßes kann man sich heute kaum noch
vorstellen. Ich werde später noch darauf zu sprechen kommen. Jetzt fehlte
nur noch, dass man mir die Zähne einschlug. Es wurde höchste
Zeit, dass wir von der Straße wegkamen. Ehe ich dieses Kapitel abschließe, möchte ich noch einige
Eindrücke wiedergeben, die sich beim Zug durch die Straßen
von Vinkovci einprägten. Vinkovci war immer eine blitzsaubere
Kleinstadt mit überwiegend mittelständischer Bevölkerung.
Es gehörte zum Samstagsputz, die Sockel der Häuserfronten zur Straßenseite
immer wieder frisch zu kälken. Die Frauen, die diese Arbeit verrichteten,
nannten dies "witschen". Auf die Mehrzahl dieser Häuser hatten
die Partisanen bei ihrem Einzug in die Stadt mit roter Farbe in
großen Lettern ihre Kampfparolen aufgemalt: Šivio Drug Tito! Es lebe der Genosse Tito! Es lebe Genosse Stalin und
die KPDSU! Es lebe die KPJ! - Es wurde reichlich Farbe verwendet, so dass sich
die Buchstaben auf den Bürgersteig austränten. Man gewann den
Eindruck, als seien dies die Tränen der geschundenen Häuser. Zerstörte und zerschossene Häuser waren mittlerweile für
uns ein gewohntes Bild. Dies hier war etwas ganz anderes. Das waren die
äußeren Zeichen der Revolution, einer Revolution, bei der es
kein Eigentum mehr geben sollte, bei der Eigentum mit Diebstahl gleichgesetzt
wurde. Das war ein Fest für Schwachköpfe und Habenichtse.- Die
einheimische Bevölkerung ließ das alles stumm über sich
ergehen. * Im
Gefängnis von Vinkovci Der Ort, zu dem man
uns brachte, war für die Sicherheit geschaffen: Man steckte uns in das
Ortsgefängnis. Wir waren nicht die Ersten, die in den vergangenen
Tagen hier eingezogen waren. 'Die vom Bahndamm', wie es künftig
hieß, wir neunundzwanzig also, wurden im zweiten Stock auf zwei
Haftzellen verteilt. Einziges Mobiliar: Eine durchgehende Holzpritsche und
ein gusseiserner Ofen. Man brauchte sich nicht einmal zu waschen. Die
Pritsche wäre mit sechs Mann belegt gewesen. Wir aber waren vierzehn. Das
hieß, dass sich die Hälfte dicht bei dicht auf der Pritsche
einrichtete. Der Rest suchte sich einen Platz auf dem Fußboden. Meine vier von der Festungsbrigade reservierten mir erst einmal den
einzigen Fensterplatz, damit ich in vollen Zügen "karierte
Luft" genießen könne. Mit vergitterten Fenstern hatte ich in der Tat keinerlei Erfahrung, aber
sie brachten mich momentan auf eine Idee. Sie betraf meine Brieftasche.
Ich löste meine Erkennungsmarke von der Halsschnur, an der auch eine
ziemlich große Medaille mit dem Abbild der Gottesmutter hing. In gewissem
Sinne war das ja auch eine Erkennungsmarke. Mit dieser Schnur befestigte ich
meine Brieftasche an den Gitterstäben, so dass meine wertvollen
Erinnerungen außen in der Fensternische hingen. Von der Zelle her
war dieses Versteck nicht einzusehen. Was diese Mutter-Gottes-Medaille betrifft, man hat sie mir in den folgenden
Jahren nicht weggenommen. Ich habe sie mit nach Hause gebracht. Für
meine treue Braut, die bald meine Frau wurde, behielt diese Medaille, die mich durch Krieg und Gefangenschaft
begleitet hatte, zeitlebens große Bedeutung. Bei der Geburt unserer
sechs Kinder hielt sie sie fest und vertrauensvoll in ihrer Hand, während
ich kümmerlichen Beistand zu leisten versuchte. So sind alle unsere
Kinder zu Hause auf die Welt gekommen. Und alle haben sie, im zweiten Rang, den
Vornamen Maria mit auf ihren Lebensweg bekommen. Als hätte ich es geahnt: Noch am gleichen Nachmittag mussten wir
alle auf dem Gefängnishof antreten. Die erste Aufforderung lautete: Schuhe
ausziehen! Die auf dem Hof anwesenden Partisanen machten sich gleich
daran, die Schuhe anzuprobieren. Wenn sie passten, sah man strahlende
Gesichter. Es wurde aber auch auf Vorrat anprobiert. Nach einer Weile hatte
alles Schuhzeug seinen Besitzer gewechselt. Anschließend mussten die Uniformen ausgezogen werden. Röcke
und Hosen wurden getrennt gebündelt und weggeschafft. Als wir wieder in
unseren Zellen waren, bestand meine ganze Habe noch aus einer Feldmütze und einer graugrünen
Garnitur Unterwäsche. Ach ja, Socken besaß ich auch noch. Insgesamt hatten wir auf der Zelle noch fünf oder sechs
Kochgeschirre. Ich selbst besaß weder Geschirr noch Besteck. Mit den
Kochgeschirren konnten wir auf dem Hof Wasser zapfen. Auf dem Weg dorthin,
treppauf, treppab, gab es regelmäßig Prügel. Auf jedem
Treppenpodest stand so ein Bursche und prügelte mit einem Knüppel auf
uns ein. Das führte dazu, dass wir sparsam mit dem Wasser umgingen. - Die
Zigaretten hatte man uns gelassen. Unsere dreihundert 'SIEG'Zigaretten
halfen uns über den Hunger hinweg. Die Tage vergingen, ohne dass von Verpflegung die Rede war. Fragte man
den Wachtposten auf dem Gang, holte man sich grinsend dumme Antworten ein. "Deutsche
Mensch nix mehr essen." Oder im
Jargon der hier lebenden deutschstämmigen 'Schwaben':"Warum
willscht esse? Brauchst nix arbeide, konnscht ganze Dog schloofe." Als man uns am dritten Tag solches und ähnliches immer noch anbot,
gerieten die ersten von uns in Panik. "Die lassen uns hier eiskalt verrecken!" - Einer hatte das ausgesprochen, was allmählich jeder von uns dachte.
Dabei war zu bedenken, dass wir, außer der Brotgabe bei unserer
Gefangennahme, auch Tage vorher nichts gegessen hatten. Zum quälenden
Hunger gesellte sich jetzt die Angst. Einer schlug mit wirrem Blick schon wild
um sich, wenn man ihn bei dieser Enge auch nur versehentlich
anrührte. Da musste recht bald etwas geschehen. Es dauerte noch weitere zwei Tage, bis endlich die Zellentür zur
Brotverteilung aufgeschlossen wurde. Jeder erhielt eine Feldmütze
voll dunkler, harter Brotstücke. Es hieß, dass dies eine russische
Notverpflegung sei. Im Vergleich dazu war unsere einstige Notverpflegung, die
mit Kümmel gewürzte Hartknäcke, schon ein
Festtagsgebäck.- Aber wir waren an diesem Tag nicht wählerisch. Die harten, völlig entwässerten Brotwürfel
beschädigten momentan unsere empfindlich gewordenen
Mundschleimhäute so sehr, dass uns das Blut in die Mundwinkel trat, und
sich die Zähne rot einfärbten. Nicht lange danach, wir waren noch mit unserem Brot beschäftigt,
mussten wir wieder auf dem Gefängnishof antreten. Was sich uns dann darbot,
verschlug uns die Sprache. Etwa ein Dutzend englischer und amerikanischer
Offiziere und Berichterstatter stellten uns zu einem Interview.
Während Kameras liefen, wurden wir nach unseren Heimat- und
Einsatzorten befragt. Natürlich fehlte nicht die verständliche
Frage nach der Mitgliedschaft in NS-Organisationen. Eine Kamera war voll
auf mich gerichtet, als man etwas über mein Befinden erfahren wollte. Ich
versuchte ein strahlendes Gesicht, kaute mit blutendem Mund lustvoll auf
den harten Brotstücken und brachte mich in meiner Restbekleidung voll
ins Bild: "Wie Sie doch sehen, ganz ausgezeichnet." - Insgeheim kam mir der verwegene Gedanke, dass
diese Filmaufnahmen dem deutschen Kinopublikum zugänglich gemacht
würden und man mich so vielleicht zufällig entdecken könnte. -
Ach ja, ich war schon immer ein Optimist. Sie sind sich doch alle gleich, diese 'Berichterstatter', bis auf
den heutigen Tag! Der geschundene und gedemütigte Mensch liefert
immer noch die besten Bilder. Von der 'Gepäckaufnahme' abgesehen, kamen wir nicht mehr auf unsere
Haftzellen zurück. Diese wurden jetzt dringend für die Unterbringung
ortsansässiger Bürger mit ihren Familien benötigt. Im Nu
war das Haus wieder voll belegt. Wir dagegen wurden auf den Dachboden
umquartiert. Der Boden hier oben war grob gepflastert, die gesamte Fläche
durch schweres Dachstuhlgebälk mehrfach unterteilt. Vier
hochklappbare Dachluken spendeten spärliches Licht. * Von nun an wurden wir jeden Morgen zur Arbeit auf Außenkommandos
eingeteilt. Dort erhielten wir auch unsere Verpflegung. Qualität und
Menge dieser Beköstigung waren, je nach Einsatzort, sehr unterschiedlich.
Da sich die 'fetten' und die 'mageren' Kommandos rasch herumgesprochen
hatten, gab es auf dem Gefängnishof allmorgendlich heftiges Gedränge
und Gestubse, das gelegentlich zu einer handfesten Prügelei
ausarten konnte. Für die dabeistehenden Partisanen war das
immer ein Fest. In solchen Situationen sah ich zu, dass ich eilig aus dem Bild
verschwand. Ich muss allerdings gestehen, dass immer mindestens einer aus
meiner Crew an diesen fetten Kommandos partizipierte, und dass da stets
etwas für mich abfiel. Ich war zu Anfang einem Einsatz zugeteilt worden, der so nichts brachte,
um den man sich also auch nicht zu prügeln brauchte. Umso sinnvoller
erschien mir die dort zu verrichtende Tätigkeit. In einer ehemaligen Klosterschule befand sich ein noch stark frequentiertes
Frontlazarett. Die Verwundeten, die hier täglich in großer Zahl
eingeliefert wurden, ließen erkennen, dass derzeit in dieser Gegend
noch heftige Kämpfe stattfanden. Die Erstversorgung der Verwundeten
auf den Verbandsplätzen erschien mir katastrophal. So mancher Anblick war
zum Gotterbarmen. Wir waren zu dritt in dieses Lazarett abgestellt. Der Eine, ganz hier in
der Nähe beheimatet, fungierte außerdem als unser Dolmetscher. Als
Volksdeutscher hatte er der legendären Division "Prinz
Eugen" angehört. Mit dem Zweiten, einer eher unauffälligen,
aber sympathischen Erscheinung, mochte man sich gerne unterhalten. Sein
bevorzugtes Thema war die Fotografie, wozu ich auch einiges beisteuern konnte.-
Ich hätte diese Begegnung vergessen, wenn ich mit diesem Mann drei Jahre
später nicht noch einmal zusammengetroffen wäre. Da war er noch in
Begleitung eines Soldaten, allerdings nicht zu seiner Bewachung. Das
war sein Fahrer, der Chauffeur seines Dienstwagens. Da war er auch nicht mehr
so unauffällig, und sein bevorzugtes Thema war auch nicht mehr die
Fotografie. Doch kehren wir in jenes Lazarett zurück. Wir drei führten hier die Entlausungen durch. Die
Kleidungsstücke kamen ungereinigt, blut- und dreckverschmiert, in
einen Desinfektionsbehälter, den wir mit Holz aufzuheizen hatten. An diesem
Druckbehälter befand sich eine Temperaturanzeige. War die desinfektionswirksame
Hitze erreicht, musste diese eine Stunde aufrechterhalten bleiben. Wenn wir
anschließend die brühheißen Lumpen mit spitzen
Fingern herausnahmen, stank dieses Gelumpe ganz abscheulich. Zwischen den Verwundeten und uns gab es keinerlei
Berührungsängste. Wenn diese Partisanen körperlich noch
oder wieder dazu fähig waren, setzten sie sich zu uns. Wir
verständigten uns etwas mühsam über unsere Erlebnisse, versuchten
festzustellen, ob oder wo wir uns vielleicht einmal gegenübergestanden
hatten. - Ich werde nicht vergessen, wie sich eines Tages ein ganz
ungewöhnlicher Krieger bei uns einfand. Er litt an einer
Schulterverletzung, die ihn aber nicht sonderlich zu behindern schien.
Bekleidet war er mit einer englischen Uniformhose und einem knallroten
Hemd. Spendabel verteilte er Zigaretten und erzählte von seinen
Kampferfahrungen. Dieser notorische Krieger hatte bereits 1936 in Spanien
bei einer internationalen Freiwilligen-Brigade auf Seiten der Republikaner
für mehr Gerechtigkeit auf Erden gekämpft. Jetzt, wo die 'Faschisten'
offensichtlich in den letzten Zügen lagen, schien man aus seiner
Sicht dieser Vision ein gewaltiges Stück nähergekommen zu sein. Er
zog sein Hemd, das also doch mehr eine Fahne war, aus und zeigte stolz seine Blessuren.
Diese Schnitte und Stiche stammten ganz offensichtlich nicht alle von
einem Operationsskalpell. Er muss ganz ohne Zweifel ein großer Held
gewesen sein. Seine "Oma", eine Italienerin aus Fiume, dem heutigen
Rijeka, hatte ihn zweisprachig aufgezogen, in italienisch und
serbokroatisch. Mit dieser anerzogenen Sprachbegabung konnte er
sich als Legionär schnell mit dem Spanischen vertraut machen. Dies und seine Art, wohl immer
gleich in 'die Vollen zu greifen', hatten ihn dort bald zu einem Kommandoführer
avancieren lassen. Sein Deutsch kam aber auch von keiner Klosterschule. In
Pristina war er dabei, als man uns anständig Feuer unter den Hintern
legte, und in Kragujevac, wo man uns selbigen bis an den Kragen
aufgerissen hatte. Die Frage nach unseren Meriten musste ja kommen. Vorlaut
äußerte ich den Verdacht, dass meine Einberufung ein einziges
Versehen gewesen sei. Ob er jetzt darüber lachen müsse?
Natürlich nicht. Er wollte von mir auch gar nichts wissen. Hier, sein
volksdeutscher Landsmann, der sollte ihm erzählen. Ich hielt die Luft an.
Nicht so unser 'Schwabe'. Er brachte locker und unbefangen, dass er bei der
'Prinz Eugen' gedient und somit oft genug erlebt habe, dass nicht nur deutsche
Ärsche aufgerissen worden seien.- Wer konnte so etwas noch begreifen.
Wie zwei Preisboxer saßen nun die beiden zusammen und ergingen sich
genüsslich in Details. Unser Lazaretteinsatz nahm ein abruptes Ende. Auf dem Dachboden unserer
derzeitigen Unterkunft war uns ein schlimmes Missgeschick passiert. -
Wenn es schon im Bereich der Haftzellen keine Toiletteneinrichtungen gab,
brauchte man auf dem Dachboden nicht danach zu suchen. Da auf den Podesten im
Treppenhaus nach wie vor munter geprügelt wurde, erledigten wir unsere großen
Verrichtungen auf den Arbeitskommandos. Für unsere Nierentätigkeit
reichte das aber nicht völlig aus. Dieser Notstand führte geradewegs zu den vier Dachluken. Dort
standen wir also, wenn es die Not verlangte und entleerten unsere Blasen in die
Dachrinne. Was war passiert? - An irgendeinem Widerstand hatte sich
unser 'Altöl' gestaut. Zu dieser späten Stunde hatte dieses Hindernis
wohl mit einem Mal resigniert, und was dann plötzlich dem Fallrohr
zustrebte, muss wohl munter geplätschert haben. Doch das wäre nicht
weiter schlimm gewesen. Aber dieses Fallrohr reichte gar nicht bis zum
Boden. Es war über dem Erdgeschoss zu Ende. Und ausgerechnet an dieser
Ecke musste nun gerade ein Wachposten stehen. Vielleicht stand er auch
immer dort. Das war zuviel! - Die ganze Wachmannschaft stürmte den Dachboden
und verprügelte uns mit Knüppeln nach Strich und Faden. Von dem
Anlass dieser Exekution nichts ahnend, waren wir völlig fassungslos.
Als wir dann aber gleich darauf, es war schon finster, auf dem Hof antreten
mussten, erfuhren wir von unserem Missgeschick. Wieder hieß es 'Gepäck aufnehmen'. Jetzt steckte man uns in
den Keller des Verwaltungsgebäudes. Eigentlich war dieser Keller schon belegt, was aber in der Dunkelheit im
ersten Augenblick nicht zu erkennen war. Im zweiten waren es die Fußtritte
und Flüche, die auf neue Nachbarn hinwiesen. Der Fußboden war nicht befestigt. Alles war lockerer Sand. Da
standen wir im Dunkeln dicht gedrängt.- Versuchte man sich hinzulegen,
dann lag dort schon jemand. Versuchte man bescheiden in die Hocke zu gehen,
bekam man einen Tritt in den Hintern. Jetzt nur keine Prügelei! Das hatten wir gerade hinter uns. Mal
stehend, mal sich auf die Oberschenkel stützend, sich hinkniend oder
wie es die Verhältnisse zuließen, warteten wir das Licht des
Morgens ab. Der Morgen zog herauf, aber viel heller wurde es im Keller trotzdem
nicht. Es wurden keine Arbeitskommandos aufgerufen. Es tat sich absolut nichts.
War etwa die nächste Abmagerung fällig? Wir versuchten mit unseren Nachbarn ins Gespräch zu kommen, mit geringem
Erfolg. Trotzdem blickten wir allmählich etwas durch. Die zunehmende Lichtempfindlichkeit
unserer Augen half uns dabei. Wir waren in eine Ansammlung gefangener Ustaschi geraten, kroatische
Freischärler, die wegen ihrer gnadenlosen Kampfweise gefürchtet
und verrufen waren. Dass sie nun hier wie handverlesen herumlagen, ließ
auf nichts Gutes schließen. An der langen Wand lagen ehemals russische Soldaten. Sie waren als
'Hiwis', als Hilfswillige, den deutschen Truppen nach Westen gefolgt, aus
welchen Gründen auch immer. Es gibt ja so beflügelnde Hoffnungen wie:
Schlimmer kann es nirgendwo sein. Das mag mitunter zutreffen; allerdings muss
man sich dann auch die richtigen Wirtsleute aussuchen. Als sich diese Russen
unseren Truppen anschlossen, mochte das auch noch so ausgesehen haben. Deshalb
haben sie unsere Pferde versorgt, die Kartoffeln geschält und die
Motorfahrzeuge betreut. Nun lagen sie hier. Wenige von vielen.
Gewissermaßen die 'Retouren' dieses fürchterlichen Krieges.
Soweit solche 'Hiwis' aus den demokratischen Ländern des Westens
kamen, konnten sie in der Heimat, wenn sie überhaupt dorthin gelangten,
mit einem Prozess rechnen. Die Leute aus dem Osten wussten, dass der Tod schon
auf sie wartete. Wer mochte ihnen in dieser Situation verdenken, dass sie uns am liebsten
allesamt erschlagen hätten. Wir hatten das schnell begriffen und
hielten uns von ihnen fern. Jetzt wurde doch ein Arbeitskommando zusammengestellt. Allerdings
konnten sich nur Leute melden, die noch über Schuhzeug verfügten.
Erstaunlicherweise gab es das noch. Auch die russischen 'Hiwis'
besaßen noch ihr Schuhzeug. Aber man nahm sie nicht. Mit ihnen hatte
man wohl anderes vor. Als dieses 'Schuhkommando' abgerückt war, hatten wir etwas mehr
Bewegungsfreiheit, so dass wir uns wenigstens einigermaßen
unbehelligt niedersetzen konnten. Kurze Zeit danach wurde ein Schreibmaschinenmechaniker aufgerufen. Das
war doch etwas für mich, wo ich doch immerhin flott auf der
Schreibmaschine schreiben konnte. Da sich keine Konkurrenz auftat, hatte
ich den Job. Wenn ich gehofft hatte, dass ich auch an diesem Morgen das
Gefängnis verlassen konnte, so hatte ich mich getäuscht. Die
lädierte Schreibmaschine stand hier in der Gefängnisverwaltung,
im Vorzimmer des Kommandanten oder Kommissars, der den
Gefängnisdirektor abgelöst hatte. Ich nehme an, dass sich dieser zu
der Zeit ebenfalls in irgendeiner Haftzelle unter Verschluss befand. - Im
Vorzimmer stand ich einer jungen und bildschönen Frau gegenüber.
Ich wusste gar nicht, dass es so Schönes überhaupt noch gab.
Barfuss, meine Socken waren längst nicht mehr, stand ich ihr in
Unterhemd und Unterhose gegenüber und fragte sie beklommen, wo
es denn fehlt. - Ja, die Schreibmaschine. Zuerst hatte sie geklemmt, und jetzt tat sie es
überhaupt nicht mehr. Bei genauerem Hinsehen war das nicht verwunderlich,
da ein Anker, der den schrittweisen Wagenvorschub bewirkte, abgebrochen war.
Bei meinem Sachverstand war das schon gut so. Da brauchte ich gar nicht erst
tätig zu werden. Die junge Frau hatte eine Tüte Kirschen auf ihrem Schreibtisch
liegen. Sie forderte mich freundlich auf, zuzugreifen. Ich möge
Verständnis dafür haben, dass sie mir die Kirschen nicht herübergeben
könne, da sie jeden Augenblick mit dem Erscheinen ihres Chefs rechnen
müsse. Ich werde ein, zwei Kirschen genommen haben. Aber dann habe ich sie nur
noch angeschaut. Dies schien mir eine Situation zu sein, in der man dies
durfte. Sie blieb freundlich. Sie reichte mir Papier und Bleistift für
eine kurze Nachricht an meine Eltern. In den nächsten Tagen werde sie mit ihrem Chef eine Dienstreise nach Szeged
unternehmen. Von Ungarn aus fände sich möglicherweise eine Gelegenheit,
meine Nachricht weiterzuleiten. Ich gab ihr dankbar die Anschrift meiner Eltern
mit einem kurzen Lebenszeichen. Ich wollte nicht übertreiben. Den Bleistift
ließ sie mir. Als ich mich aufmachte, ging sie mit bis an die Treppe.
Völlig unerwartet ergriff sie meine beiden Hände, wünschte
mir Gesundheit und sprach mir
guten Mut zu. Noch ganz benommen schlich ich in den Keller zurück. Weiter als bis zum Kellereingang kam ich nicht. Nachdem das Arbeitskommando
abgezogen war, konnten sich die anderen wenigstens einen Sitzplatz einrichten.
Viel zu eng blieb es nach wie vor. Bei meinem Versuch in den Kellerraum
vorzudringen, steckte ich so viele Fußtritte ein, dass ich es gleich
aufgab und mich auf der Kellertreppe einrichtete. Hier tat sich gleich eine Aufgabe für mich auf. Auf einer dieser
Treppenstufen saß ein Kumpel mit einem Brustdurchschuss. Unser
Sanitäter, ein wahrer Engel aus Konstanz, hatte ihn mit allem
Verbandszeug, was er noch besaß, gut versorgt. Ein- und Ausschiss
waren mit Kompressen abgedeckt. Mehr konnte er nicht für ihn tun. Das
Wehklagen dieses Ärmsten hatte ich schon die ganze Nacht über
vernommen. Jetzt befand ich mich an seiner Seite. Er hatte Durst,
unsäglichen Durst. Also bat ich den erstbesten Posten, mir doch Gelegenheit
zu geben, diesem armen Hund Wasser zu besorgen. Der Posten war ein guter Kerl.
Er brachte mir das Wasser in einer großen Aluminiumkanne, wie wir sie aus
den Kasernen für den Frühstückskaffee kannten. Ich ging
natürlich davon aus, dass der Ärmste einen Bauchschuss abbekommen
habe. Also dachte ich, soll er Wasser saufen, bis er tot umfällt. Hier hat
er eh nichts Gutes mehr zu erwarten. - Er hat wirklich gesoffen, wie ein Pferd,
aber daran ist er nicht gestorben. Ein Bauchschuss war's also nicht.- Etwa
sechs Wochen später ist er auf einem Arbeitskommando fleckfieberkrank
im Fieberdelirium kopfüber in einen Brunnen gesprungen. Das war dann doch
zu viel Wasser für ihn. Für mich sollte dieser Tag wohl ein Glückstag sein. Es dauerte
nicht lange, da wurden am Kellereingang zwanzig Mann abgezählt. Ein
neues Kommando? - Nein, man brachte uns in einen hellen Raum im Erdgeschoss. Jetzt mussten alle verbliebenen Kleidungsstücke ausgezogen und
für eine Entlausung gebündelt abgeliefert werden. Das galt
sowohl für uns, als auch für jene, die im Keller verblieben waren. Nackend wurden wir auf den Hof getrieben. Dort hatte man Bänke aufgestellt,
bei denen etliche Friseure in weißen Kitteln auf uns warteten. Wir
bekamen die Köpfe kahl geschoren. Was hatte ich für einen verbogenen
Schädel. Ein Glück, dass ich meinen Besuch bei der Schönen schon
hinter mir hatte. Von den inhaftierten Zivilisten erfuhren wir, dass besagtes
'Schuhkommando' am frühen Morgen mit einem Erschießungskommando
abgerückt sei. Mein Gott! - Für einen kurzen Augenblick war ich
glücklich, dass ich keine Schuhe mehr besaß. Einige Tage später
wollte wieder einer jener Zivilisten wissen, dass unsere Leute nicht mehr
zurückkommen würden. Ganz in der Nähe seien in
größerem Umfange Erschießungen durchgeführt worden. Die
Gefangenen hätten dabei die notwendigen Schanzarbeiten verrichtet. Am Ende
sollen sie selbst erschossen worden sein. Zurück zu uns sind sie
tatsächlich nicht mehr gekommen. Zu essen gab es während des ganzen Tages nichts. Am frühen
Nachmittag erhielten wir unsere entlauste Bekleidung zurück. Auf
unserer Komfortstation hatten wir keine Mühe, aus dem stinkendem
Bündel unsere Sachen herauszufinden. Wie mochte das aber jetzt unten
im Keller zugehen? Zwar waren nur die 'Neuzugänge' entlaust worden, aber
das waren doch immerhin weit mehr als hundert Mann. Wie das zugegangen
ist, das erfuhren wir am folgenden Morgen. Wieder hieß es: "Mit Gepäck auf dem Hof antreten."
Jetzt hätte dieses angloamerikanische Interview noch einmal
wiederholt werden müssen. Wenn jemand seine eigene Wäsche zurückbekommen
hatte, so war das Zufall. Einige waren immer noch nackend. Das eine Hemd, die
andere Unterhose, waren bei der Klamottenkeilerei zerfetzt worden. Was nun?
Dieses Problem wurde auf ganz einfache Weise gelöst. Die fehlenden
Hemden und Unterhosen wurden durchgezählt Dann ging eine Gruppe
Partisanen hinunter in den Keller, wo es für Augenblicke recht laut wurde.
Wenig später konnte die fehlende Unterwäsche an unsere Nackedeis
verteilt werden. Statt dessen waren jetzt einige Ustaschi etwas
spärlicher bekleidet. Es wurde wieder einmal Zeit, dass wir von hier
wegkamen. Aber das war bereits beschlossen. Man brachte uns an den Stadtrand in
ein geräumiges, ehemaliges Eisenbahnsilo. * Hier waren überwiegend Leute aus dieser Gegend festgesetzt worden.
Man hatte sie aus ihren Häusern geholt, so dass an ihrer Kleidung nicht
ohne weiteres festzustellen war, ob sie irgendeinem Truppenverband
angehört hatten. Es waren aber auch Leute von der 'Prinz Eugen' unter
ihnen. Nun war erstmals reichlich Platz vorhanden. Sogar eine Kochstelle war
eingerichtet, von der wir von nun an versorgt wurden. Ob früh, ob
spät, es gab nur ungesalzene Suppen. Es fehlte noch das Salz. Die Salinen
an der Adriaküste waren bis vor wenigen Tagen noch von deutschen Truppen
besetzt gewesen. Jetzt musste alles erst wieder in Gang kommen. Statt mit Salz
würzte unser Koch mit gehacktem Dill. Das schmeckte gar nicht schlecht.
Auch Brot wurde täglich verteilt. Die Portionen waren allerdings sehr
klein. Gleich am nächsten Tag gab es zu feiern. Der Krieg war zu Ende! "Hitler
kapuut!"- Die Glocken der
Pfarrkirche läuteten, und alles was noch Waffen trug, ballerte wild
in die Luft. Uns aber war nicht nach feiern zumute. Die Glocken waren noch nicht verstummt, da geschah etwas Merkwürdiges.
Aus dem Städtchen bewegte sich eine Prozession auf unser Lager zu. An der
Spitze der Ortspfarrer, mit einer weißen Albe bekleidet. Dieses
liturgische Gewand verlieh der Aktion einen offiziellen kirchlichen Charakter,
was den Lagerkommandanten zuerst einmal ziemlich verwirrte. Mittlerweile
standen an die hundert Menschen vor dem Lagertor. Entweder trugen sie
Körbe im Arm oder zogen sogar Handleiterwagen hinter sich her, beladen mit
Lebensmitteln aller Art. Nach kurzem Überlegen gab der Kommandant seiner Wachmannschaft
Anweisung, jedwede Geschenkübergabe nur zuzulassen, wenn der
Gabenempfänger namentlich benannt werde. Das war natürlich jetzt
ein Problem. Die Kroaten, die diesen Disput aufmerksam verfolgt hatten,
bildeten im Nu kleine Gruppen, unter denen eiligst auf irgendeinem Fetzen
Papier Namenslisten erstellt wurden. Es dauerte nicht lange, bis jenseits
der Lagerabsperrung Namen aufgerufen wurden, und der jeweils Benannte
'seine' Liebesgaben in Empfang nehmen konnte. Die deutschen Lagerinsassen
hatten sich von dieser Aktion überhaupt nicht angesprochen gefühlt.
Sicherlich hoffte manch einer, dass sich die kroatischen
Mitgefangenen etwas spendabel zeigen würden. Und so war es auch. Diese forderten uns aber auf, unsere Namen aufzuschreiben und
während der Nacht auf die Bahngleise zu werfen. Als sich dann einige Tage
später die Aktion wiederholte, wurden tatsächlich auch
unsere Namen bei der Gabenverteilung aufgerufen. Fortan erschienen
fast täglich kleine Gruppen am Lagertor, und immer wieder waren auch
unsere Leute unter den Beschenkten. Es schienen sich regelrechte
Patenschaften gebildet zu haben. Unser nächstes Arbeitskommando führte zu einer nahegelegenen
Ziegelei. Was unsere Arbeit betraf, so schien mir das hier alles ein sinn-
und zielloses Hinundherräumen zu sein. Aber was verstand ich schon davon.
Zwei Dinge sind mir in Erinnerung geblieben. Auf einem Schutthaufen entdeckte
ich eine grobgewebte und zerfranste Hirtentasche, einen blauen Emaillekrug und
ein kurzes Textilband mit einem Karabinerhaken. Das war fortan mein
Gepäck. Meine kostbare Brieftasche, die ich mir bisher um den Leib gebunden
hatte, konnte ich jetzt bequemer unterbringen. Der Emaillekrug war von der Form
her als Kochgeschirr zwar wenig geeignet, doch unsere Suppen konnte man
problemlos daraus trinken. Mir fehlte ja auch jegliches Essbesteck. Das andere, was mir in Erinnerung geblieben ist, hatte mit meiner Arbeit
direkt nichts zu tun. Ich saß nämlich auf dem Klo, eines von der
ganz bescheidenen Machart. Plötzlich ein Geräusch. Eine Schlange
hatte sich bis zur Kniehöhe vor mir aufgerichtet. Sie fixierte mich
neugierig züngelnd. Natürlich ging ich davon aus, dass sie
giftig sei, denn ich wollte es auf nichts ankommen lassen. Ich getraute mich
kaum zu atmen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie endlich von mir
abließ, zu Boden ging und rasch wieder verschwand. Huch, ich wischte mir
den kalten Schweiß von der Stirn. Im Silo ging es recht gesittet zu. Die Wachmannschaft ließ uns in
Ruhe. Den Kommandanten bekamen wir selten zu sehen. Bei der Ziegelei arbeitete ich nur wenige Tage. - Ich bekam die Ruhr. Etliche
im Lager waren plötzlich an ihr erkrankt, so dass man uns schleunigst
isolierte. Abseits vom Wohngebiet, auf einem geräumten Bauernhof
improvisierte man ein Lazarett. Als Pflegepersonal waren ein deutscher
Arzt und zwei Sanitäter abgestellt. Geleitet wurde diese Krankenstation
von einem jugoslawischen Sanitäter, dem man den Titel 'Intendant'
verpasst hatte. Seine Entscheidungen und Befunde hatte unser Arzt unbesehen zu
akzeptieren. Mein Zustand verschlechterte sich rapide. Nach wenigen Tagen wurde ich
auf die 'Abkratzkammer' verlegt. Hier standen auf engem Raum acht Betten.
Unser bisschen Bekleidung hatte man uns weggenommen. Splitternackt waren wir
zwischen zwei große Decken gepackt. Einige meiner Zimmergenossen sahen beängstigend aus. Nie zuvor
hatte ich ein solches Ausmaß an Abmagerung gesehen. Der
Schädelansatz im Nacken zeichnete sich deutlich zur Wirbelsäule
ab. Die Lippen spannten sich dünn um ein viel zu groß erscheinendes
Gebiss. Das Hinterteil hatte sich auf ein paar schlaffe Hautfalten reduziert.
Da kein Spiegel in der Nähe war, wusste man nicht, wie man selbst aussah.
Wurde ich nach meinem Befinden gefragt, so sagte ich ohne jede Ironie, dass ich
keinerlei Beschwerden habe. Es war eine eigenartige und wohltuende Ruhe
über mich gekommen. Der Zimmergenosse neben mir war um einiges älter als ich. Er
besaß, oder hatte zu Hause eine Druckerei besessen. Wann würden wir
erfahren, was uns geblieben war? Mein Bettnachbar litt zeitweilig an sehr
großen Schmerzen. Unser Arzt diagnostizierte Blasensteine. Wenn er seine
Anfälle bekam, versuchte ich, ihm etwas an die Hand zu gehen. Sonst
bewegte ich mich nicht aus dem Bett. Bei seiner täglichen Visite fragte ich den Arzt, ob er mir Papier
und etwas zum Schreiben besorgen könne. Ob ich etwa mein Testament
aufschreiben wolle. Dieser Witzbold. Mir war etwas ganz anderes in den
Sinn gekommen. Nachdem ich Papier und Bleistift hatte, plante und organisierte
ich meine Hochzeit. Ich begann mit einem Verzeichnis aller einzuladenden
Gäste, die ich dann um imaginäre Tische platzierte. Zwei Tage sollte
gefeiert werden. Dementsprechend stellte ich den Speisezettel zusammen.
Alle meine Lieblingsgerichte kamen darin vor. Da gab es nicht nur Schweine- und
Rinderbraten. Da mein Schatz aus einem Forsthaus kam, fehlten auch Rehrücken und Wildschweinkeule
nicht. Mein Lieblingsgemüse, Rotkohl und Erbsen mit Möhren, waren
beschlossene Sache. Als Nachtisch sollte es Weincreme geben. Rotwein und
weißen, Rhein und Mosel, lieblich und trocken, wurden exakt nach Anzahl
Flaschen disponiert. Nach dieser wunderschönen Beschäftigung
versank ich wieder in eines meiner vielen wohltuenden Nickerchen. An diesem Tage bekam ich kurz nach Mittag Besuch. Erich Tautenhahn von
unserer Festungsbrigade setzte sich ans Bett. Ihn hatte es auch erwischt,
aber längst nicht so heftig. Erich erzählte, was alles für
ulkige Typen auf seinem Zimmer lägen und kam dann auch auf unser Essen zu
sprechen. Das war doch wenigstens ein Essen. - Ich fand es ja grundsätzlich
auch nicht schlecht, aber man könnte doch wenigstens an Sonntagen etwas
Fleisch dazugeben. Erich machte runde Augen. Wie solle er das denn jetzt
verstehen. Es gäbe doch alle Tage reichlich Fleisch, sonst wäre er
doch gar nicht darauf zu sprechen gekommen. - War so etwas möglich? Vorbei war's mit meiner Hochzeit. Da war doch irgend eine Schweinerei im
Gange. Die nächste Visite war schon bald. Auch der Intendant würde
dabei sein. Als Erich sich von mir verabschiedete, war er nicht so sicher,
ob mir sein Besuch sonderlich bekömmlich war. Wie hätte er wissen können, dass seine Aufwartung mir
möglicherweise das Leben gerettet hat. Mein Zorn hatte alle meine Lebensgeister mobilisiert. Jetzt stand ich
auf Rabatz. Als sich wenig später Arzt und Intendant nach meinem
Befinden erkundigten, motzte ich, dass es mir erst wieder besser ginge,
wenn ich dahinterkäme, wer uns jeden Tag die Fleischzuteilung
wegfressen würde. Die beiden Sanitäter im Hintergrund blühten
sichtbar auf. Dann tanzten auch schon die Puppen. Unser Intendant zog eine gewaltige
Schau ab, die er sichtlich genoss. Diese Diebe, Lumpen und Faschisten
würden ihn schon noch kennenlernen. Die Zwei wurden sofort abgelöst.
Ob und wie sie hernach bestraft wurden, weiß ich nicht. Es hat mich auch
nicht interessiert. Ich hatte meine Wut, hatte meinen Krach, ich blieb den Rest
des Tages munter auf den Beinen. Ich war's nun, der hier endlich einmal
aufgeräumt hatte. Dabei wussten meine Zimmergenossen in ihrem
Dämmerzustand gar nicht, worum es ging. Noch am Abend stellten sich neue
Sanitäter vor, die uns baldige Genesung wünschten. An unserer Fleischzuteilung
hat sich niemand mehr vergriffen. Auch ich fühlte mich wie ausgewechselt. Wie konnte ich mich nur so
durchhängen lassen? - Es war noch keine Woche vergangen, da war
auch unser Intendant der Ansicht, dass ich eigentlich doch wieder kerngesund
sei. Was sollte ich dazu sagen?- Mir wurden Hemd und Unterhose
ausgehändigt. In meiner Hirtentasche fehlte nichts. Darüber
hinaus erhielt ich ein Kochgeschirr, italienischer Herkunft, und ein
zusammenklappbares Essbesteck. Der Vorbesitzer brauchte beides
nicht mehr. Nun saßen wir, etwa an die zehn Mann, auf dem Hof und warteten auf
die Posten, die uns ins Lager zurückbringen sollten. Es dauerte eine ganze
Weile, bis sie endlich aufkreuzten. Sogleich ertönte das vertraute "Hajde,
postroj!" Los antreten! Wir
standen schon in Zweierreihe, als einer noch wie abwesend an der
Ziehbrunnenverkleidung sitzen blieb. Als dann ein Posten ihn anstieß,
kippte er zur Seite weg. Er war tot. *** |