Monika
Kunze Harlekin im Regen
Die Mutter saß auf
dem Fellhocker vor dem Spiegel und machte sich zum Ausgehen fertig. Beatrix,
die Tochter, lehnte, scheinbar lässig, am Türrahmen. Zum ersten Mal trug sie
ihr neues Kleid, das seidig glänzende, das mit der großen Schleife im Rücken.
Sie war bereit. Ausgehfertig. Die
Mutter stand auf, nahm sich neue Strümpfe aus dem Schrank. Dabei ging sie mit hocherhobenem
Kopf, eben wie eine Königin. Regina bedeute im Lateinischen: die Königin, das
hatte ihr die Mutter selbst gesagt.
Während sie ebenso hoheitsvoll ihren Platz vor dem
Spiegel wieder einnahm, trällerte sie ein Liedchen vor sich hin, das Beatrix
noch nicht kannte. ãSabiiiinchen warrr ein Frrrauenzimmerrr...Òschnarrte
sie wie eine heisere Krähe. Trotz (oder vielleicht sogar wegen?) des
schnarrenden Tons klang das Lied auch irgendwie lustig. Fast wollte sich schon
so etwas wie Freude in Beatrix« Herz schleichen. Vielleicht feiern wir diesen
Geburtstag ja doch noch gemeinsam... obwohl: Kurz zuvor hatte sie noch etwas
anderes gesagt. Aber das tat sie ja manchmal, es musste also nicht viel zu
bedeuten haben. Sie jedenfalls war bereit, sozusagen ausgehfertig. Die Tochter sieht sich schon mit der Mutter in ein
Taxi klettern. Als Ziel würde Regina ein feines Restaurant nennen, ein
königliches, versteht sich. Diesmal würde sie jedenfalls nicht wieder nur
Pommes mit Ketchup bestellen. Das hatte sie sich fest vorgenommen, auch wenn es
ihr vielleicht sogar am besten geschmeckt hätte. Unterdessen rollte die Mutter erst den einen, dann
den anderen Strumpf mit beiden Händen vorsichtig über ihre Beine, die sie dabei
nacheinander in die Höhe reckte. Beatrix bewunderte ihre Mama. Sie ist wirklich schön
wie eine Königin, dachte sie. Aber als sie bemerkt, wie die Königin immer
wieder nur sich selbst im Spiegel anlächelte, senkte sie den Kopf. Sie konnte
deshalb auch nicht sehen, dass Regina jetzt ihre Tochter im Spiegel entdeckte
und sie prüfend betrachtete.
Beatrix atmete tief durch, um gar nicht erst wieder
Bauchweh aufkommen zu lassen, wollte sich gerade abwenden, zuckte deshalb
heftig zusammen, als die Mutter sie plötzlich ansprach: ãHe, Beatrix, was
schaust du so? Du bekommst bestimmt auch eines Tages so schöne lange Beine wie
ich! Die Männer werden verrückt nach dir sein!Ò Regina zwinkerte ihrer Tochter verschwörerisch zu
und lächelte auf eine Art, die sie vielleicht schelmisch nennen würde. Die
Tochter zwinkerte nicht, und sie lächelte auch nicht, weder schelmisch noch
sonst irgendwie. Solche Reden mochte sie nicht, sie bereiteten ihr Unbehagen.
Und überhaupt: Männer! Beatrix kennt ja bis jetzt nur Jungs, und die sind
komisch. Jedenfalls die aus ihrer Klasse. Beatrix versuchte, ihrer Mutter in die Augen zu
schauen. Das Unbehagen verflog so schnell wie es gekommen war. Richtige
Märchenaugen hat sie, dachte die Tochter, so dunkel und doch klar, das Weiße
ganz weiß, wie bei meiner Puppe Anna, die seit langem unbeachtet in einer Kiste
lag, von dichten, dunklen Wimpern umsäumt. ãDie sind sogar bei deiner Mutter echtÒ, pflegte
ihre Freundin Conny oft zu lästern, ãaber alles andere?Ò Klar, auch Beatrix hatte die kleinen Näpfchen mit
Farbe, Pinselchen, Stiften und Cremedöschen längst entdeckt und weiß seitdem,
dass ihre Mutter ungeschminkt so gut wie nie aus dem Haus geht. ãJa, MamaÒ, sagte Beatrix jetzt schnell, als der
schelmisch-verschwörerische Blick vorwurfsvoll zu werden droht. ãJa, vielleichtÒ, wiederholte sie und öffnete den Mund ein wenig schief, so
dass links ihre Zahnspange ein wenig hervorblitzte. Die Mutter schien mit der kargen Antwort zufrieden
zu sein ebenso wie mit dem schiefen Lächeln, denn schnell wandte sie ihre ganze
Aufmerksamkeit wieder ihrem eigenen Spiegelbild zu. Beatrix drehte sich auf dem Absatz um und wanderte
ziellos durch die Wohnung. Anscheinend bemerkte sie heute mehr und andere Dinge
als sonst. Auf dem Teppichboden lag ein
Häufchen Unterwäsche, an der Tür stieß sie sich den Fuß an einer leeren
Flasche, die sich schaukelnd zu drehen begann, als sie ihr einen leichten Tritt
versetzte. Neben dem leeren Aschenbecher lagen vertrocknete Apfelsinenschalen. Im Bad duftete es nach Parfüm. ãSchanel Nomero fünfÒ, hatte Conny verächtlich durch
die Zähne genuschelt und gegrinst, ãwenn sich deine Mutter noch so teures Zeug
leisten kann, dann könnt ihr wohl so arm nicht sein!Ò Der Freundin war es meistens
egal, ob ihre Worte jemandem weh taten oder nicht. In den Ruf der Armut waren Beatrix und ihre Mutter
gekommen, weil es sich in der Schule schnell herumgesprochen hatte, dass Regina
Riedel ãallein erziehendÒ und ãauch noch arbeitslosÒ sei. Wenigstens fragte
nach dem Vater niemand, sie konnte sich sowieso nicht erinnern, ihn jemals
gesehen zu haben. Ihrer Freundin hatte sie irgendwann irgendein Foto von
irgendeinem Mann hingehalten, aber die hatte nur ungläubig und spöttisch
zugleich gekichert. So behielt Beatrix auch ihr größtes Geheimnis für
sich. Was ging es Conny an, dass ihre Mutter in Wirklichkeit doch manchmal arbeitete.
Meist vormittags. Wegen der Schule, hatte sie gesagt. Doch auch abends war sie
schon unterwegs gewesen, hin und wieder klingelte das Telefon sogar nachts. In
dem Falle ging sie aber nie aus dem Haus, ohne sich von Beatrix zu
verabschieden. ãIch muss noch mal los – schlafe schön!Ò Die geflüsterten Worte waren manchmal bis in ihre
Träume vorgedrungen, aber das war schon lange nicht mehr vorgekommen. Mit einem Mal kam sich Beatrix ganz verloren vor.
Mit klopfendem Herzen zog sie sich auf ihre ãInselÒ zurück. Dort, im
Kinderzimmer, setzte sie sich aufs Bett, hüllte sich in ihre riesige blaue
Decke mit den unzähligen Sternen ein, zog die Beine an die Brust, umschlang
ihre Knie und ließ ihr Kinn darauf sinken. Doch das herbei gewünschte
kuschelige Gefühl, Erwachsene nannten es wohl hochtrabend Geborgenheit, wollte
sich einfach nicht einstellen. Was war das? Beatrix zuckte bei dem Geräusch
zusammen und hob den Kopf. War eine Tür ins Schloss gefallen? Sie lauschte
angestrengt, aber alles blieb still. Da ließ ein unbestimmtes Gefühl sie
hochfahren. Heftig warf sie den blauen Sternenhimmel von sich, sprang auf und
stolperte atemlos ins Schlafzimmer. Der Fellhocker vor dem Spiegel war leer.
Nirgends mehr eine Spur von Regina, der Königin. Als Beatrix mit gesenktem Kopf an der Flurgarderobe vorbei
schlich, entdeckte sie den Zettel: ãWollte dich auf deiner Insel nicht stören,
bin bald zurück, mein Kleines, mach« es dir gemütlich! Mama.Ò Die Tochter konnte sich nicht erinnern, dass ihre
Mutter überhaupt nach ihr gesehen hatte. Wütend zerknüllte sie das Blatt Papier
in ihrer heißen Hand. ãVon wegen Abendessen in einem guten Restaurant!
Träum aus, Beatrix!" Das
Mädchen hatte laut gedacht und erschrak über den rauen, höhnischen Klang ihrer
sonst viel zu leisen Stimme. Wie die Wernern, dachte sie irritiert, ihre
Lehrerin. Wenn die nämlich ihre Schülerin beim Träumen erwischte und von oben
herab schalt: ãSchlaf ruhig weiter, du wirst schon sehen, wie dein Zeugnis
glänzen wird!Ò Beatrix stieß mit
dem Fuß wieder heftig gegen die Flasche im Wohnzimmer. ãGemütlich!Ò Das
Wort fuhr ihr böse durch die Zahnspange. Mit dem Fußtritt und dem langsamen
Austrudeln der Flasche schien ihre Wut jedoch immer mehr in sich zusammen zu
fallen, denn sie verspürte jetzt nur noch eines: Hunger. Im Kühlschrank fand sie eine Fischbüchse und zwei
Flaschen Sekt, im Brotfach noch ein paar Scheiben vom Vortag, mit leicht nach
oben gebogenem Rand. Ungeduldig kramte sie nach dem Büchsenöffner. ãWo ist nur dieses vermaledeite Ding?Ò Das komische Wort hatte die Großmutter oft
gebraucht. Sie war im vorigen Jahr gestorben, aber ihre altmodischen Wörter
lebten in Beatrix fort. Ganz hinten im Schubfach stießen ihre Finger
schließlich auf etwas Kühles, Hartes, Glattes. Aber der Büchsenöffner war es nicht.
Beatrix erschrak, fast hätte sie ihr Fundstück vergessen. Nun fiel ihr wieder
ein, dass sie das perlmuttbesetzte Ding schon vor langer Zeit dort versteckt
hatte. ãIst ja man bloß ein FeuerzeugÒ, hatte Conny mit spöttisch herab gezogenen
Mundwinkeln den Fund verhöhnt. Was weißt du schon, hatte Beatrix damals
gedacht, aber laut und schnippisch entgegnet: ãNa klar, was dachtest du denn?Ò Sie wusste selbst nicht, wozu sie die Feuerzeugpistole überhaupt aufbewahrt
hatte. ãAch, da ist ja endlich das vermaledeite Ding!Ò Der Büchsenöffner war gefunden, die Pistole
vergessen. Wie hatte die Mutter geschrieben? Mach« es dir
gemütlich! Das wollte sie nun tun, aber nicht mit schmutzigen
Händen. ãNach dem Stuhlgang –
vor dem Essen...Ò Na, lassen wir das, der Spruch hatte sie schon im
Kindergarten genervt. Nachdem der duftende Schaum von den Händen gespült
war, betrachtete sich Beatrix im Spiegel. Eingehend und viel länger als sonst. Unbeachtet schwebten jetzt ein paar bunte Bänder zu
Boden, die eben noch ihre zahllosen Zöpfe geziert hatten. Langsam begann sie
das mühsame Geflecht zu lösen, ihr Haar zu bürsten, Strähne für Strähne, bis
glänzende Lichter auf ihrer dunklen Mähne tanzen. Auf der Konsole lagen, wie
immer, ein paar von Mutters Schminkutensilien. Mit dem Augenbrauenstift zog Beatrix ihre
Brauen nach, doch die schwarzen Striche gerieten zu hohen, eckigen Winkeln. Dessen
ungeachtet tupfte sie sich noch etwas helle Farbe auf die Augenlider, ein wenig
mehr rote auf die Wangen, umrandete die Augen mit schwarzen Strahlen. Jetzt nur
noch ein knallroter, herzförmiger Mund - und eine senkrechte Reihe blauer
Tupfen unter die Augen. So? Fertig. Der traurige Harlekin, der sie nun aus dem Spiegel
anschaut, erinnerte sie an ihre abgegriffene Handpuppe, den einst so fröhlichen
Kasper, dessen Farben bei einem Ausflug im Regen das Laufen gelernt hatten. Die
Mutter schenkte dem unansehnlich gewordenen Spielzeug damals nur einen
flüchtigen Blick. ãSo kann er wenigstens seine Tränen verstecken...Ò Das
sollte wohl ein Trost sein, aber Beatrix fühlte sich damals nicht getröstet.
Sie hatte auch das anschließende merkwürdige Lachen nicht verstanden. Wenn
Beatrix daran dachte, klang es ihr heute noch in den Ohren. Da kam ihr eine Idee.
Schnell lief sie ins Kinderzimmer, nahm den Kasper, kehrte eilig in die Küche
zurück und steckte das Feuerzeug in den Umhang der Kasperpuppe. Das könnte
vielleicht ein gutes und dazu noch originell verpacktes Geschenk abgeben. Wenn
schon nicht für die Mutter, dachte sie, denn die rauchte schon seit einem
ganzen Jahr nicht mehr, dann vielleicht für den Vater. Für wen sonst ließ
Regina wohl den leeren Aschenbecher immer noch auf dem Tisch stehen? Eine
tollkühne Vermutung! Der Hunger ist nicht
nur eine Vermutung, denn er brachte sich mit unüberhörbaren Geräuschen in
Erinnerung. Fischbüchse, Brot und Sektflasche sind zum Glück auch nicht nur
Vermutungen. Wie stand es doch gleich auf dem Zettel? ãMach« es
dir gemütlich!Ò Mit jedem Bissen und jedem Schluck aus der Flasche, Beatrix
verzichtet der Einfachheit halber auf ein Glas, scheint jene Aufforderung an
bitterem Beigeschmack zu verlieren. Doch irgendwie wird es ihr immer seltsamer
zumute. Die Wände dehnen sich, der ganze Raum dreht sich und verändert sein
Aussehen. Die bunten Pillen! Ganz flüchtig nur streift sie der
Gedanke. ãNimm nur, ausnahmsweise, zur Feier des Tages. Sie
machen happy!Ò Mutter am Nachmittag. Natürlich weiß Beatrix, dass
happy das englische Wort für glücklich ist. Trotzdem hat sie die runden Dinger
nur widerstrebend geschluckt. Durch die Fenster dringt bläuliches Licht, wieder
dehnen sich die Wände, das Mädchen scheint zu schweben. Es schließt erleichtert
die Augen, tastet, noch kurz vor dem Einschlafen, nach dem Harlekin – das
Geschenk ist noch da. Für wen auch immer. Plötzlich erwacht Beatrix durch seltsame Geräusche. Sie
spürt, wie ihr Puls rast, sie greift nach ihrem Geschenk, steht vorsichtig auf,
ihre Füße verheddern sich in den achtlos hingeworfenen Strümpfen, doch sie
findet erstaunlich schnell ihr Gleichgewicht wieder. Das Geräusch ihrer
Schritte wird vom dicken Teppich verschluckt. An der
Schlafzimmertür krümmt sich ihr Zeigefinger um den Abzug, das Pistolenfeuerzeug
im Harlekin ist auf zwei nackte Gestalten gerichtet. ãHe, Beatrix, was soll das? Warum läufst du mitten
in der Nacht mit dem Kasper herum?Ò Die Fragen der Mutter klingen eher erstaunt als
ärgerlich. Ob Regina, die Königin, sonst noch irgendetwas
fragte oder sagte, kann Beatrix
schon nicht mehr hören, denn sie war gleich darauf mit samt ihrem Harlekin die
Treppe hinunter gerannt, hatte die Tür aufgerissen und war ins Freie
gestolpert. Auf der Straße empfing sie ein feuchtkalter Wind. In diesem Moment
begann es zu regnen. Beatrix drückt ihren Harlekin fest an die Brust, legt
den Kopf in den Nacken und reckt ihr Gesicht dankbar den kühlenden Tropfen entgegen. |